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unserer Vorstellung von Gesetzgebung vereinbar zu sein. Ähnlich umfassende
Kritik hätte hingegen wohl ein Verweis auf festzulegende zwingende Diskursregeln ausgelöst. Denn auch bei diesen hätte es sich um von außen auferlegte Verfahrensregeln gehandelt.
Bei den Stellungnahmen zum Maßstäbe-Urteil ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits betonen Stimmen in der Literatur den politischen Charakter
der Entscheidungssituation. Die Abgeordneten werden in besonderem Maß von
Länderinteressen geleitet. Andererseits lehnen sie jedoch einen Rückgriff auf
Rawls ab, weil dieser nicht auf die freiwillige Distanz des Parlaments vertraut,
sondern durch eine Verfahrensbedingung absichern will. Dies zeigt: Obwohl sich
die Gesetzgebungswissenschaften zunehmend etablieren, ändert sich das Bild der
Legislative nur langsam. Wir vertrauen scheinbar immer noch auf ein besonderes
Selbstverständnis, eine Selbstlosigkeit des Parlaments. Andererseits sehen wir
auch, dass dieser »Mythos« des Gesetzgebers nicht besteht. So begegnen wir dem
Entscheidungsverhalten der Abgeordneten beispielsweise im Hinblick auf die
Diätenregelungen mit großem Misstrauen.
Dennoch scheint es schwer zu fallen, Gesetzgebung als einen kontrollfähigen
und kontrollbedürftigen Prozess anzusehen. Bei der weiteren Erörterung muss
deshalb unterschieden werden: Lässt sich die Aussage des Schleiers tatsächlich
nicht mit dem Grundgesetz selbst vereinbaren, oder entspricht seine Wirkung
lediglich nicht der auf konkurrierenden politischen Theorien basierenden Vorstellung von Gesetzgebung?
2. Inhaltliche Seite des Schleiers – Unparteilichkeit
Die Ablehnung der Literatur basiert auch auf der Wirkungsweise des Schleiers.
So führt Petra Helbig im Rahmen ihrer Kritik am Maßstäbe-Urteil aus, dass das
Grundgesetz mit der Interessenbefangenheit von Entscheidern anders als John
Rawls umgehe. Statt Partikularinteressen zu eliminieren, würden die bestehenden
Interessengegensätze herausgearbeitet. In einem Verfahren der Einigung werde
dann ausgehandelt, welche Rechte und Zugeständnisse der jeweils anderen Seite
gewährt werden sollen.1516
Noch vertiefter setzt sich Haverkate in seiner Monographie mit dem Schleier
des Nichtwissens auseinander. Es gibt seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten,
zu einer richtigen Verteilung zu gelangen: entweder die verschiedenen Interessen
künstlich zu eliminieren oder die Härte der Interessengegensätze zum Ausgangspunkt zu machen. Haverkate spricht sich gegen den ersten Ansatz aus. Er lehnt
es ab, eine neutrale Instanz konstruieren zu wollen.1517 Nicht der Rawlssche
Ansatz, sondern allein ein Modell der Einigung ermögliche Gerechtigkeit. Man
müsse sich selbst als wollendes, Interessen verfolgendes Subjekt begreifen, um
1516 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 440.
1517 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 274.
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die Schutzbedürftigkeit anderer Interessenträger zu erkennen.1518 Die Träger der
verschiedenen Interessen kommen dann überein, was sie sich gegenseitig gewähren und zugestehen wollen.1519
Folgt man Haverkates Unterscheidung, so ergeben sich zwei mögliche Bilder
des Bundestages. Die Aufgabe der Abgeordneten könnte einerseits darin bestehen, bestimmte Partikularinteressen zu vertreten. Im Parlament wären dann verschiedene Positionen präsent, die durch das Mehrheitsprinzip zu einem Ausgleich
geführt würden. Andererseits könnte es auch Aufgabe der Abgeordneten sein,
eine unparteiische Stellung einzunehmen und als neutrale Autorität eine Entscheidung zu treffen.1520
Zu überlegen ist, welche Position der Systematik des Grundgesetzes entspricht. Drei verschiedene Ergebnisse erscheinen hier denkbar. 1. Die Ansicht
von Haverkate bildet die Wertungen des Grundgesetzes ab. Dann ist der Schleier
des Nichtwissens eine Figur, die mit unserer Verfassung in keiner Weise vereinbar
ist. 2. Das Grundgesetz fordert einen unparteiischen Gesetzgeber. Dann ist der
Schleier des Nichtwissens unproblematisch und umfassend mit der Verfassung
vereinbar. 3. Dem Grundgesetz entspricht eine vermittelnde Position. Dann könnte der Schleier des Nichtwissens in einer abgeschwächten Form in das Grundgesetz integriert werden.
3. Politischer Charakter der Gesetzgebung
Bereits an anderer Stelle wurde aufgezeigt, dass im Bereich der Gesetzgebung ein
Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik besteht.1521 Selbst die Befürworter einer Gesetzgebungslehre betonen, dass das Zustandekommen von Gesetzen
1518 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 277. Hier kann eine Verbindung zur moralphilosophischen Diskussion gezogen werden. Insbesondere im 20. Jahrhundert ist es heftig
umstritten, Unparteilichkeit als den Standpunkt der Moral zu reklamieren. Barry (Justice
as Impartiality, 1995, 193) spricht hierbei von einer »battle between impartialists und non–
impartialists«. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption und auch der Utilitarismus beruhen auf
dem – wenn auch verschieden ausgeformten – Gedanken der Unparteilichkeit. Andere
Stimmen reflektieren hingegen dieses Prinzip kritisch. So entwickelt beispielsweise
MacIntyre (After virtue. A Study in moral theory, London 1981, deutsch: Der Verlust der
Tugend: Zur moralischen Kriste der Gegenwart, übersetzt von Wolfgang Rhiel, Frankfurt
am Main 2002). eine Form der Tugendethik, in deren Zentrum die Bedingungen eines individuell guten Handelns stehen, Vgl. im Überblick v. der Lühe, Stichwort »Unparteilichkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11, 2001, Sp. 257.
1519 Vgl. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 274. Ähnlich auch v. Bogdandy, Gubernative
Rechtsetzung, 2000, 83, 84, der ausführt, dass nach dem Ende des Naturrechts in den
Rechtsetzungsverfahren nicht mehr Wahrheit, sondern Interessen prozessiert werden. Ein
allgemeines Interesse bilde sich dann aus einer Synthetisierung partikularer Interessen.
1520 Vgl. in diese Richtung Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982),
7, 29.
1521 4. Teil, II, 6., a).
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.