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9. Zwischenergebnis
Der Schleier des Nichtwissens führt zu einem vernunftgeleiteten, zu einem unparteiischen Gesetzgeber. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde die Frage aufgeworfen, ob ein solches Ideal den Aussagen des Grundgesetzes widerspricht. Bei
dem Versuch, diese Frage zu beantworten, muss berücksichtigt werden, dass
Rawls mit dem Schleier des Nichtwissens nicht das Vorhandensein verschiedener
Interessen ausblendet. Seine Gedankenfigur verändert die Perspektive der Abgeordneten. Eine solche Idealvorstellung stellt jedoch keinen »Fremdkörper« innerhalb des Grundgesetzes dar. Weder die Einordnung der Gesetzgebung als eines
politisch geprägten Verfahrens noch die Parteiendemokratie noch das Mehrheitsprinzip stehen in »unversöhnlichem« Gegensatz zu einer solchen Forderung.
Dennoch ist zu betonen, dass der Gedanke der Unparteilichkeit keine Verfassungspflicht darstellt. Ein imaginärer Schleier kann nicht unmittelbar aus Art. 3
I GG abgeleitet und gerichtlich eingefordert werden. Eine verfassungsrechtliche
Pflicht zur Distanz ergibt sich nicht aus dem Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung. Es enthält mit dem Gleichheitsgrundsatz einen Hinweis darauf, dass eine
solche Forderung wünschenswert ist. Diese müsste jedoch konkretisiert werden.
Nur durch eine Verfassungsänderung und/oder durch einfach-gesetzliche Regeln
kann die Forderung nach einem unparteiischen Parlament Rechtscharakter erhalten.
IV. Mögliche Verrechtlichung des Ideals unter dem Grundgesetz
Es stellt sich die Frage, auf welche Weise die Vorstellung eines Schleiers des
Nichtwissens institutionalisiert werden könnte. Auf welchem Weg kann Rawls’
Ideal eines vernunftgeleiteten und unparteiischen Gesetzgebers unter dem Grundgesetz verrechtlicht werden? Wie im sechsten Teil der Untersuchung herausgearbeitet wurde, kann der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts im Maßstäbe-Urteil nicht überzeugen.
Rawls lässt bei der Frage, wie der Schleier des Nichtwissens in die Rechtswirklichkeit übertragen werden könnte, positiv betrachtet einen großen Freiraum.
Denn er betont selbst, dass seine Ausführungen zum Vier-Stufen-Gang als Teil
einer idealen Theorie eingeordnet werden müssen. Er will mit seiner Darstellung
ausdrücklich nicht die Arbeitsweise wirklicher Institutionen analysieren.1592
Rawls entwickelt eine Theorie der vollständigen Konformität, die nur Anstoß für
Reformen sein kann und will.
Um es noch einmal zu betonen: Der Schleier ist eine fiktive Verfahrensbedingung. Im Hinblick auf diese Einordnung bleibt Rawls der Theorie des Gesellschaftsvertrages »treu«. Genau wie der ursprüngliche Kontrakt aller Menschen
zur Begründung staatlicher Herrschaft, so sind auch der Beschluss über die
1592 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.