404
bekleide ein »öffentliches Amt«, als irreführend ablehnen. Der Begriff des Amtes
ist zu eng mit dem Prototyp des (Verwaltungs)Beamten verknüpft. Sein Gebrauch
im Zusammenhang mit den Abgeordneten verwischt deshalb die Grenze zwischen Legislative einerseits und Exekutive und Judikative andererseits. Der Versuch, einen weiten Amtsbegriff einzuführen beziehungsweise von einem Amt des
Abgeordneten zu sprechen, aber gleichzeitig dessen besonderen Status zu betonen, erscheint umständlich. Auch geht hiermit eine Tendenz einher, den Amtsbegriff quasi »gewaltsam« von seiner beamtenrechtlichen Herkunft zu lösen und
damit gleichzeitig auszuhöhlen. Die Vorstellung des Amtes wird derart weit definiert, dass der Begriff seine »Substanz« verliert. Aus diesem Grund sollte die
Bezeichnung »öffentliches Amt« trotz der verfassungsrechtlichen Vorgabe möglichst vermieden werden. Die Mitglieder des Parlaments haben ein Mandat. Dieser Begriff macht ihre besondere Stellung als Teil der Legislative deutlich.
Wird der Abgeordnete nicht als »Amtsträger« bezeichnet, so kann auch der
Verweis auf ein »Amtsethos« nicht überzeugen. Über Dienst- oder Amtspflichten
ist der einzelne Parlamentarier nicht an Gerechtigkeitspostulate gebunden.1644
Dieses Zwischenergebnis darf nicht dahin gehend verstanden werden, dass der
Abgeordnete keinerlei Verpflichtungen unterliegt. Kritisiert wird nicht die Idee,
dass der einzelne Parlamentarier seine Aufgabe in bestimmter Art und Weise aus-
üben soll. Allein der Anknüpfungspunkt »Amt und Amtspflicht« kann nicht überzeugen.
4. Repräsentatives Mandat: »Vertreter des ganzen Volkes«
Das Grundgesetz verwendet den Begriff der Repräsentation selbst nicht, sondern
spricht von den Abgeordneten als »Vertretern des ganzen Volkes«. Dennoch wird
in der Literatur übereinstimmend angenommen, dass diese Umschreibung den
Repräsentationsgedanken ausdrückt.1645 Er ist auch unter dem Grundgesetz ein
Leitgedanke der parlamentarischen Einrichtungen und ein Argument der Rechtfertigung für die Entscheidungs- und Handlungsvollmacht, die der Volksvertretung qua Verfassung zugewiesen wird.1646 Einigkeit besteht somit darin, dass die
Repräsentationsfunktion in Art. 38 I 2 GG verfassungstextlich zum Ausdruck gebracht wird und weiterhin eine zentrale Stellung besitzt.1647
Schwieriger ist es jedoch, die Idee der Repräsentation inhaltlich zu erfassen.
Repräsentation als Begriff besitzt eine wissenschaftsübergreifende und auch
1644 Vgl. in diese Richtung auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn.
101: »Problematisch sei jedoch, ob dem Mandat überhaupt die Qualität des Amtes
zukomme«. So stellt auch das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Abgeordnete von
Rechts wegen keine Dienste schulde, BVerfGE 40, 296 (316).
1645 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 353.
1646 Vgl. Badura, Staatsrecht, 3. Auflage, 2003, Abschnitt E Staatsorgane, Rn. 11.
1647 Vgl. Trute, in: Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 2, 5. Auflage, 2001, Art. 38 Rn. 73.
405
inhaltliche Deutungsvielfalt.1648 Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich
nur mit dem spezifisch rechtswissenschaftlichen Begriff der Repräsentation.1649
Und selbst dann kann hier keine umfassende Auseinandersetzung mit dieser Figur
erfolgen.1650
Daher wird nicht vertieft auf den Gegensatz von Repräsentation und Identität
eingegangen.1651 Das Grundgesetz beinhaltet bislang nur im Ansatz plebiszitäre
Elemente (Art. 29 GG, Art. 20 II GG »Wahlen und Abstimmungen«). Die Väter
dieser Verfassung haben sich für eine repräsentative Demokratie entschieden und
damit die fiktive Idee des Gesellschaftsvertrages nicht direkt in die rechtliche
Wirklichkeit transformiert. Das Grundgesetz bildet somit nicht Rousseaus Vorstellung einer identitären Demokratie ab, in der eine Beteilungsallgemeinheit verwirklicht ist. Allein dieser Befund schließt jedoch nicht aus, dass der Schleier des
Nichtwissens mit den Aussagen in Art. 38 I 2 GG vereinbar sein könnte. Denn,
wie an anderer Stelle erörtert, nimmt Rawls in seinen späteren Werken den
Gedanken der Repräsentation auf.1652
Auch das Verhältnis von Repräsentation und Parteienstaat1653 wird hier nicht
vertieft erörtert. Dass die Parteien als Transformationsriemen zwischen Staat und
Gesellschaft eine mit dem Schleier vergleichbare Wirkung haben, wurde bereits
an anderer Stelle angesprochen.
Doch gerade weil der Begriff der Repräsentation eine solche »Unschärfe«
besitzt, stellt er eine Schnittstelle zwischen Recht und normativer Ethik dar. Es
handelt sich um einen Grenzbegriff, der auch als eine ethische Kategorie aufgefasst werden kann.1654 Der Schleier des Nichtwissens könnte eine spezifische Vorstellung von Repräsentation ausdrücken. Rawls entwickelt mit dieser Figur möglicherweise eine ethische Repräsentationstheorie. Welche Bezugspunkte bestehen also zwischen dem Bild der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes
und Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung?
a) Repräsentation als Gedankenexperiment
Die Idee der Repräsentation könnte schon deshalb mit Rawls’ Schleier des Nichtwissens vergleichbar sein, weil es sich bei ihr im Kern um ein Gedankenexperiment handelt. Die Vorstellung, dass die Abgeordneten als Vertreter des ganzen
1648 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 353.
1649 Allein auf diesen abstellend auch Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002,
354.
1650 Vgl. hierzu die grundlegenden Monographien, Hofmann, Repräsentation, 2. Auflage,
1990, Mantl, Repräsentation und Identität, 1975, Wefelsmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991.
1651 Vgl. Klein in: Maunz/Dürig, GG – Kommentar, Art. 38, 36. Lieferung 1999, Rn. 2¸ Stern,
Staatsrecht, Band II, 1980, 37 ff.
1652 Vgl. 3. Teil, II, 4., c).
1653 Vgl. hierzu vertiefend Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 83 ff.
1654 Vgl. Hofmann, Repräsentation, 2. Auflage, 1990, 18.
406
Volkes handeln, ist eine Fiktion.1655 Es wird eine Verbindung zwischen dem einzelnen Abgeordneten und dem ganzen Volk fingiert, die über den bloßen Wahlakt
hinausgeht. Hasso Hofmann präzisiert diesen Gedanken: Repräsentation des Volkes heiße, so zu entscheiden, wie es das Volk vernünftigerweise tun müsste, wenn
man es fragte.1656 Er führt hierzu ein Kant-Zitat an:
Es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische)
Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so
gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes entspringen können,
und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem
solchen Willen mit zusammengestimmt habe.1657
An dieser Stelle ist es noch nicht notwendig, sich mit den verschiedenen Repräsentationstheorien auseinander zu setzen. Grundsätzlich wird Repräsentation als
»indirekte Herrschaftsausübung durch das Volk« verstanden.1658 Diese abstrakte
Definition zeigt, dass ein Repräsentativsystem anders als ein plebiszitäres System
auf Zurechnung abstellt: Die Abgeordneten verkörpern das Staatsvolk. Das Element der indirekten Herrschaftsausübung beziehungsweise der Zurechnungsgedanke besitzen jedoch einen fiktiven Charakter. Eine nicht präsente Personengruppe (das Volk) wird durch ein gewähltes Parlament abgebildet.1659 Die verschiedenen Repräsentationstheorien unterscheiden sich dann »nur« noch darin,
welche Ansprüche sie an den Vorgang der Zurechnung, an das Auftreten der
Abgeordneten stellen.
b) Pluralismus und politische Einheit als Gegensatzpaar
Alle Repräsentationstheorien beschäftigen sich zudem mit Fragen der politischen
Einheit und der Einheitsbildung.1660 Wie kann ein Parlament die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Volkes abbilden? Wie kann aus den gewählten Abgeordneten ein Entscheidungsorgan werden, das fiktiv alle Bedürfnisse berücksichtigt und zu einem Ausgleich bringt? Wie können die unterschiedlichen Inter-
1655 Vgl. zur »Fiktion der Repräsentation« Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2.
Neudruck der 2. Auflage von 1929, 1963, 30 ff.; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Unver-
änderter Nachdruck der Ausgabe von 1925, 310 ff.
1656 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, Göttingen 1987, 9, 24.
1657 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht
für die Praxis, herausgegeben von Heiner F. Klemme, 1992, 29.
1658 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 29; Achterberg, Das Parlament im modernen Staat, DVBl. 1974, 692,
700.
1659 Vgl. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, 104.
1660 Vgl. Hofmann/Dreier in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989,
§ 5, 165, 167.
407
essen integriert werden?1661 Der gesellschaftliche Werte- und Interessenpluralismus ist die Grundlage für den Repräsentationsgedanken.1662 Gesucht wird nach
einer Konstruktion, die innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft einen Kern
politischer Einheit entstehen lässt. Die Abgeordneten des Bundestages werden
durch Wahl legitimiert, über ihre Wahlkreise und ihre Parteizugehörigkeit sind sie
bestimmten Interessen verpflichtet. Mit dem freien Mandat als Ausübungsregel
des Repräsentationsgedankens1663 werden sie jedoch aus diesen Verbindungen
»gelöst«.
Auch Rawls’ Ziel besteht darin, eine politische Einheit zu konstruieren. In seinen späteren Werken betont er, dass die Menschen unterschiedliche philosophische, religiöse und moralische Ansichten besitzen. Er beschreibt eine Gesellschaft, die von einem vernünftigen Pluralismus geprägt ist.1664 Mit Hilfe seiner
Gerechtigkeitskonzeption will er jedoch aufzeigen, dass dennoch ein politischer
Konsens möglich ist. Der Schleier des Nichtwissens ist hierfür ein entscheidendes
Instrument; durch ihn erhalten die Menschen einen Abstand zu ihren eigenen
Interessen. Sie repräsentieren nicht länger nur sich selbst, sondern quasi alle
Gesellschaftsmitglieder. Der Schleier ist in der Rawlsschen Konzeption ein Mittel, um eine Verständigung innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft zu konstruieren. Rawls beschäftigt sich genau wie die Repräsentationstheorien mit dem
Gegensatzpaar Pluralismus einerseits – politische Einheit andererseits.
c) Einordnung der Repräsentationstheorien
Wie bereits mehrfach angesprochen, wird der Begriff der Repräsentation unterschiedlich ausgefüllt. Es treffen verschiedene Repräsentationstheorien aufeinander. Die Diskussion ähnelt in großem Maß der Auseinandersetzung um den Gesetzesbegriff. Positiv betrachtet besitzt auch die Idee der Repräsentation eine
lange und wechselvolle Geschichte.1665 Negativ formuliert bewirkt dieser »historische Ballast«, dass der Begriff der Repräsentation nicht konsequent aus dem
Blickwinkel des Grundgesetzes betrachtet wird. Es handelt sich nicht um einen
zeitlosen Begriff mit feststehendem Bedeutungsinhalt. Vielmehr ergibt sich aus
dem jeweiligen verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Kontext sein bestimmter Sinn.1666 Wie die Vorstellung von der guten Gesetzgebung insgesamt ist
auch das Repräsentationsprinzip eng mit dem jeweiligen Gemeinwohlverständnis
1661 Vgl. Dreier, Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille, AöR 113
(1988), 450, 460.
1662 Vgl. Hofmann/Dreier in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989,
§ 5, 165, 174.
1663 Vgl. Grimm, Stichwort »Repräsentation«, in: Staatslexikon, Band 4, 1988, Sp. 880.
1664 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 67.
1665 Vgl. vertiefend Hofmann, Repräsentation, 2. Auflage, 1990.
1666 Vgl. Hofmann, Repräsentation, 2. Auflage, 1990, 35; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen 1977, 392; Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991, 68.
408
verknüpft. Die Ablehnung einer überholten Gemeinwohlkonzeption geht Hand in
Hand mit der Ablehnung der zugeordneten Repräsentationsvorstellung.1667
Im Rahmen der Diskussion lassen sich ebenfalls ein formelles und materielles
Verständnis von Repräsentation unterscheiden.1668 Die Anforderungen an den
Vorgang der indirekten Herrschaftsausübung sind unterschiedlich hoch. Ähnlich
wie bei der Auseinandersetzung um den Gesetzesbegriff hat jedoch auch die
Streitfrage um das Wesen der Repräsentation an Bedeutung verloren. In den
Kommentierungen zur Art. 38 I 2 GG wird, soweit überhaupt, nur noch knapp auf
die unterschiedlichen Ansätze verwiesen.1669 Die verschiedenen Repräsentationstheorien werden mit einem Morast verglichen. Sie werden als verwirrend und
wenig ergiebig empfunden.1670
Aus diesem Grund werden die verschiedenen Ansätze im Folgenden nur überblicksartig dargestellt. Ziel der Ausführungen ist es nicht, sich umfassend mit den
einzelnen Theorien auseinander zu setzen. Vielmehr wird allein untersucht,
inwieweit Bezugspunkte zwischen der Rawlsschen Konzeption und den einzelnen Repräsentationstheorien bestehen.
aa) Formelle Repräsentationstheorie
Nach einem formellen Begriffsverständnis wird die Repräsentation als bloßer Zurechnungsmodus für eine Gemeinschaft aufgefasst.1671 Es handelt sich bei ihr um
eine Gruppenvertretung, wobei das Verhalten des Repräsentanten der Gruppe zugerechnet wird.1672 Repräsentation wird beispielsweise von Kelsen als ein bloßer
Notbehelf und technisch unerlässliche Kompensation für die im Grunde erstrebenswerte Urform der direkten Demokratie verstanden. Wenn es wegen der Ausdehnung des Territoriums oder der Zahl der Bürger nicht möglich ist, diese an einem Ort zu versammeln, dann gestattet es der Gedanke der Repräsentation, dass
sie Abgeordnete bestellen, die an ihrer Stelle miteinander verhandeln und Beschlüsse fassen.1673
Zu überlegen ist, ob Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung mit
einer solchen Sichtweise vereinbar erscheint. Hiergegen spricht, dass die Vertreter eines formellen Repräsentationsverständnisses das Verhältnis zwischen Abge-
1667 Vgl. hierzu vertiefend v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 391 ff.
1668 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 31; Achterberg, Das Parlament im modernen Staat, DVBl. 1974, 692,
701; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, 104.
1669 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 31; Morlok, in: Dreier, GG – Kommentar, Band II, 1998, Art. 38 Rn.
123; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 2, 2001, Art. 38 Rn. 75 ff.
1670 Vgl. Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991, 67.
1671 Vgl. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, 104.
1672 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2,
2000, Art. 38 Rn. 31.
1673 Vgl. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Auflage, 1929, 29, 30.
409
ordnetem und Volk rein »technisch« begreifen. Es handelt sich um eine Sonderform der Zurechnung, die notwendig ist, weil die Abgeordneten weder für eine
einzelne Person (dann Stellvertretung) noch für eine organisierte Gruppierung
(dann Organschaft) auftreten.
Rawls hingegen verfolgt mit seiner Gerechtigkeitskonzeption einen materiellen Ansatz. Er will mit Hilfe des Schleiers eine Entscheidungssituation formen,
in der die Abgeordneten eine Distanz zu den Einzelinteressen besitzen und deshalb als Vertreter des ganzen Volkes agieren. Mit der Forderung nach vernunftgeleiteten und unparteiischen Entscheidungsträgern zeigt Rawls eine Idealvorstellung auf, die über ein formelles Verständnis von Repräsentation hinausreicht.
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist der Schleier des Nichtwissens mehr
als eine äußere Verfahrensbedingung. Rawls integriert mit dieser Gedankenfigur
eine sittliche Grundhaltung in seine politische Theorie. Innerhalb des Urzustandes garantiert der Schleier das Element der Vernunft, der Fairness. Rawls verändert mit Hilfe eines Informationsdefizits die Qualität der Verbindung von Abgeordnetem und Staatsvolk.
Die formelle Repräsentationstheorie greift zudem vor allem die Unterscheidung von repräsentativer und identitärer Demokratie auf. Auch wenn Rawls den
Repräsentationsgedanken später in seine Überlegungen aufgenommen hat, so ist
der Schleier des Nichtwissens nicht untrennbar mit dem Gedanken »indirekter
Herrschaftsausübung« verknüpft. In Eine Theorie der Gerechtigkeit knüpft
Rawls mit seiner Urzustandsbeschreibung an die Theorie vom Gesellschaftsvertrag an. Er skizziert eine fiktive Entscheidungssituation, die man sich zwar nicht
als eine Volksversammlung aller Menschen vorstellen dürfe1674, die sich jedoch
auch nicht durch ein bestimmtes Repräsentativsystem auszeichnet. Rawls entwickelt mit dem Schleier des Nichtwissens eine fiktive Verfahrensbedingung, die es
jedem potentiellen Entscheidungsträger ermöglicht, eine gerechtigkeitsorientierte Perspektive einzunehmen. Er möchte nicht allein garantieren, dass die
Abgeordneten Kenntnisse von den verschiedenen Konzeptionen des Guten besitzen, sondern dass sie diesen gegenüber eine Distanz besitzen und sie fair im Sinne
von gleichwertig behandeln. Die formelle Repräsentationstheorie, die das Verhältnis von Abgeordnetem und Staatsvolk allein von anderen Zurechnungsformen und Formen der direkten Demokratie abgrenzen will, bildet deshalb Rawls
Intention nicht ab.
bb) Materielle Repräsentationstheorien
Die verschiedenen materiellen Theorien verstehen Repräsentation als einen geisteswissenschaftlichen Begriff, der mehr als einen rein technischen Kunstgriff innerhalb der Demokratie beschreibt. Es können hierbei verschiedene Ansätze unterschieden werden.
1674 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 162.
410
So hat Gerhard Leibholz in Anlehnung an Carl Schmitt eine idealistische
Repräsentationslehre entwickelt.1675 Für Leibholz handelt es sich bei dem Begriff
der Repräsentation um einen apriorischen Wesensbegriff.1676 Die Funktion der
Repräsentation bestehe darin, diejenigen Werte, die eine Gemeinschaft zu einer
konkreten Werttotalität zusammenschließen, sichtbar zu machen.1677 Diese Wertvergegenwärtigung könne nur von besonders qualifizierten Personen geleistet
werden.1678 Sie setze »eine höhere Art Sein« voraus. Nur dort, wo die Träger des
Repräsentationsgedankens einen besonderen Wert, eine spezifische Würde und
Autorität für sich beanspruchten, könne man in Wirklichkeit von Repräsentation
sprechen.1679 Repräsentation gewinnt insgesamt einen elitär – aristokratischen
Charakter. Leibholz betont, dass Repräsentation und Elite auf Engste zueinander
gehörende Begriffe darstellen.1680
Mit dem Wesen der Repräsentation hat sich auch Herbert Krüger in seiner
»Allgemeinen Staatslehre« intensiv auseinander gesetzt. Sein Ansatz wird von
Hasso Hofmann und Horst Dreier in Abgrenzung zu den Überlegungen von Leibholz als eine moralische Repräsentationslehre bezeichnet.1681 Krüger verlangt von
dem Abgeordneten als Repräsentanten, dass er sich von seinen eigenen Interessen
und Bedingungen emanzipiert.1682 Nicht der Mensch in der Besonderheit seiner
Religion, seiner Moral, sondern der Mensch in seiner allgemeinen Eigenschaft
solle als Subjekt den Staat denken und dadurch verwirklichen. Die Idee der
Repräsentation verlange von dem Menschen eine innere Wandlung im Sinn einer
Selbst-Erhebung und Selbst-Berichtigung über seine natürliche Natur hinaus.1683
Repräsentation sei verallgemeinernde Reflektion.1684 Krüger spricht dem Repräsentationsgedanken eine bessernde Funktion zu; Repräsentation ist für ihn der
1675 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 25 Fussnote 5.
1676 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 18 ff.
1677 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 32.
1678 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 166 ff.
1679 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 34.
1680 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 166.
1681 Vgl. Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989,
§ 5, 165, 169. Zu einem ähnlichen inhaltlichen Ergebnis wie Krüger gelangen diejenigen
Stimmen in der Literatur, die den Abgeordneten an ein Amtsethos binden wollen. So führt
beispielsweise Depenheuer aus, dass amtliche Verantwortung a priori fremdnützig und
unmittelbar auf das Gemeinwohl ausgerichtet sei, vgl. Depenheuer, Bürgerverantwortung
im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRL 55 (1996), 90, 113. Auch Isensee betont,
dass Amt Dienst am Gemeinwohl bedeute und nicht Orientierung am persönlichen Nutzen,
vgl. Isensee, Zwischen Amtsethos und Parteibindung – Entscheidung des Parlaments in
eigener Sache, ZParl. 2000, 402, 412. Wie jedoch erörtert, wird der Amtsbegriff der besondern Stellung des Abgeordneten nur bedingt gerecht. Es ist deshalb methodisch überzeugender, Anforderungen an die Parlamentarier aus deren repräsentativem Mandat abzuleiten.
1682 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 385 mit Verweis auf Krüger,
Staatslehre, 2. Aufl. 1966, 232 ff., 250.
1683 Vgl. Krüger, Staatslehre, 1966, 238.
1684 Vgl. Krüger, Staatslehre, 1966, 296.
411
Weg »Zur Richtigkeit von Sein und Handeln des Staates«.1685 Die Herausbildung
eines derartigen höheren staatlichen Seins aus den vorhandenen Elementen und
Anlagen ist nach Ansicht von Krüger eine Aufgabe, über deren Schwierigkeit
kein Wort verloren zu werden braucht. Der Mensch kämpfe als Repräsentant
gewissermaßen mit sich selbst, und es sei keineswegs ausgemacht, dass das bessere Ich immer und überall den Sieg über das menschliche oder auch allzumenschliche Ich davontragen müsse.1686
Anders als die Überlegungen von Leibholz werden Krügers Gedanken in der
Literatur als durch und durch demokratisch eingeordnet.1687 Basis für seine moralische Repräsentationstheorie ist vor allem Rudolf Smends Integrationslehre.1688
Krügers Ansatz wird beispielsweise von Böckenförde aufgegriffen, der Repräsentation als dialektischen Prozess der Gruppe mit sich selbst beschreibt.1689 Auch v.
Arnim schließt sich Krügers Repräsentationsverständnis an und fordert hierauf
aufbauend ein mehr wert- und erkenntnisorientiertes Gesetzgebungsverfahren.1690
Doch möglicherweise findet sich auch bei Krüger noch der Ansatz eines Elitedenkens. Zwar führt er aus, dass Ämter und Amtsträger nicht als eine führende
Schicht im Verhältnis zum Volke verstanden werden dürfen.1691 Anderseits enthält
seine »Staatslehre« einen eigenen Abschnitt zur »führenden Schicht«. Eine solche zeichnet sich nach Krüger durch ein Mehr an Pflichten, Leistungspflichten,
vor allem aber auch Haltungs- und Gesinnungspflichten aus.1692 Die Wahl erweise
sich in der Demokratie als der Vorgang, mittels dessen das Volk eine führende
Schicht »auslese« und unter ständiger Überwachung halte.1693
cc) Vergleich mit dem Schleier des Nichtwissens
Auf den ersten Blick scheint eine große Ähnlichkeit zwischen Rawls’ Vier-Stufen-Gang und den materiellen Repräsentationstheorien zu bestehen. Rawls entwickelt mit dem Schleier des Nichtwissens eine Figur, die die Abgeordneten zu
vernunftgeleiteten Entscheidungsträgern werden lässt. Die ideale Gesetzgebung
zeichnet sich dadurch aus, dass im Parlament kein Interessenkampf stattfindet.
Die Diskussion zielt stattdessen allein darauf ab, das beste Vorgehen gemäß den
Gerechtigkeitsgrundsätzen zu finden. Durch den Schleier des Nichtwissens ver-
1685 Vgl. Krüger, Staatslehre, 1966, 238.
1686 Vgl. Krüger, Staatslehre, 1966, 308.
1687 Vgl. Suhr, Repräsentation in Staatslehre und Sozialpsychologie, Der Staat 25 (1986), 517,
519.
1688 Vgl. Krüger, Staatslehre, 1966, 150; Suhr, Repräsentation in Staatslehre und Sozialpsychologie, Der Staat 25 (1986), 517, 521.
1689 Vgl. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Auflage, 1992, 399.
1690 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 389.
1691 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, 351.
1692 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, 353.
1693 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, 358.
412
treten die Abgeordneten nicht länger ein einzelnes Interesse, sondern müssen sich
in die verschiedensten Konzeptionen des Guten hineindenken. Dieser Gegensatz
von Interessenvertretung einerseits und Repräsentation andererseits zeichnet
auch Leibholz´ Ansatz aus. Dieser betont, dass ökonomische Interessen nicht repräsentiert, sondern allein vertreten werden können. Der Begriff der Repräsentation bezieht sich bei ihm auf Werte der Gemeinschaft, auf eine Wertsphäre. 1694
Zu überlegen ist jedoch, ob Rawls wie Leibholz davon ausgeht, dass bereits
eine solche vorgegebene Einheit des Staatsvolkes besteht. Leibholz´ Repräsentationstheorie liegt die Vorstellung einer Volksgemeinschaft als einer Wertegemeinschaft zugrunde.1695 Rawls hingegen betont in seinen späteren Werken, dass
Ausgangspunkt seiner Gerechtigkeitstheorie das Faktum eines vernünftigen Pluralismus sei. Dies könnte bedeuten, dass seine fiktiven Abgeordneten sich gerade
nicht an bestehenden, allgemein anerkannten Werten orientieren können.
Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Verfassungs- und einfache
Gesetzgeber innerhalb der Rawlsschen Konzeption an die Gerechtigkeitsgrundsätze als übergeordnete Maßstäbe gebunden ist. Die Gerechtigkeitsgrundsätze
wiederum transportieren ein bestimmtes Wertverhältnis, sie zeigen konsensuale
Grundwerte auf.1696 Wie im dritten Teil der Arbeit ausgeführt, wird den Parteien
im Urzustand eine Liste mit herkömmlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen vorgelegt. Rawls greift an diesem Punkt seiner Konzeption auf traditionelle Gerechtigkeitsvorstellungen zurück. In seinen späteren Werken grenzt er den Anwendungsbereich seiner Konzeption ausdrücklich auf die modernen westlichen Demokratien ein. Insofern repräsentieren die gewählten Gerechtigkeitsgrundsätze einen
Grundkonsens, der ein bestimmtes Werteverständnis beinhaltet. Aus diesem
Grund ist Rawls’ Theorie auch nicht als rein prozedurale, sondern auch materielle
Gerechtigkeitskonzeption einzuordnen.1697 Der Schleier des Nichtwissens zwingt
die fiktiven Abgeordneten, die Gerechtigkeitsgrundsätze umfassend zu verwirklichen. Denn sie werden nicht einseitig von ihren eigenen Konzeptionen des
Guten beziehungsweise den Partikularinteressen einzelner Wählergruppen beeinflusst.
Insofern weist die Figur des Schleiers eine große Ähnlichkeit mit Krügers’
Repräsentationstheorie auf. Dieser verlangt wie auch Rawls eine Distanz des
Abgeordneten zu persönlichen Interessen. Wie bereits kurz angesprochen, basieren Krügers Überlegungen (und in Ansätzen auch Leibholz´ Ausführungen) auf
dem Integrationsgedanken Rudolf Smends. Ohne dies hier vertiefen zu wollen:
Rawls’ Gerechtigkeitstheorie steht diesem Gedanken ebenfalls nahe. Er entwickelt eine Theorie, die aufzeigt, dass trotz widersprüchlicher und unvereinbarer
1694 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 32.
1695 Vgl. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, 45.
1696 Rawls führt hierzu anlässlich eines kritischen Beitrages von Jürgen Habermas aus, dass
prozedurale Gerechtigkeit substantielle Gerechtigkeit voraussetze, vgl. Rawls, Erwiderung auf Habermas, in: Hinsch: Zur Idee des politischen Liberalismus 1997, 196, 239.
1697 Vgl. hierzu auch Geiss, Das revidierte Konzept der »Gerechtigkeit als Fairness« bei John
Rawls – materielle oder prozedurale Gerechtigkeitstheorie?, JZ 1995, 324 ff.
413
religiöser, moralischer und philosophischer Lehren ein Konsens über die gerechte
Grundstruktur einer Gesellschaft möglich ist. Der Schleier des Nichtwissens als
zentrale Gedankenfigur ermöglicht eine solche Integration, er ist notwendige
Voraussetzung für die Einigung über Gerechtigkeitsgrundsätze.1698
Rawls’ Ansatz unterscheidet sich jedoch von den aufgezeigten materiellen
Repräsentationstheorien darin, dass er die moralischen Anforderungen an die
Gesetzgebung prozeduralisiert. Seiner Gerechtigkeitskonzeption liegt nicht die
Vorstellung von einer Elite, einer führenden Schicht zugrunde. Vor allem Leibholz entwirft das Bild eines besonders befähigten, eines herausragenden Abgeordneten. Er stellt mit seiner Vorstellung von Repräsentation hohe Anforderungen an die Person des Parlamentariers selbst auf, nimmt damit eine personale
Sichtweise ein. Rawls hingegen entwickelt mit dem Schleier des Nichtwissens
eine Verfahrensbedingung, mit der er eine sittliche Grundhaltung prozeduralisiert. Der Schleier ist Bestandteil einer Institutionenlehre. Rawls beschreibt mit
seinem Vier – Stufen – Gang fiktive ideale Entscheidungssituationen, die insgesamt das Bild einer gerechten Grundstruktur als Rahmenordnung ausdifferenzieren. Er verlangt nicht, dass der Abgeordnete eine besondere Befähigung besitzt.
Mit Hilfe des Schleiers kann stattdessen jedermann die Position eines fiktiven
Parlamentariers einnehmen und hieran die tatsächliche Arbeitsweise des Parlaments messen. Insoweit steht Rawls’ Theorie unter dem Einfluss von Kant beziehungsweise dem Gedanken der Aufklärung, dass jeder Mensch die Fähigkeit zur
(Selbst)Gesetzgebung und, davon abstrahiert, zur vernünftigen Entscheidung
besitzt.
Rawls’ Vorstellung von einer idealen Gesetzgebung stimmt mit den materiellen Repräsentationstheorien dahin gehend überein, dass Entscheidungsprozesse
innerhalb von Gesellschaften nicht allein formell, nicht allein technisch betrachtet werden dürfen. Es ist Rawls’ Ziel, den Fairnessgedanken als einen »Wert« in
die Gesetzgebung zu integrieren. Wie im dritten Teil der Arbeit angesprochen,
handelt es sich bei seiner Konzeption um eine egalitaristische Gerechtigkeitstheorie. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sollen den Einfluss gesellschaftlicher und
natürlicher Zufälligkeiten auf die Verteilung der Grundgüter mildern und hierdurch eine umfassende Chancengleichheit etablieren.1699 Denn er sieht die Verteilung der natürlichen Fähigkeiten als das Ergebnis einer Lotterie der Natur an, das
unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich ist.1700 Eine Chancengleichheit
der verschiedenen Lebenspläne lässt sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn
sie gleichwertig in den Gesetzgebungprozess eingehen.
Formal betrachtet, scheint dies durch das Prinzip der Gesamtrepräsentation
bereits gewährleistet. Die Abgeordneten sind in ihrer Gesamtheit Vertreter des
Volkes, sie sind nicht jeweils bestimmten Wählergruppen zugeordnet. Hieraus
scheint sich bereits zu ergeben, dass sie sich mit den unterschiedlichen vorhan-
1698 Vgl. Geis, Das revidierte Konzept der »Gerechtigkeit als Fairness« bei John Rawls – materielle oder prozedurale Gerechtigkeitstheorie?, JZ 1995, 324, 331.
1699 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 12, 93.
1700 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 12, 94.
414
denen Konzeptionen des Guten innerhalb des Staatsvolkes auseinander setzen
müssten. Nach einem formalen Verständnis von Repräsentation ergibt sich jedoch
aus der »Vorgabe« Gesamtrepräsentation allein, dass die Abgeordneten einander
formell gleichgestellt sind. Weil sie alle gleichermaßen das Staatsvolk repräsentieren, müssen ihnen die gleichen Mitwirkungsrechte zukommen.1701
Rawls hingegen stellt mit dem Schleier des Nichtwissens eine umfassendere
Gleichheit der Abgeordneten her. Sie besitzen nicht nur rein äußerlich die gleichen Rechte, sondern verfügen nicht länger über Verhandlungsvorteile (wenn sie
für die Interessen eines angesehenen bzw. einflussreichen Verbandes eintreten)
oder Verhandlungsnachteile (wenn sie sich für die Interessen von Minderheiten,
von gesellschaftlichen Randgruppen engagieren). Rawls wirkt auf die Perspektive der Entscheidungsträger ein. Er will aufzeigen, dass eine unparteiische Haltung der Entscheidungsträger Chancengleichheit als Wert abbildet.
Repräsentation erschöpft sich nicht darin, dass Abgeordnete von einem Staatsvolk gewählt werden, um ein entscheidungsfähiges Gremium zu konstituieren.
Rawls fordert wie Leibholz und Krüger ein darüber hinausgehendes Selbstverständnis der Abgeordneten. Die Parlamentarier treffen für ihn nur dann eine
gerecht im Sinne einer den Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechenden Entscheidung, wenn sie nicht als interessenbestimmte Privatperson agieren. Rawls will
diese Grundhaltung mit dem Schleier des Nichtwissens institutionell abbilden,
während zumindest Leibholz unmittelbar an die Person des Abgeordneten
anknüpft. Dessen Sichtweise weist damit eine größere Ähnlichkeit zu der Figur
des unparteiischen Beobachters von Hume und Smith auf.
Insgesamt bildet der Schleier des Nichtwissens ein eigenständiges Repräsentationsverständnis ab. Diese Gedankenfigur bewirkt eine »moralische« Veränderung der Entscheidungsträger. Insoweit erscheint die Bezeichnung »moralische
Repräsentationstheorie« passend. Sie ist jedoch in eine Institutionenlehre eingebunden. Der Schleier des Nichtwissens ist Teil einer politischen Theorie und
wirkt auf den Abgeordneten als »Untereinheit« des Parlaments ein.
5. Gewissen als Richtschnur / Maßstab
Der Abgeordnete ist nach Art. 38 I S.2 GG nur seinem Gewissen unterworfen.
Möglicherweise »transportiert« diese Formulierung eine normative Ethik, die
Rawls’ Schleier des Nichtwissens entspricht. Denn wie Filmer in seiner Monographie zum Gewissensbegriff ausführt, enthalten Bezugnahmen auf das Gewissen im Grundgesetz immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität. Sie
sind ausschnitthaft positivierte Aspekte des ambivalenten Verhältnisses von
1701 Vgl. Trute, in: Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 2, 5. Auflage, 2001, Art. 38 Rn. 78.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.