182
Mit dem Repräsentationsgedanken erweitert er dennoch den Anwendungsbereich seiner Ausführungen. Der Schleier des Nichtwissens blendet in seinen Folgewerken nicht nur eine unmittelbare Betroffenheit aus. Er verhindert vielmehr
auch, dass die Abgeordneten sich einseitig für an sie herangetragene Partikularinteressen einsetzen.
3. Abgrenzung zu bisherigen Ansätzen in der politischen Philosophie
Bei dem Blick in die Philosophiegeschichte wurde zu Beginn die Frage aufgeworfen: Welches ist die richtige Verbindung zwischen Wissen und Gesetzgebung? Die abschließende Betrachtung hat deshalb auch das Ziel, zu erörtern, inwieweit Rawls ein neues Bild idealer Gesetzgebung entwirft.
In der Literatur wird der Schleier des Nichtwissens häufig mit anderen Postulaten verglichen. Er habe dieselbe Funktion wie die Idee eines idealen Beobachters, das Prinzip des Rollentausches oder die Forderung der Transsubjektivität.711
In der Geschichte der Ethik würden immer wieder Verfahren entworfen, die den
Menschen befähigen sollen, sich von konkreten Interessenkonflikten zu distanzieren. Die Menschen sollen eine weite und objektive Perspektive einnehmen.712
Der Schleier des Nichtwissens sei kompatibel mit jeder moralischen Sichtweise,
die auf einer Unparteilichkeit aufbaut.713
Zu überlegen ist abschließend also, ob Rawls’ Ansatz sich tatsächlich von den
bisherigen Vorstellungen von idealer Gesetzgebung abhebt. Entwickelt er wirklich eine neuartige und höchst überraschende Rekonstruktion des »Moral point of
view«?714 Oder bestehen nicht doch vielfältige Verbindungslinien zwischen seinem Schleier des Nichtwissens und den bereits aufgezeigten Ansätzen in der Philosophiegeschichte?
Die folgende Untersuchung will nicht die gesamte Theorie von Rawls mit
Kant, Rousseau oder dem klassischen Utilitarismus vergleichen. Dies würde den
Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen. Nur der kleine Ausschnitt »ideale
Gesetzgebung / idealer Gesetzgeber« wird betrachtet. Basis der Betrachtung sind
immer der Schleier des Nichtwissens und der Vier –Stufen- Gang.
Wie erörtert, wurden in der Philosophiegeschichte grob betrachtet drei Bilder
von geeigneten Gesetzgebern entwickelt: 1. der einzelne weise Herrscher, 2. die
gesellschaftliche Elite, 3. der vernunftbegabte Mensch. Jede dieser Vorstellungen
ist mit bestimmten Postulaten verbunden. In welchem Verhältnis steht Rawls’
Konzeption zu diesen Ansätzen? Inwieweit ist der Schleier des Nichtwissens mit
den Überlegungen in der Philosophiegeschichte vergleichbar?
711 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 86.
712 Vgl. Ballestrem, Methodologische Probleme in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe 1977, 108, 120.
713 Vgl. Barry, The Liberal Theory of Justice, 1975, 13.
714 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 188; Nida – Rümelin, Die beiden zentralen Intentionen
der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls, ARSP 1990, 457, 463.
183
a) Der einzelne weise Gesetzgeber
Auf den ersten Blick scheint Rawls’ Konzeption keine Verbindung zu der Vorstellung eines einzelnen weisen Gesetzgebers aufzuweisen. Rawls will mit seiner
Gerechtigkeitskonzeption ausdrücklich an die Theorie des Gesellschaftsvertrages
anknüpfen. Diese bildet jedoch den Gedanken eines normativen Individualismus
ab. Politische Machtausübung wird allein durch die (fiktive) Zustimmung aller
Betroffenen legitimiert.715 So wird der Urzustand in der Sekundärliteratur auch
als zentraler Bestandteil einer liberalen, individualistischen Konzeption angesehen.716
Jedoch wird in der Literatur auch kritisiert, dass der Schleier des Nichtwissens
im Urzustand zu einer monologischen Entscheidung führe. Dadurch, dass diese
Gedankenfigur die Unterschiede zwischen den Menschen aufgebe, handele letztlich nur eine fiktive Person. Zudem setze Rawls im Urzustand zu viel Abstraktion
von Wissen voraus. Er verlange von seinem künstlichen Entscheidungsträger ein
wirklichkeitsfernes Entscheidungswissen. Fasst man diese Ansätze zusammen,
so lautet die Kritik an Rawls zugespitzt, dass er eine einzige, mit abstraktem Wissen ausgestattete Person konstruiere. Bedeutet dies, dass Rawls auf Umwegen
doch die platonische Vorstellung des Philosophenkönigs aufgreift? Liegt seiner
Konzeption mittelbar das Bild eines einzelnen weisen Gesetzgebers zugrunde?
An dieser Stelle ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass sich
die Vorwürfe aus der Literatur gegen den Schleier des Nichtwissens im Urzustand
richten. Auf den Ebenen der Gesetzgebung geht Rawls in seiner Konzeption
gerade nicht davon aus, dass der Schleier des Nichtwissens zwingend zu einem
Konsens führt. Er bewirkt auf dieser Stufe allein, dass sich die Qualität der Diskussion zwischen den Abgeordneten verändert. Innerhalb des Gesetzgebungsprozesses finde kein Meinungskampf, sondern ein Informationsaustausch statt.
Rawls betont, dass die einzelnen Abgeordneten nur über ein begrenztes Wissen
verfügen und deshalb die Kommunikation unter ihnen notwendig sei.
Dies zeigt jedoch, dass Rawls’ Idealbild der Gesetzgebung nicht der Konzeption Platons entspricht. Auf dieser Ebene des Vier –Stufen –Gangs liegt die Entscheidung nicht bei einer einzelnen (fiktiven) Person. Der Schleier des Nichtwissens bewirkt nicht, dass auch ein Abgeordneter allein die gesetzgeberischen Entscheidungen treffen könnte. Rawls spricht sich gegen den Gedanken aus, dass
eine einzelne Person das notwendige Wissen für die komplexe Aufgabe Gesetzgebung besitzen könnte. Er lehnt somit den Gedanken eines besonderen Herrschaftswissens ab. Seine fiktiven Abgeordneten sind nicht allwissend, sondern
müssen sich notwendig miteinander austauschen.
Auch wenn Rawls nicht als »Platoniker« eingeordnet werden kann, steht er
möglicherweise dennoch einem anderen Befürworter des einzelnen weisen
Gesetzgebers nahe. So spricht er selbst davon, dass Übereinstimmungen zwischen seiner Konzeption und der vertragstheoretischen Tradition bei Rousseau
715 Vgl. v. der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 293 ff.
716 Vgl. Nagel, Rawls on Justice, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 1, 10.
184
bestehen.717 So wird Rawls’ Konzeption auch als eine Antwort auf Rousseaus
berühmten »außergewöhnlichen« Gesetzgeber verstanden.718 Welche Verbindungen weist also der Schleier des Nichtwissens zur Rousseauschen Konzeption auf?
Rousseau suchte nach einem »Legislateur«, der eigentlich ein Gott sein müsste. Nur ein ganz besonderer Mensch konnte seiner Ansicht nach den Anforderungen der Aufgabe gerecht werden. Er konstruierte ein Idealbild der Gesetzgebung, das auf der Vorstellung von einem außergewöhnlichem Menschen, einem
»Genie« basierte. Rawls ähnelt Rousseau darin, dass er ebenfalls eine Idealvorstellung, eine ideale Theorie entwirft. Basis seiner Konzeption ist jedoch der egoistische Mensch, den er durch Verfahrensbedingungen »diszipliniert«. Rawls entwirft anders als Rousseau eine ideale Entscheidungssituation, in der das nutzenorientierte Handeln der Menschen von einem Vernunftrahmen begrenzt wird. Auf
diese Weise tritt bei Rawls die Person des Gesetzgebers in den Hintergrund;
gerechte Entscheidungen entstehen nicht durch Sonderwissen der Abgeordneten,
sondern durch die Rahmenbedingungen, durch die Arbeitsweise der Institutionen.
Die Ähnlichkeit zwischen Rousseau und Rawls besteht darin, dass beide das
Ziel haben, den Konflikt zwischen dem allgemeinen Willen und dem individuellen Interesse aufzulösen. Während Rousseau davon ausgeht, dass Initialzündung
für einen solchen Prozess ein Genie / ein gottähnlicher Mensch sein müsse, prozeduralisiert Rawls diese Überlegung. Der Schleier des Nichtwissens als Verfahrensbedingung, und nicht eine besonders befähigte Person zwingt die Menschen,
zumindest in Gedanken frei zu sein.719
Indem Rawls in seinen Folgewerken den Repräsentationsgedanken aufnimmt,
entfernt er sich jedoch von Rousseau. Dessen Konzeption liegt der Gedanke der
identitären Demokratie zugrunde. Insofern zeigt sich auch im direkten Vergleich,
dass sich Rawls spätere Ausführungen nicht mehr mit den klassischen Gesellschaftsvertragstheorien vereinbaren lassen.
b) Das vernunftbegabte Individuum als Gesetzgeber
Indem sich mit Hilfe des Schleiers des Nichtwissens jedermann in die Rolle eines
fiktiven idealen Abgeordneten versetzen kann, scheint Rawls jeden vernunftbegabten Menschen als möglichen Gesetzgeber anzusehen. Er selbst sieht sich als
in einer kantischen Tradition stehend.720 In Eine Theorie der Gerechtigkeit wird
nur in Nebenbemerkungen erkennbar, dass Rawls einem noch nicht genau verorteten Konstruktivismus folgt (»Wir möchten den Urzustand so bestimmen, dass
717 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 40, 284.
718 Vgl. Ricoeur, On John Rawls’ Theory of Justice, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume
1, 133, 135.
719 Vgl. In diese Richtung, Alejandro, The Limits of Rawlsian Justice, 1998, 77.
720 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 40, 283.
185
die gewünschte Lösung herauskommt«721). Insbesondere in seinem späteren Aufsatz »Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«722 zeigt Rawls jedoch die
kantischen Wurzeln seiner Gerechtigkeitstheorie prägnant auf. Er legt in seinen
Folgewerken diese kontinentaleuropäische philosophische Basis seiner Gerechtigkeitstheorie erkennbar offen.723
Im Rahmen dieser Untersuchung kann nicht umfassend auf das Verhältnis von
Rawls und Kant eingegangen werden. Es würde den Rahmen dieser Arbeit bei
weitem sprengen, den Begriff des kantischen Konstruktivismus in allen seinen
Facetten aufzuarbeiten.724 In der Literatur ist das Verhältnis von Rawls und Kant
vielfach diskutiert worden.725 Die Verbindung dieser beiden Konzeptionen wird
als kompliziert eingeordnet. Sie sei schwer zu verdeutlichen.726
Das Interesse der Verfasserin gilt vor allem dem Schleier des Nichtwissens
innerhalb der idealen Gesetzgebung. Ist die Gedankenfigur innerhalb dieser Entscheidungssituation mit dem kategorischen Imperativ vergleichbar? Entspricht
die Wirkungsweise des Schleiers dort der kantischen Lehre oder besteht ein
Unterschied? Ist Vergleichspunkt hier weniger der kategorische Imperativ als das
kantische Prinzip des Rechts?727
aa) Universalisierungsgedanke
Wie bereits angesprochen, kann der Schleier des Nichtwissens als ein radikales
Universalisierungsprinzip aufgefasst werden. Kants kategorischer Imperativ wiederum wird als paradigmatisch für die verschiedenen Formen des ethischen Uni-
721 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 165.
722 Vgl. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, 80 ff.
723 Vgl. zu dieser Entwicklung, O´Neill, Constructivism in Rawls and Kant, in: Freeman,
Cambridge Companion to Rawls, 2003, 347 ff.; O`Neill, Tugend und Gerechtigkeit, 1996,
64 ff.
724 Vgl. zum kantischen Konstruktivismus nur als Auswahl: Hill, Kantian Constructivism in
Ethics, Ethics 99 (1988/89), 752 ff.; Hoeffe, Ist Rawls’Theorie der Gerechtigkeit eine kantische Theorie?, Ratio 26 (1984), 88 ff.; Kersting, John Rawls, 2001, 175 ff.; Krasnoff,
How Kantian is Construcivism?, Kant-Studien, 90 (1999), 385 ff.; O´Neill, Constructivism
in Rawls and Kant, in: Freemann, Cambridge Companion to Rawls, 2003, 347 ff; Pogge,
The Kantian Interpretation of Justice as Fairness, Zeitschrift für philosophische Forschung
35 (1981), 47 ff.
725 Vgl. Brehmer, Rawls’ »Original Position«, 1980, 65; Darwall, Is There a Kantian Foundation for Rawlsian Justice, in: Blocker/Smith, 1980, 311, 322; Darwall, A Defense of the
Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 220 ff.; Johnson, The
Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 210 ff.; Wolff, Understanding Rawls, 1977, 106.
726 Vgl. Brehmer, Rawls’ »Original Position«, 1980, 65.
727 «Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines
jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«,
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, Erster Teil,
Bernd Ludwig (Hrsg.), 1998, Einleitung in die Rechtslehre, 39.
186
versalismus verstanden.728 Er sei die Folie für die verschiedenen Ansätze in der
modernen politischen Philosophie, die sich mit der Struktur von Entscheidungssituationen auseinander setzen.729 Folgt man dieser Bewertung durch die Literatur, so ist der kategorische Imperativ Vorbild für den Schleier des Nichtwissens.
Beiden Figuren ist ihr formaler Charakter gemeinsam, sie spiegeln eine prozedurale Sichtweise wieder.
Rawls scheint mit dem Gedanken der Unparteilichkeit tatsächlich den Kern des
kategorischen Imperativs aufzugreifen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die
Menschen ihre individuellen Gesinnungen aus einer Entfernung betrachten müssen. Eine Maxime wird dadurch zu einer unbedingten Regel, dass sie als allgemeines, also auf alle Menschen anwendbares Gesetz vorstellbar ist. Der kategorische Imperativ verlangt von den Menschen, unabhängig von ihren eigenen
Zwecken zu entscheiden, sich von diesen zu distanzieren. Diese Wirkungsweise
will Rawls mit seinem Schleier des Nichtwissens abbilden. Der Gedanke des Perspektivenwechsels zeichnet sowohl den Schleier als auch den kategorischen
Imperativ aus.730
Doch reicht diese Übereinstimmung tatsächlich aus, um eine enge Verbindung
zwischen Kant und Rawls zu bejahen? Oder nimmt letzterer nicht doch entscheidende Modifikationen vor, die den Schleier insbesondere im Bereich der Gesetzgebung zu einer eigenständigen und damit »neuen« Gedankenfigur werden lassen?
bb) Schleier des Nichtwissens und kantischer Konstruktivismus
In seinem Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit zeigt Rawls folgende Verbindungslinie zwischen seiner Konzeption und der kantischen Tradition auf:
»Der Urzustand lässt sich also auffassen als eine verfahrensmäßige Deutung von
Kants Begriff der Autonomie und des Kategorischen Imperativs im Rahmen einer
empirischen Theorie.«731
Rawls begreift den Schleier des Nichtwissens in diesem Zusammenhang als eine
natürliche Bedingung, die indirekt in Kants Lehre vom kategorischen Imperativ
enthalten sei.732 Er betont zudem, dass der Vier – Stufen – Gang insgesamt zur
Theorie der Moral und nicht zur Analyse der Arbeitsweise wirklicher Institutio-
728 Vgl. Wimmer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11: U-V, »Universalisierung«, 199, 200.
729 Vgl. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1990, der die Ansätze von Habermas, Apel,
Hare und Singer aufzeigt und kritisch untersucht.
730 Vgl. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, 1975, 262.
731 Rawls, TG, Abschnitt 40, 289.
732 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
187
nen gehöre.733 Auf den ersten Blick erscheint es deshalb unproblematisch, dass
Rawls den »Schleier« auf den kategorischen Imperativ zurückzuführt.
Rawls entwickelt jedoch keine Tugendlehre für den einzelnen Menschen, sondern setzt sich vor allem mit Fragen sozialer Gerechtigkeit auseinander.734 Er will
das Bild einer gerechten Grundstruktur der Gesellschaft entwickeln.735
Im Politischen Liberalismus spricht Rawls davon, dass er nach einer öffentlichen Rechtfertigungsgrundlage sucht.736 Er schränkt in seinen späteren Werken
den Umfang seiner Gerechtigkeitstheorie ausdrücklich ein und unterscheidet
nunmehr zwischen Moralphilosophie und politischer Philosophie.737 Kants Vorstellung von Autonomie ordnet er als Teil einer umfassenden philosophischen
und moralischen Konzeption ein. Das Ideal der Autonomie habe in Kants Lehre
eine regulative Rolle für das ganze Leben.738 Eine solche umfassende Theorie will
Rawls jedoch nicht länger entwickeln. Stattdessen unterscheidet er zwischen
einem moralischen und politischen Konstruktivismus.739 Nach seiner Ansicht
liegt Kant ein moralischer Konstruktivismus zugrunde, während die Gerechtigkeit als Fairness einen politischen Konstruktivismus aufzeigen will.740 Infolgedessen distanziert er sich von Kants Begriff der Autonomie.741
Wie wir gesehen haben, bleibt jedoch die Figur des Schleiers in seinen späteren
Werken erhalten. Diese Verfahrensbedingung stellt weiterhin eine Verbindung
zwischen kantischer Lehre und der Gerechtigkeit als Fairness her. Der Schleier
des Nichtwissens wird jedoch zu einer Figur innerhalb einer politischen Gerechtigkeitstheorie.
Fraglich ist dann, ob der kategorische Imperativ wirklich geeignetes »Vorbild«
für einen derart verstandenen Schleier des Nichtwissens sein kann. Wie bereits an
anderer Stelle aufgezeigt, ist das Verhältnis von Moralphilosophie und Rechtslehre bei Kant umstritten und ungeklärt.742 Die vorliegende Untersuchung folgt
der Interpretation, die den kategorischen Imperativ als ein übergeordnetes sittliches Gebot ansieht, das sich sowohl auf den Bereich des Rechts als auch auf den
Bereich der Moral bezieht. Otfried Höffe fasst dieses Verständnis prägnant
zusammen:
733 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225 Fussnote; kritisch hierzu Hauke, Liberalismus-metaphysisch und politisch, ARSP 2005, 49. Der Schleier des Nichtwissens verkörpere ein spezifisch liberales Ideal guten Lebens. Er sei ein Mittel, das die Personen abschirme und vor
Verletzungen schütze. Gleichzeitig schreibe er ihnen aber auch eine Bestimmung und eine
spezifische Gestalt zu.
734 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 23 ff.; Abschnitt 10, 74 ff.
735 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 1, 19 ff.
736 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 182.
737 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 11.
738 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 180.
739 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 170 Fussnote.
740 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 171.
741 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 180 ff. zum Verhältnis von Rawls und Kant im Hinblick auf den Autonomie – Begriff vgl. auch Höffe, Ethik und Politik, 1992, 221.
742 Vgl. 2. Teil, II, 2., c).
188
Der kategorische Imperativ ist (Hinzufügung der Verf.) »als ein von empirischen Bedingungen unabhängig und daher unbedingt (kategorisch) gültiges
Gebot des Handelns zu verstehen, ein Gebot, das noch offen lässt, ob man sich
das Gebotene auch zur Maxime (Triebfeder) macht (Moralität) oder nicht (bloße
Legalität). So verstanden ist der kategorische Imperativ das höchste Moralkriterium, das Kant in der allgemeinen, gegenüber dem Unterschied von Rechts- und
Tugendlehre noch indifferenten Einleitung in die Metaphysik der Sitten einführt,
und aus dem er später zwei verschiedene Gruppen von Pflichten; die Rechts- und
Tugendpflichten ableitet.743
Folgt man dieser Sichtweise, so ist es mit Kants Lehre vereinbar, dass Rawls
das Prinzip der Verallgemeinerung in eine politische Konzeption einbindet. Der
Schleier bildet dann den kategorischen Imperativ als ein Grundprinzip für den
gesamten Bereich der praktischen Vernunft und damit für alles menschliche Handeln ab. Auch wenn Kant in seiner Rechtslehre eine Moralisierung des Rechts
strikt ablehnt,744 so bedeutet dies nicht, dass der kategorische Imperativ keine
Wirkung besitzt. Der Gedanke der Verallgemeinerung besitzt vielmehr auch für
diesen Bereich Geltung. Indem Rawls den Schleier des Nichtwissens auf den
Bereich der Gesetzgebung überträgt, widerspricht er Kants Lehre nicht. Bezogen
auf die Gesetzgebung vertritt Kant genau wie Rawls einen prozeduralen Gerechtigkeitsbegriff. Nicht die Übereinstimmung mit materiellen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert die Gesetze eines Gemeinwesens als gerecht, sondern die Art und
Weise ihrer Entstehung: Die Gerechtigkeit eines Gesetzes wird durch das Verfahren seiner Erzeugung garantiert.745
Im Gegensatz zur kantischen Lehre wird in der Konzeption von Rawls mit dem
Schleier des Nichtwissens die Verbindung zwischen sittlichem Handeln und
rechtlicher Entscheidung deutlicher. Der Universalisierungsgedanke wird zu
einem Argument, das moralische Überlegungen in eine politische Konzeption
transportiert. Rawls’ Ziel ist es, die Ansätze in Kants Lehre weiterzuentwickeln
und mögliche Dualismen zu überwinden.746 Er entwickelt mit dem Schleier des
Nichtwissens eine Form der Idealisierung, die auf den einzelnen Abgeordneten
einwirkt und hierdurch die Arbeitsweise der Institution Parlament grundlegend
verändert. Mit Hilfe des Schleiers findet eine sittliche Grundlage Eingang in eine
Institutionenlehre.747
743 Vgl. Höffe, Kants Begründung des Rechtszwanges und der Kriminalstrafe, in: Brandt,
Rechtsphilosophie der Aufklärung, 1982, 335, 343.
744 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, Erster Teil,
Bernd Ludwig (Hrsg.), 1998, Einleitung in die Rechtslehre, 39.
745 Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie,
1993, 401.
746 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 81.
747 Peter Koller unterscheidet zwischen Pflichtmoral und Tugendmoral und ordnet das Gebot
der Fairness der Pflichtmoral zu. Dieses Gebot zeichne sich dadurch aus, dass jemand, der
die Vorteile sozialer Kooperation in Anspruch nimmt, sich auch an deren Lasten beteiligen
soll, Vgl. Koller, Theorie des Rechts, 1997, 264, 276.
189
cc) Wirkungsweise des Schleiers innerhalb der Gesetzgebung
Sowohl Rawls als auch Kant beschreiben ein Gedankenexperiment, das von einer
einzelnen Person nachvollzogen werden soll / werden kann. Mit Hilfe des kategorischen Imperatives kann jedes vernunftbegabte Individuum überprüfen, ob
seine subjektiven Maximen den »Verallgemeinerungstest« bestehen und deshalb
handlungsleitend sein dürfen. Auch der Schleier des Nichtwissens stellt ein solches intrapersonales Gedankenexperiment dar. Im Hinblick auf den Urzustand ist
in der Konzeption von Rawls die Möglichkeit angelegt, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze von einer einzigen Person ausgewählt werden könnten. Dieser Charakter wird besonders in folgender Aussage deutlich:
»Ein oder mehrere Menschen können jederzeit in diesen Zustand eintreten oder besser, die in ihm stattfindenden Überlegungen nachvollziehen, indem sie einfach gemäß den entsprechenden Einschränkungen denken.«748
Dieser monologische Charakter von kategorischem Imperativ und Schleier des
Nichtwissens wird in der Literatur gleichermaßen kritisiert. An anderer Stelle
wurde bereits kurz angerissen, dass Habermas die Intrapersonalität des Schleiers
ablehnt. Die gleiche Kritik richtet er auch an die kantische Lehre. Kant habe möglicherweise die Notwendigkeit gemeinsamen Denkens für die Suche nach theoretischer und praktischer Wahrheit unterschätzt.749 Neue Ansätze in der Kant – Interpretation halten dieser Kritik entgegen, dass auch die Philosophie Kants diskursive Elemente aufweise.750
Wie jedoch bereits aufgezeigt, muss der Schleier des Nichtwissens im Bereich
der Gesetzgebung differenziert betrachtet werden. Grundsätzlich kann der einzelne Leser auch hier »für sich« überprüfen, ob die tatsächliche Arbeitsweise
»seiner« Abgeordneten dem Bild einer idealen Gesetzgebung entspricht. Er kann
sich in die Lage einer Gruppe von Abgeordneten versetzen, indem er sich hinter
einen gedanklichen Schleier des Nichtwissens begibt. Jedes vernunftbegabte
Individuum kann folglich für sich allein die Gesetzgebung überprüfen beziehungsweise Entscheidungen kritisch hinterfragen.
Jedoch bewirkt der Schleier auf der Ebene der Gesetzgebung keine monologische Entscheidung mehr. Er wird zu einer Vorbedingung für einen kommunikativen Prozess. Der einzelne Leser kann sich in die Rolle von Abgeordneten versetzen und nachvollziehen, wie ein Nichtwissen seine Arbeitsweise innerhalb des
Parlaments beeinflussen würde. Dieser diskursive Ansatz findet sich allerdings
auch in Kants Staatslehre. Das Postulat des real zu vereinigenden Willens aller
748 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 161.
749 Vgl. Habermas: Philosophisch – politische Profile, 1971, 210; Habermas, Erläuterungen
zur Diskursethik, in: Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 119, 153, weitere
Nachweise bei Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, 1993, 170.
750 Vgl. vertiefend und mit umfassenden Nachweisen Unruh, Die Herrschaft der Vernunft,
1993, 171.
190
zum Allgemeinwillen ist per definitionem auf die kommunikative Erzeugung vernünftiger Entscheidungen angelegt.751
dd) Gleichheit der Entscheidungsträger als vorrangiges Ziel
Rawls’ und Kants Konzeptionen unterschieden sich jedoch möglicherweise
darin, wie sie das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit auffassen. Der kategorische Imperativ beziehungsweise das Rechtsgesetz als seine Spezialform beinhaltet einen Begriff der Gleichheit, der aus der Freiheit abgeleitet ist.752 Die Freiheit des Menschen, seine Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung ist für Kant das ursprüngliche, jedem Menschen zustehende Recht.753
Rawls dagegen schaltet auf den ersten drei Stufen (Gerechtigkeitsgrundsätze,
Verfassung, Gesetzgebung) das Wissen über die eigenen Lebenspläne, Fähigkeiten, Charaktereigenschaften aus. Die einzelnen Menschen werden nach den Worten von Rawls zu gleichen »moralischen Subjekten«. Er betont, dass der Schleier
des Nichtwissens zu einer symmetrischen Position führt; der Aspekt der Gleichheit ist für ihn entscheidend.754 Die Gleichheit der Entscheidungsträger hat für ihn
Vorrang gegenüber der Individualität. Rawls will die individuellen Konzeptionen
des Guten gerade dadurch schützen, dass er sie ausblendet und eine Gleichheit der
Menschen konstruiert. Der Schleier des Nichtwissens führt im Urzustand zum
ersten Gerechtigkeitsgrundsatz, der ein Gleichmaß an Freiheit für alle Menschen
garantiert (»Prinzip der größtmöglichen gleichen Freiheit«). 755 Rawls garantiert
mit dieser Gedankenfigur eine Form der moralischen Gleichheit.756
Der Schleier des Nichtwissens stellt damit möglicherweise eine Gleichheit her,
die nicht auf die Freiheit und Autonomie der Menschen gegründet ist. Indem
Rawls die Konzeptionen des Guten ausblendet, wirkt er möglicherweise in einer
Art und Weise auf die Menschen ein, die sich grundlegend von Kants Ansatz
unterscheidet.
Eine solche Einschätzung wird in der Literatur vor allem von Höffe geäußert.
Der Schleier des Nichtwissens ändere nur die Bedingungen einer Entscheidung
von außen her. Durch ihn wandele sie jedoch nicht die Motivation der Menschen
751 Vgl. Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, 1993, 174.
752 Vgl. vertieft zu dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit bei Kant Unruh, Die Herrschaft
der Vernunft, 1993, 135. Vgl. zudem Bartuschat, Zur kantischen Begründung der Trias
»Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit« innerhalb der Rechtslehre, in: Landwehr (Hrsg.),
Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, 1999, 11 ff.; Luf, Freiheit und Gleichheit: Die Aktualität im politischen Denken Kants, 1978.
753 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, Erster Teil,
Bernd Ludwig (Hrsg.), 1998, 47.
754 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 36, 37.
755 Vgl. zur Einordnung der Gerechtigkeit als Fairness als einer egalitaristischen Theorie
Daniels, Democratic, Equality: Rawls’s Complex Egalitarianism, in: Freeman, Cambridge
Companion to Rawls, 2003, 241 ff.
756 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 188.
191
an sich. Die Menschen blieben weiter selbstinteressiert.757 Anders als bei Kant
werde die Vernünftigkeit der Entscheidung von außen erzwungen. Bei Kant
basiere die Einordnung autonom – heteronom auf den Motiven, die die Menschen
leiten, und nicht auf den äußeren Bedingungen. Für eine autonome Entscheidung
müssten die Menschen sich eigenständig von ihren Motiven distanzieren.758
Rawls deute die positive und praktische Aufgabe, sein natürliches Interesse am
eigenen Vorteil zu überwinden, in ein negatives und zudem kognitives Problem
um: in einen Mangel an Wissen.759
Wie schon an anderer Stelle dargestellt, ist Kants kategorischer Imperativ die
Anleitung für den Menschen, sich von seinen inneren Antrieben zu distanzieren.
Als Vernunftwesen (homo noumenon) und nicht als bloß vernünftiges Wesen
(homo phaenomenon) hat der Mensch bei Kant das Vermögen, nur nach selbst
gesetzten Gesetzen zu handeln und sich nicht von seinen egoistischen Neigungen
leiten zu lassen. Jeder Mensch hat ein Wissen um seine persönlichen Interessen.
Er besitzt jedoch die Fähigkeit, sich von diesen egoistischen Neigungen nicht
vollständig einnehmen zu lassen. Dieses Abgrenzen wird bei Kant als eine Leistung, als eine besondere Anlage des Menschen verstanden.
Rawls scheint den Menschen in seiner Konzeption nicht die Chance zu einem
solchen »selbst gewählten« Vernunftgebrauch zu geben. Die fiktiven Abgeordneten werden passiv in den Zustand des Nichtwissens versetzt. Eine Verfahrensbedingung (= der Schleier) garantiert »technisch«, dass die Menschen vernünftig
entscheiden.
Dieser negativen Bewertung des Schleiers kann jedoch entgegen gehalten werden, dass sich Rawls in seinen Folgewerken bewusst von Kants Autonomiebegriff
distanziert. Kants Freiheitsbegriff ist für Rawls Teil einer umfassenden Lehre. Er
hingegen möchte eine Konzeption entwickeln, die mit den verschiedenen religi-
ösen und philosophischen Überzeugungen vereinbar ist und deshalb nicht auf
eine solche Grundannahme zurückgreifen darf.
Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit baut vielmehr auf den »Common Sense«
Vorstellungen der Menschen und damit einem bestimmten Menschenbild auf. Er
geht von einem rationalen Egoisten aus, der gezwungen werden muss, allgemein
verträgliche und damit gerechte Entscheidungen zu treffen.760 In dieser realistischen Grundannahme kann nach Ansicht der Verfasserin eine Stärke der Rawlschen Konzeption gesehen werden. Insoweit ist auch noch einmal auf den bereits
aufgezeigten »Bruch« innerhalb der Werke Kants hinzuweisen. Das »Teufelszitat« in der Schrift Zum ewigen Frieden zeigt auf, dass die Menschen, auch wenn
sie sich allein von ihrem Eigeninteresse leiten ließen, einen Staat gründeten.
757 Vgl Johnson, The Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 210,
214; . v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 43.
758 Vgl. Johnson, The Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 210,
214.
759 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 189.
760 Vgl. vertiefend hierzu Cohen, Joshua, Taking people as they are?, Philosophy and Public
affairs, 30 (2001), 363 ff.
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Kants Ausführungen zum Staatsrecht liegt in diesem Werk ein Menschenbild
zugrunde, dass Rawls’ rationalem Egoisten sehr nahe steht.
Denjenigen Stimmen in der Literatur, die Kants Konzeption bevorzugen, kann
zudem entgegen gehalten werden, dass der »Schleier« den realen Menschen nicht
aufgezwungen wird. Der einzelne Leser führt das Gedankenexperiment
»Schleier« für sich selbst freiwillig durch.761 In Politischer Liberalismus
beschreibt Rawls den Urzustand eindrücklich als ein Rollenspiel, in das sich der
Leser hineinversetzen kann.762 Er unterscheidet drei Standpunkte:
1. den der Parteien im Urzustand
2. den von Bürgern in einer wohlgeordneten Gemeinschaft
3. den der Leser seiner Gerechtigkeitskonzeption.763
Der dritte Standpunkt ist derjenige, von dem aus die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness beurteilt werden muss. Die Urzustandsbeschreibung kann nur
dann überzeugen, wenn es ihr gelingt, unsere festen, wohlerwogenen Überzeugungen zu artikulieren.764 Die Figur des Überlegungsgleichgewichts zeigt auf,
dass Rawls eine Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die er dem Leser nicht aufzwingen will, sondern die auf den »Common Sense«-Vorstellungen von sozialer
Gerechtigkeit aufbaut. Er will mit dem Vier-Stufen-Gang ein Bild der Gesetzgebung aufzeigen, das unseren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht. Im Rahmen
des siebten Teils der vorliegenden Arbeit wird deshalb ausführlich erörtert, ob der
Schleier des Nichtwissens eine Verfahrensbedingung darstellt, die mit den Wertungen des Grundgesetzes als Abbild unserer politischen Überzeugungen kompatibel erscheint.
c) Der ideale Beobachter als Gesetzgeber
Rawls’ Konzeption liegt das Bild eines rationalen, im Sinne eines an seinen eigenen Interessen ausgerichteten Menschen zugrunde. Um diese Rationalität zu
»zähmen«, entwirft Rawls die Gedankenfigur eines Schleiers des Nichtwissens.
Sein idealer Abgeordneter befindet sich in einem Informationsdefizit und ist deshalb zu einer objektiven Betrachtungsweise fähig. Entwirft Rawls damit nicht das
Bild einer Elite als Gesetzgeber? Wird der Abgeordnete durch den Schleier des
Nichtwissens nicht zu dem idealen Beobachter, der in den utilitaristischen Theorien eine zentrale Rolle spielt?
761 Vgl. Darwall, A Defense of the Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999,
Volume 2, 220, 223.
762 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 96.
763 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
Politischen Liberalismus, 1994, 80, 105.
764 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 97.
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Stimmen in der philosophischen Literatur bejahen eine Ähnlichkeit von Rawls’
Annahmen und der »Ideal Observer Theory«.765 Es wird eine Nähe zwischen dem
Schleier des Nichtwissens und dem klassischen Utilitarismus gesehen.766 Sowohl
den fiktiven Entscheidungsträgern in Rawls’ idealer Theorie als auch dem neutralen Beobachter fehle eine menschliche Personalität.767
Beide Argumentationsfiguren zielen auf eine Veränderung der Perspektive ab.
Der unparteiische Beobachter schaut von außen auf die Bedürfnisse der einzelnen
Menschen; als idealer Gesetzgeber stellt er eine Kosten-Nutzen-Bilanz auf. Auch
der Schleier des Nichtwissens bewirkt, dass die Parteien ihre Situation »aus der
Ferne« betrachten können. Zum Zeitpunkt der Entscheidung wissen sie nur, dass
es verschiedene mögliche Einzelinteressen geben kann. Indem sie ihre konkrete
Position nicht kennen, werden sie ebenfalls gezwungen, eine Form der Bilanz
aller denkbaren verschiedenen Positionen zu erstellen.
aa) Gesetzgebung und moralische Grundannahmen
Die Beschreibung von Schleier und unparteilichem Beobachter führt zu der
Frage, welche Motive beziehungsweise welche moralischen Gefühle der ideale
Gesetzgeber besitzen sollte. Hier bestehen zwischen der klassischen utilitaristischen Sichtweise und der Konzeption von Rawls wesentliche Unterschiede.
Der unparteiische Beobachter als Gesetzgeber zeichnet sich durch sein Mitgefühl gegenüber anderen Menschen aus. Moralische Entscheidungen der Menschen werden durch Selbstliebe und Mitgefühl geprägt. Diese Eigenschaft der
Menschen spiegelt sich auch bei der Gesetzgebung wider. John Stuart Mill fordert
sogar weitergehend, dass der Gesetzgeber altruistisch handeln müsse. Insgesamt
werden der Figur eines neutralen Beobachters besondere moralische Fähigkeiten
zugeschrieben.
Dagegen ist nach Rawls das Mitgefühl als eine ausgesprochene Fähigkeit, sich
in andere hineinzuversetzen, verhältnismäßig selten bei Menschen vorhanden. Es
bildet für ihn nur eine schwache und deshalb nicht geeignete Grundlage für die
Grundstruktur einer Gesellschaft.768 Liebe und Altruismus sind für Rawls nur
Begriffe zweiter Ordnung; sie werden erst dann entscheidend, wenn mit den
Gerechtigkeitsgrundsätzen schon ein Rahmen für eine gerechte Grundstruktur
der Gesellschaft besteht.769
Rawls’ Parteien im Urzustand besitzen »nur« folgende Eigenschaften: Sie sind
aneinander desinteressiert, handeln rational und besitzen einen Gerechtigkeits-
765 Vgl. Hare, Rawls’ Theory of Justice in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 81, 87, Scheffler,
Rawls und Utilitarianism, in: Freeman, The Cambridge Companion to Rawls, 2003, 426,
428.
766 Vgl. Hare, Rawls’ Theory of Justice in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 81, 91.
767 Vgl. Goldman, Rawls and Utilitarianism, in: Blocker/Smith, 1980, 346, 363.
768 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 76, 543.
769 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 30, 218.
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sinn. Wie schon aufgezeigt, will Rawls dem Urzustand keine besondere Theorie
der menschlichen Motivation zugrunde legen. Diese Ausgangssituation soll sich
nur durch leicht zu akzeptierende, schwache Bedingungen auszeichnen.770 Was ist
jedoch der Unterschied zwischen der Vorstellung, dass Menschen ein ausgeprägtes Mitgefühl besitzen, und der Annahme, dass sie von einem Gerechtigkeitssinn
geleitet werden? Rawls betont, dass es sich bei dem Gerechtigkeitssinn seiner
Parteien um eine »formale« Eigenschaft handelt. Der Gerechtigkeitssinn beinhaltet für ihn allein, dass die Parteien alles Wesentliche beachten und sich an die
schließlich beschlossenen Grundsätze halten.771 Die Menschenliebe ist dagegen
umfassender, sie führt zu selbstlosen Handlungen. Einen solchen Altruismus will
Rawls seinen Parteien nicht unterstellen.772 Der Gerechtigkeitssinn sichert innerhalb seiner Konzeption lediglich ab, dass die gefundenen Regeln auch beachtet
werden.
Diese Ausführungen von Rawls beziehen sich auf die Parteien des Urzustandes. Zu etwaigen moralischen Fähigkeiten der Abgeordneten äußert er sich,
soweit ersichtlich, nicht. Dieser Befund spricht dafür, dass seine Einschätzung für
den gesamten Vier-Stufen-Gang Geltung entfaltet. Auch der einzelne Abgeordnete besitzt demnach nur einen formalen Gerechtigkeitssinn; ihm wird kein
besonderes Mitgefühl, keine altruistische Grundhaltung unterstellt.
Nach Ansicht von Rawls gelangen seine Konzeption und der Utilitarismus auf
unterschiedlichen Wegen zum gleichen Ziel. Die Utilitaristen erschaffen einen
neutralen Beobachter, indem sie in der Person des Gesetzgebers vollständiges
Wissen mit Altruismus oder zumindest Mitgefühl verbinden. Eine solche neutrale
Entscheidungssituation wird in der Konzeption von Rawls hingegen durch den
Schleier des Nichtwissens, kombiniert mit Desinteresse, garantiert.773
Doch ist die Differenz zwischen der utilitaristischen Konstruktion und dem
Schleier des Nichtwissens wirklich so groß? Rawls würde dies wohl bejahen. Er
sieht in dem Schleier des Nichtwissens eine natürliche, eine schwache Verfahrensbedingung.774
Wie wir jedoch soeben gesehen haben, besitzt der Schleier mit dem kategorischen Imperativ eine moralische »Wurzel«. Oder noch zugespitzter formuliert:
Der Schleier ist eine Verfahrensbedingung, durch die eine bestimmte moralische
Vorstellung Eingang in die Rawlssche Konzeption findet. Der Unterschied zwischen der Theorie von Rawls und dem klassischen Utilitarismus besteht nicht
darin, dass moralische Grundannahmen das Bild einer idealen Gesetzgebung
beeinflussen. Hier ist Rawls sogar vorzuwerfen, dass er die Funktion des Schleiers zumindest in seinem Grundwerk nicht offen genug darlegt.
Der wesentliche Unterschied besteht vielmehr darin, welche konkreten moralischen Vorstellungen Eingang finden. Der Schleier des Nichtwissens schaltet
770 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 152.
771 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 169.
772 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 30, 219.
773 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 30, 214.
774 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
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zwar die persönlichen Interessen aus. Gleichzeitig – auch wenn dies paradox klingen mag – schützt er dadurch aber die verschiedenen Lebenspläne. Rawls setzt
die Verfahrensbedingung des Schleiers im Hinblick auf eine moderne pluralistische Gesellschaft ein. Er geht davon aus, dass die Menschen unterschiedliche
Lebenspläne und Ziele verfolgen. Damit die Positionen von Minderheiten nicht
von vornherein kein Gewicht besitzen, blendet er mit dem Schleier die verschiedenen persönlichen Standpunkte aller Menschen aus. Rawls betont folglich die
Pluralität der Individuen.775 Über den Schleier des Nichtwissens gelangen Egalitarismus und Individualismus in seine Konzeption. Die verschiedenen Lebenspläne der Menschen werden von Rawls als gleichwertig, als gleich schützenswert
eingeordnet.
Auf den ersten Blick nehmen auch die klassischen Utilitaristen den Gleichheitsgedanken in ihre Überlegungen auf. Für sie sind die Menschen insofern
gleich, als sie dasselbe Recht auf Glück haben.776 Der Gesetzgeber soll die Auswirkungen von Gesetzen auf alle Betroffenen berücksichtigen. Jede dieser Auswirkungen soll in die Bilanz eingehen. Das Nützlichkeitsprinzip limitiert jedoch
diesen egalitaristischen Ansatz des Utilitarismus. Anders als in der Konzeption
von Rawls besitzt die Individualität der Menschen keine zentrale Bedeutung.
Denn wenn die Entscheidung den Vorrang verdienen soll, die den Gesamtnutzen
maximiert, so verschwinden die jeweiligen Einzelinteressen der Individuen in der
kollektiven Summierung.777 Einzelne Personen und das Maß individuellen
Glücks sind für den Utilitaristen nur von instrumenteller Bedeutung.778
Der Schleier des Nichtwissens spiegelt hingegen die moralische Grundhaltung
wider, dass die Individualität jedes Menschen einen eigenen Wert besitzt. Gerade
dadurch, dass der Schleier des Nichtwissens den Interessenkampf der Abgeordneten in einen Informationsaustausch verändert, entstehen Gesetze, die nicht einseitig an Lobby-Interessen orientiert sind. Der Utilitarismus dagegen geht mit der
Person des neutralen Beobachters einen anderen Weg. Dieser beurteilt die einzelnen Pläne der Menschen zwar ebenfalls unparteiisch. Er gewichtet sie jedoch im
Hinblick auf ein übergeordnetes Ziel der Gesellschaft: Nutzenmaximierung. Die
Einheit der sozialen Struktur steht bei dieser Gedankenfigur viel stärker im Vordergrund.779 Welche dieser beiden Grundhaltungen in größerem Maß mit der
Gesetzgebung unter dem Grundgesetz kompatibel erscheint, wird vertieft an späterer Stelle diskutiert.
775 Vgl. Proudfoot, Rawls on the Individual and the Social, in: Richardson/Weithman, 1999,
Volume 4, 195, 196.
776 Vgl. Köhler, Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik, 1979, 8. Bentham,
IPML, 282: » Ethics at large may be defined, the art of directing men´s actions to the production of the greatest possible quantity of happiness, on the part of those, whose interest
is in view«.
777 Vgl. v. der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 340.
778 Vgl. Hart, Natural Rights: Bentham and John Stuart Mill, Essays on Bentham, 1982, 79,
99; Sen/Williams, Utilitarianism and Beyond, 1982, Introduction, 1, 19.
779 Vgl. Proudfoot, Rawls on the Individual and the Social, in: Richardson/Weithman, 1999,
Volume 4, 195, 196.
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bb) Gesetzgebung und Folgenbetrachtung
Die Kritik am Maßstäbe-Urteil bietet schließlich Anlass dafür, Rawls’ Konzeption im Hinblick auf einen anderen Gesichtspunkt mit dem klassischen Utilitarismus zu vergleichen. Stimmen in der Literatur sahen in dem Rückgriff auf den
Schleier ein legislatives Ignoranzgebot. Dem Gesetzgeber werde jede Form der
Folgenbetrachtung untersagt, was verfassungswidrig sei.780 Fraglich ist, ob diese
Kritik am Schleier des Nichtwissens wirklich zutrifft. Zeigt Rawls ein Bild der
Gesetzgebung auf, das Folgeüberlegungen nicht zulässt? Ist der Gedanke einer
Gesetzgebung, die konsequentialistische Überlegungen vornimmt, genuin vom
klassischen Utilitarismus geprägt? Zusammengefasst: Sind Utilitarismus und Gerechtigkeit als Fairness im Hinblick auf die Figur der Folgenbetrachtung gegenläufige Konzeptionen?
Auch an dieser Stelle der Untersuchung wird als Vertreter des klassischen Utilitarismus Jeremy Bentham hervorgehoben. In dessen Gesetzgebungslehre ist
eine Folgenbetrachtung angelegt. Der Gesetzgeber soll die Konsequenzen möglicher Handlungen berücksichtigen.781 Um den Gesamtnutzen eines Gesetzes zu
berechnen, ist es für den Gesetzgeber entscheidend, die denkbaren Auswirkungen
in seine Überlegungen einzubeziehen. Bei der Folgenbetrachtung, die in der
öffentlich-rechtlichen Dogmatik zunehmend diskutiert wird,782 handelt es sich
folglich um eine Figur, die für eine utilitaristische Gesetzgebungslehre charakteristisch zu sein scheint.783
Rawls will mit seiner Theorie Gerechtigkeit als Fairness ausdrücklich eine
Gegenkonzeption zum klassischen Utilitarismus entwerfen. Bedeutet dies, dass
er eine ideale Gesetzgebung beschreibt, die durch den Schleier des Nichtwissens
bewusst keine Folgenbetrachtung zulässt?
An dieser Stelle müssen zuerst Rawls’ eigene Ausführungen und die Aussagen
des Bundesverfassungsgerichts im Maßstäbe-Urteil unterschieden werden. In
dem Maßstäbe-Urteil greift das Gericht die Figur des Schleiers auf und setzt sie
780 Vgl. Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität,
Transparenz und Politik, NVwZ 2000, 841 ff.
781 Vgl. Bentham, The Theory of Legislation, Chapter XIII, 87: »Of two opposite methods of
action, do you desire to know which should have the preference? Calculate their effects
in good and evil, and prefer that, which promises the greater sum of good«.
782 Die Menge der Beiträge zum Bereich »Folgenabwägung« hat in den letzten Jahren stark
zugenommen. Nicht nur von der Judikative, sondern auch von der Legislative wird zunehmend eine Folgenbetrachtung verlangt. Vgl. Bussmann, Rechtliche Anforderungen an die
Qualität der Gesetzesfolgenabschätzung?, ZG 1998, 127 ff.; Deckert, Zur Methodik der
Folgenantizipation in der Gesetzgebung, ZG 1995, 240 ff.; Edinger, Folgenabschätzung
und Evaluation von Gesetzen, ZG 2004, 149 ff.; Hadamek, Gesetzesfolgenabschätzung –
auch eine Sache des Parlaments, ZG 2001, 382 ff.
Das Institut der Folgenbetrachtung wird insbesondere auch in aktuellen Beiträgen zu möglichen Wegen besserer Gesetzgebung thematisiert. Vgl. Blum, NJW 2004 Beilage zu Heft
27 / 2004, 45, 52; Ennuschat, DVBl. 2004, 986, 990; Redeker, ZRP 2004, 160, 162; Schulze
– Fielitz, JZ 2004, 862, 867.
783 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2001, § 76, 605 ff.
197
auf eine bestimmte Art und Weise in die Wirklichkeit um beziehungsweise integriert sie in den Gesetzgebungsprozess. Um mit Rawls’ Begrifflichkeiten zu sprechen: Das Gericht greift den Schleier des Nichtwissens als Teil einer idealen
Theorie auf und wendet diesen auf die Wirklichkeit an.784 Es entwickelt folglich
eine eigene nichtideale Theorie und versucht, die Figur des Schleiers möglichst
umfassend in das Gesetzgebungsverfahren zu integrieren. Hierzu muss es diese
Figur jedoch notwendigerweise modifizieren. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts wird an diesem Punkt der Untersuchung noch nicht vertieft
betrachtet, sondern dies erfolgt erst im sechsten Teil der Arbeit. Wichtig ist
jedoch, sich vor Augen zu führen, dass Rawls’ Bild einer idealen Gesetzgebung
nicht mit den Ausführungen des Gerichts vermischt werden darf. Es ist vielmehr
genau zu untersuchen, ob Rawls’ Konzeption selbst ein Verbot der Folgenbetrachtung enthält oder ob dieses durch die Art und Weise entsteht, wie das Bundesverfassungsgericht den Schleier des Nichtwissens versteht und umsetzt.
Der Vier-Stufen-Gang enthält kein legislatives Ignoranzgebot. Der Schleier
des Nichtwissens schließt nicht aus, über die Auswirkungen möglicher Gesetze
nachzudenken. Diese Gedankenfigur versucht, Wissen und Interesse zu trennen.
Rawls möchte die individuellen Konzeptionen des Guten ausblenden, die Abgeordneten sollen keine Kenntnisse über ihre besonderen Interessen besitzen. Nicht
beschränkt dagegen ist ihr Faktenwissen. Anders als im Urzustand haben sie ein
Wissen über die notwendigen allgemeinen Tatsachen ihrer konkreten Gesellschaft.785 Der Schleier des Nichtwissens wirkt folglich allein auf die persönlichen
Kenntnisse, auf die individuellen Interessen ein. Indem er diese ausblendet,
schließt er jedoch nicht automatisch jede Folgenbetrachtung aus. Rawls’ Ziel ist
es vielmehr, die Art und Weise der Folgenbetrachtung zu verändern. Er möchte
diesen Vorgang »entindividualisieren«. Jeder Abgeordnete soll die Konsequenzen eines Gesetzes nicht nur aus seiner eigenen Perspektive, sondern aus verschiedensten Perspektiven betrachten. Der Schleier des Nichtwissens zwingt die
Menschen im Rahmen der Entscheidungssituation zu Perspektivwechseln. Da sie
ihre eigene gesellschaftliche Position nicht kennen, müssen sie eine Übereinkunft
treffen, die aus jeder gesellschaftlichen Stellung heraus akzeptabel erscheint.
Dies bedeutet jedoch, dass Rawls mit dem Schleier des Nichtwissens allein die
Art und Weise der Folgenbetrachtung beeinflusst. Er entzieht den Abgeordneten
einen festen Standpunkt und verlangt von ihnen, aus verschiedenen Blickrichtungen auf die Konsequenzen des Gesetzes zu schauen.
Die Wirkungsweise des Schleiers darf nicht pauschalisiert werden. Sie besteht
nicht darin, dass Menschen ohne jegliches Wissen grundlegende Entscheidungen
treffen sollen. Insoweit ist die deutsche Übersetzung mit«…des Nichtwissens«
irreführend. Rawls unterscheidet verschiedene Arten von Wissen und sieht lediglich das Wissen um sich selbst als problematisch an. Er will das persönliche Inter-
784 Die Ausführungen des Gerichts ebenfalls derart verstehend Blum, Gutachten, in: Verhandlungen des fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten), München 2004, I 6.
785 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225.
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esse ausblenden, nicht um eine Folgenbetrachtung zu verhindern, sondern um
diese zu verbessern. Er entwirft das Bild einer idealen Gesetzgebung, in dem die
Abgeordneten die Auswirkungen möglicher Gesetze nicht länger einseitig
betrachten. Rawls kann entgegen gehalten werden, dass sich Wissen und Interesse
nicht derart auftrennen lassen. Dieser Vorwurf der Literatur wurde an anderer
Stelle bereits angesprochen.786 Rawls könnte dieser Kritik entgegnen, dass er
lediglich eine ideale Theorie entwirft. Die von ihm beschriebene Wirkungsweise
des Schleiers hat nur Leitbildcharakter. An keiner Stelle seiner Theorie geht er
davon aus, dass diese Gedankenfigur vollständig in die Wirklichkeit umgesetzt
werden könnte.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Rawls’ eigene Konzeption enthält kein pauschales Verbot der Folgenbetrachtung. Der Schleier des Nichtwissens verändert allein
den Standpunkt, von dem aus derartige Überlegungen erfolgen können. Er stellt
ein Instrument dar, mit dem Rawls versucht, eine Distanz zum persönlichen Interesse herzustellen. Ohne an dieser Stelle vertieft auf die umfassende Diskussion
zur Folgenbetrachtung eingehen zu wollen: In der Literatur werden prospektive,
begleitende und retrospektive Gesetzesfolgenabschätzungen unterschieden.787
Die prospektive Gesetzesfolgenabschätzung setzt bereits im Planungsstadium
eines Gesetzesvorhabens ein. Durch Planspiele beziehungsweise Simulationen
sollen verschiedene Regelungsalternativen erkannt, untersucht und auf ihre Eignung überprüft werden.788 Dieses Verständnis von Gesetzesfolgenabschätzung
weist jedoch eine verblüffende Ähnlichkeit zu Rawls’ Konzeption auf. Mit dem
Vier-Stufen-Gang beschreibt er eine fiktive Gesetzgebung, in der die Abgeordneten unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Auch Rawls entwirft ein »Planspiel«, das lediglich eine besondere Akzentsetzung besitzt: Er möchte den Gedanken der Fairness in die Gesetzgebung integrieren. Deshalb blendet der Schleier
des Nichtwissens die Konzeptionen des Guten aus und bewirkt eine Distanz zu
persönlichen Interessen.
Worin unterscheidet sich Rawls’ Konzeption also von den bisherigen Ansätzen
in der politischen Philosophie? Rawls selbst würde vielleicht antworten, dass er
gerade keine umfassende Konzeption für die Gesetzgebung entwirft. Er
beschreibt aus seiner Sicht eine Arbeitsweise der Institution Parlament, die alle
Menschen als gerecht empfinden, unabhängig davon, welche individuellen
Ansichten sie vertreten. Entkoppelt Rawls damit die Gesetzgebung als Teilaufgabe des Staates völlig von moralischen Ansprüchen? Fordert er allein einen prozeduralen Rahmen, innerhalb dessen Gesetze entstehen und der eine Neutralität
besitzt?
Hiergegen spricht, dass der Schleier des Nichtwissens selbst eine moralische
Grundhaltung »transportiert«. An dieser Stelle ist Onora O´Neill zuzustimmen,
die aufzeigt, dass der Schleier des Nichtwissens nicht nur von dem moralischen
786 Vgl. 3. Teil, I, 3., a), bb).
787 Vgl. Blum, NJW 2004 Beilage zu Heft 27 / 2004, Ennuschat, DVBl. 2004, 986, 992; 45,
48; Schulze – Fielitz, JZ 2004, 862, 868 alle mit umfassenden Nachweisen.
788 Vgl. Ennuschat, DVBl. 2004, 986, 992.
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Interesse der Entscheidungsträger abstrahiert, sondern selbst eine Idealisierung
darstellt.789 Der Schleier beinhaltet ein Ideal der Fairness. Dieses knüpft an Kants
kategorischen Imperativ als ein Grundprinzip für rechtliches und moralisches
Handeln an. Rawls entwirft eine fiktive Verfahrensbedingung, die den Gesetzgeber zu sittlichem Handeln zwingt. Der Anspruch an die ideale Gesetzgebung
besteht darin, dass Entscheidungen verallgemeinerungsfähig sein müssen. Der
Schleier des Nichtwissens zwingt die fiktiven Abgeordneten, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Als Ideal verkörpert die Bedingung »Schleier« folglich
den Gedanken des Egalitarismus. Rawls verdeutlicht mit dem Vier-Stufen-Gang,
dass die verschiedenen Lebenspläne der Gesellschaftsmitglieder in den Gesetzgebungsprozess gleichberechtigt eingehen sollen.
Durch den Schleier des Nichtwissens sind Rawls’ Ausführungen zur Gesetzgebung nicht »neutral«. Er führt in seinen Folgewerken aus, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze substantiell seien und mehr als bloße prozedurale Werte repräsentierten.790 Selbst wenn der politische Liberalismus eine gemeinsame Basis
suche und gegenüber Zielen neutral ist, betont Rawls, dass er dennoch die Überlegenheit bestimmter Formen des moralischen Charakters anerkennen und
bestimmte moralische Tugenden fördern könne. Zur Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness gehöre ein bestimmtes Verständnis politischer Tugenden.791
Der Schleier des Nichtwissens ist somit wesentlich mehr als eine äußere Verfahrensbedingung. Er bildet eine entscheidende politische Tugend ab: die Fähigkeit, sich von seinen eigenen Interessen zu distanzieren. Rawls’ Bild der Gesetzgebung ist wie seine gesamte Gerechtigkeitskonzeption prozedural und inhaltlich
zugleich.
789 Vgl. O´Neill, Tugend und Gerechtigkeit, 1996, 59, 65.
790 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 288.
791 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 291.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.