160
besitzt, seine Konzeption des Guten zu verändern, zu revidieren. Er besitzt schon
qua Person die Möglichkeit, sich von seinen früheren Lebensplänen zu distanzieren. Diese Fähigkeit wird durch den Schleier des Nichtwissens radikalisiert. Er
blendet die persönlichen Interessen und die persönliche Identität der Entscheidungsträger vollständig aus.
Allerdings könnte man in dieser Weiterentwicklung der Rawlschen Theorie
auch einen Rückschritt sehen. Mit der Idee des freien und gleichen Bürgers wird
der Urzustand stärker personalisiert. Der Schleier des Nichtwissens wird um ein
weiteres Ideal ergänzt. Überspitzt formuliert, verwässert Rawls hierdurch seine
Gerechtigkeitskonzeption. Denn die Faszination an dem Schleier des Nichtwissens kann gerade darin gesehen werden, dass er unsere politischen Vorstellungen
in eine bildhafte Verfahrensbedingung verwandelt. Indem Rawls die Fähigkeiten
der Person in seinen Folgewerken zu einem eigenständigen Baustein seiner Theorie erhebt, legt er, positiv betrachtet, die Grundlagen seiner Urzustandsbeschreibung deutlicher offen. Negativ gewandt verliert der Schleier seine zentrale Stellung in Rawls’ Konzeption und wird zu einer Verfahrensbedingung, die lediglich
die nunmehr im Vordergrund stehende Idee der Person ergänzt.
6. Konkurrenz: die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs
Der Schleier des Nichtwissens könnte in den Überarbeitungen einer Theorie der
Gerechtigkeit zudem auch von einer anderen Figur verdrängt worden sein. Denn
Rawls entwickelt innerhalb seiner Folgewerke einen weiteren neuen Baustein:
die Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs. Dieses Ideal wird zu einem Teil
seiner politischen Gerechtigkeitskonzeption.630 Es ist für ihn eine angemessene
Ergänzung für eine konstitutionelle Demokratie, deren Kultur von einer Pluralität
vernünftiger Lehren gekennzeichnet ist.631 In der Sekundärliteratur wird diese
Veränderung der Rawlsschen Theorie umfassend rezipiert.632 Zahlreiche Aufsätze
setzen sich kritisch mit dieser Figur auseinander, die oftmals als die wichtigste
Neuerung in Rawls’ späteren Schriften eingeordnet wird. 633
Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen drei Werke von Rawls. Die
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs beschreibt er ausführlich im Politischen
Liberalismus.634 Er hat diesen Bestandteil seiner politischen Konzeption dann in
630 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 313.
631 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 360.
632 Vgl. Baur, On Actualizing Public Reason, Fordham Law Review 2004, 2153 ff.; Freeman,
Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004, 2021 ff.; Thompson, Public Reason and Precluded Reasons, Fordham Law Review 2004, 2073 ff.; v. d.
Brink, Politischer Liberalismus und ziviler Perfektionismus, DZPhil 50 (2002), 907, 912.
633 Vgl. Ferrara, Öffentliche Vernunft und Normativität des Vernünftigen, DZPhil 50 (2002),
925, 926.
634 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 312 ff.
161
einem gesonderten Aufsatz überarbeitet und präzisiert.635 Schließlich enthält auch
sein letztes Werk Gerechtigkeit als Fairness einen eigenen Abschnitt über diese
Figur.636
Inhaltlich soll hier vor allem versucht werden, das Verhältnis zwischen »Idee
des öffentlichen Vernunftgebrauchs« und »Schleier des Nichtwissens« näher zu
bestimmen. Konkurrieren diese Figuren miteinander oder haben sie unterschiedliche Bezugspunkte? Die Beantwortung dieser Frage erscheint deshalb schwierig,
weil Rawls hierzu nicht ausdrücklich Stellung bezieht. Es fehlen Ausführungen
im Hinblick auf die Anordnung der beiden Bausteine »öffentlicher Vernunftgebrauch« und »Schleier«. Deshalb werden in einem ersten Schritt die Konturen der
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs aufgezeigt. Hierbei wird bei den einzelnen Aspekten ein Vergleich mit dem Schleier des Nichtwissens vorgenommen. In
einem zweiten Schritt ist abschließend zu diskutieren, inwieweit diese Folgeidee
tatsächlich im Widerspruch zum »Schleier« steht.
a) Anwendungsbereich öffentlicher Vernunftgebrauch
Bei der Figur des öffentlichen Vernunftgebrauchs kann zwischen persönlichem
und sachlichem Anwendungsbereich unterschieden werden.
Innerhalb des persönlichen Anwendungsbereichs differenziert Rawls genau:
Er unterscheidet als mögliche Adressaten den Bürger einerseits und den Inhaber
öffentlicher Ämter andererseits. Persönliche beziehungsweise private Überlegungen des Einzelnen unterliegen nicht dem öffentlichen Vernunftgebrauch. Die Idee
des öffentlichen Vernunftgebrauchs gilt für die einzelne Person nur dann, wenn
sie vor dem Forum der Öffentlichkeit politisch Stellung bezieht. Erfasst werden
dann jedoch nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch das Abstimmungsverhalten der Bürger in diesen Fragen.637 Dem öffentlichen Vernunftgebrauch unterliegen grundsätzlich die Inhaber öffentlicher Ämter. Er ist Richtschnur für: 1. Abgeordnete, wenn sie im Parlament sprechen. 2. Regierungen,
635 Vgl. Rawls, Nochmals: die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs, enthalten in Rawls,
Das Recht der Völker (im Original: The Law of peoples, with »The Idea of Public Reason
Revisited«), 2002, 165 ff.
636 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 144 ff.
637 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 315, 320 Rawls verweist in diesem Zusammenhang
auf Rousseaus Contrat Social. Seiner Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs liege eine
Auffassung vom Wählen zugrunde, die derjenigen Rousseaus ähnlich sei. Dieser sei der
Ansicht gewesen, dass wir mit der abgegebenen Stimme unserer Auffassung darüber Ausdruck verleihen, welche Alternative dem Gemeinwohl am besten diene. Innerhalb seines
Folgeaufsatzes »Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft« beschäftigt sich Rawls
intensiv mit der Frage, wie das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs durch Bürger verwirklicht werden kann, die keine Regierungsbeamten sind. Er untersucht dort vertieft die
Beziehungen von Bürgern untereinander innerhalb einer gerechten Gesellschaft. Vgl.
Rawls, Das Recht der Völker, 171 ff.
162
wenn sie öffentlich Stellung beziehen. 3. Richter, wenn sie ihre Urteile begründen.638
Insgesamt sind somit alle Personen zu einem besonderen Vernunftgebrauch
aufgefordert, die im weitesten Sinn in der Öffentlichkeit handeln. Rawls unterscheidet in seinen Folgewerken eine öffentliche von einer nicht öffentlichen
Sphäre;639 er sieht einerseits den Menschen als Privatperson und Individuum,
andererseits jedoch auch als Bürger und damit Teil einer Gesellschaft. Die Idee
des öffentlichen Vernunftgebrauchs wirkt auf die Menschen in ihrer Rolle als
Bürger ein.640 Für die vorliegende Arbeit ist entscheidend, dass Rawls vor allem
die Inhaber öffentlicher Ämter und damit die Arbeitsweise von Institutionen
bestimmten Prinzipien des Denkens und Schließens unterwirft.641
Insofern besteht eine Verbindungslinie zwischen dem Schleier des Nichtwissens und öffentlichem Vernunftgebrauch. Der Schleier findet ebenfalls in öffentlichen Entscheidungssituationen Anwendung, indem er bewirkt, dass die individuellen Lebenspläne der Entscheidungsträger ausgeblendet werden. Er garantiert
also, dass sich die Parteien im Urzustand und auch die Abgeordneten nicht von
ihren eigenen Konzeptionen des Guten ablenken lassen, sondern sich unvoreingenommen ihrer öffentlichen Aufgabe widmen. Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs knüpft an der gleichen Stelle an. Amtsträger und Bürger, die sich
in der öffentlichen Sphäre bewegen, unterliegen grundsätzlich den Regeln des
öffentlichen Vernunftgebrauchs. Die Verfahrensbedingung »Schleier« und die
Idee besitzen einen gleichermaßen begrenzten Anwendungsbereich. Rawls stellt
erhöhte Anforderungen für die Personen auf, die sich in der Sphäre des Öffentlichen bewegen. Er möchte mit beiden Figuren eine »Trennungslinie« zwischen
privaten Interessen und öffentlichem Auftreten ziehen. Insofern zeigt sich, dass
sowohl »Schleier« als auch »Vernunftgebrauch« das übergeordnete Ideal der
»Unparteilichkeit« abbilden.642
Im Hinblick auf den sachlichen Anwendungsbereich nimmt Rawls ebenfalls
eine Einschränkung vor. Der öffentliche Vernunftgebrauch gilt nicht für alle politischen Fragen, sondern bezieht sich nur auf wesentliche Verfassungsinhalte
beziehungsweise Fragen grundlegender Gerechtigkeit.643 Folglich unterliegt
638 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 316, 361; Rawls, Das Recht der Völker, 169.
639 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, § 26, 149; hierzu vertieft Audard, The Idea of »Free
Public Reason«, Ratio Juris 8 (1995), 15, 15; Brower, The Limits of Public Reason, Journal
of Philosophy, 1994, 5, 16; Freeman, Public Reasons and Political Justifications, Fordham
Law Review 2004, 2021, 2026 ff.
640 Vgl. Freeman, Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004,
2021, 2029; Lehning, The Idea of Public Reason: Can it fulfill its task? Ratio Juris 8 (1995),
30, 33.
641 Vgl. Thompson, Public Reason and Precluded Reasons, Fordham Law Review 2004, 2073,
2077, der betont, dass sich das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs in erster Linie an
Organwalter beziehungsweise Institutionen richtet, die bindende Entscheidungen treffen.
642 Vgl. Audard, The Idea of »Free Public Reason«, Ratio Juris 8 (1995), 15, 15.
643 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 314, 315; Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 147.
Farrely, Public Reason, Neutrality and Civic Virtues, Ratio Juris 12 (1999), 11, 13.
163
nicht die gesamte Gesetzgebung dieser Idee. Nur diejenige Arbeit der Legislative,
die sich mit wesentlichen Verfassungsinhalten und Fragen grundlegender
Gerechtigkeit beschäftigt, unterfällt den Anforderungen, die Rawls an einen
öffentlichen Vernunftgebrauch stellt.644
Insofern besitzt der Schleier des Nichtwissens einen umfassenderen Anwendungsbereich. Er entfaltet für die gesamte Ebene der Gesetzgebung Wirkung,
während die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs nur Richtschnur für
bestimmte gesetzgeberische Vorhaben ist. Beide Figuren haben folglich nur eine
kleine gemeinsame Schnittmenge, innerhalb derer sie sich treffen können.
b) Inhalt öffentlicher Vernunftgebrauch
Zu untersuchen ist, welchen Inhalt Rawls dem Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs zuschreibt. Für ihn beinhaltet diese Vorstellung eine Pflicht zur Bürgerlichkeit.645 »Wir verpflichten uns mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch zu einer
bestimmten Form der öffentlichen Diskussion.«646 Bürger sollen in der Lage sein,
unter vernünftiger Abwägung öffentlicher politischer Werte zu begründen, wofür
sie in grundlegenden Angelegenheiten stimmen.647 Um die Anforderungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu erfüllen, müssen die Bürger versuchen, ihr politisches Handeln an Bedingungen auszurichten. Bei diesen Bedingungen handelt
es sich um Tugenden, die eine vernünftige öffentliche Diskussion ermöglichen.648
Es geht vor allem um die Bereitschaft, dem zuzuhören, was andere zu sagen haben, und vernünftige Änderungen der eigenen Auffassung zu akzeptieren.649 Politische Diskussionen über wesentliche Verfassungsinhalte sollen darauf abzielen, auf der Basis gemeinsamer politischer Werte freie Vereinbarungen zu treffen.
Wir sollen Argumente benutzen und Gründe anführen, die auch von anderen akzeptiert werden können.650 Rawls spricht hier von einem Kriterium der Reziprozität.651 Wir sollen nur Werte in Anspruch nehmen, die jeder Bürger billigen kann.
Durch die gemeinsamen Prinzipien und Werte einer Gerechtigkeitskonzeption
wird die Vernunft dann öffentlich.652
Speziell auf die Gesetzgebung und die Abgeordneten bezogen, stellt Rawls folgende Forderung auf: Die Abgeordneten müssen den Bürgern öffentliche Gründe
644 Vgl. hierzu Rawls, Politischer Liberalismus, 314, für den einige Bereiche der Gesetzgebung nicht von diesem Ideal beeinflusst werden. Er nennt als Beispiele einen Großteil der
Steuergesetzgebung, viele Gesetze zur Regulierung von Eigentumsfragen oder zum Schutz
der Umwelt.
645 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 362.
646 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 348.
647 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 348.
648 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 326, 361.
649 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 361.
650 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 185.
651 Vgl. Rawls, Recht der Völker, 171, 172.
652 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 75.
164
für sie betreffende Gesetze und politische Programme geben.653 Sie müssen die
Grundlagen für ihr Handeln so erklären, dass sie vernünftigerweise mit der
Zustimmung anderer rechnen können.654
Rawls’ Ausführungen können im Hinblick auf die Gesetzgebung derart interpretiert werden, dass er eine gesteigerte Begründungspflicht für bestimmte Entscheidungen fordert. Die Abgeordneten sollen ihre Entscheidungsgründe umfassend offen legen.
Die Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs zeichnet sich insgesamt
dadurch aus, dass sie ein bestimmtes Diskussionsverhalten einfordert. Die Teilnehmer an einer öffentlichen Entscheidung sollen einander die Gründe der von
ihnen befürworteten Maßnahmen erklären.655 Diese Form der Diskussion soll
dadurch etabliert werden, dass der Weg zur Entscheidung für die Öffentlichkeit
transparent gemacht wird. Es bestehen Richtlinien und Kriterien dafür, wie über
grundlegende Verfassungsinhalte diskutiert werden sollte. Diese helfen zu entscheiden, welche Informationen für politische Fragen relevant sind. Erst durch sie
werden öffentliche Untersuchungen wirklich frei und öffentlich. 656
Diese Ausführungen zeigen, dass Rawls sich in seinen späteren Werken intensiv mit der Rechtfertigung politischer Entscheidungen beschäftigt hat.657 Der
Schleier des Nichtwissens als Gedankenexperiment richtet sich zwar auch an den
einzelnen Leser und damit Bürger einer Gesellschaft. Er soll sich in die Situation
eines fiktiven Abgeordneten versetzen und durch dieses Rollenspiel ein Idealbild
der Gesetzgebung erhalten. Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs besitzt
jedoch einen noch stärkeren Öffentlichkeitsbezug. Rawls führt aus, dass Amtsträger in einer wohlgeordneten Gesellschaft ihre Entscheidungen durch den Verweis auf allgemein akzeptierte Werte für die Öffentlichkeit begründen können.
Öffentliche Entscheidungen sollen nach Rawls’ Ansicht nicht durch Partikularinteressen, durch die umfassenden Überzeugungen der einzelnen Bürger dominiert werden. Entscheidungen können nur durch Gründe gerechtfertigt werden,
die über die Lebenspläne hinweg vernünftig erscheinen. Diesen Ansatz verfolgt
jedoch auch der Schleier des Nichtwissens. Er blendet die Interessen der Entscheidungsträger aus und garantiert dadurch einen Beschluss, der allein auf einer
objektiven Betrachtungsweise basiert.658 Beide Figuren knüpfen an die Vorstellung eines unparteilichen Entscheidungsträgers an.
Auch die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs verkörpert ein Ideal.659
Rawls führt ausdrücklich aus, dass eine solche Form der Entscheidungsfindung
und Begründung zu einer Idealvorstellung vom Bürger eines demokratischen Ver-
653 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 318.
654 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 318.
655 Vgl. Bohman, Öffentlicher Vernunftgebrauch, in: Apel/Kettner, Die eine Vernunft und die
vielen Rationalitäten, 1996, 266, 273.
656 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 325.
657 Vgl. Freeman, Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004,
2021, 2050.
658 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 320.
659 Vgl. Baur, On Actualizing Public Reason, Fordham Law Review 2004, 2153, 2153.
165
fassungsstaates gehört.660 Insoweit besteht ein Zusammenhang zwischen der Idee
des freien und gleichen Bürgers und seiner Forderung nach einem öffentlichen
Vernunftgebrauch.661
Wie bereits dargelegt wurde, ist der Schleier des Nichtwissens in Rawls’ Folgewerken die Verfahrensbedingung, die das Element des »Vernünftigen« garantiert. Rawls entwirft mit Hilfe des Schleiers eine ideale Entscheidungssituation,
in der das Eigeninteresse der Menschen hinter die Vernunft zurücktritt beziehungsweise durch sie eingerahmt wird. Auch er ist damit zentraler Bestandteil
einer Idealvorstellung. Der Schleier des Nichtwissens ist bei Rawls untrennbar
mit der Idee des Urzustandes verbunden. Insgesamt scheint folglich eine enge
Verwandtschaft zwischen »Schleier« und »öffentlichem Vernunftgebrauch« zu
bestehen.
Möglicherweise distanziert sich jedoch Rawls mit der Idee des öffentlichen
Vernunftgebrauchs gleichzeitig von seinem Schleier des Nichtwissens. Wie
bereits an anderer Stelle aufgezeigt, wurde die Wirkungsweise des Schleiers von
Jürgen Habermas als prominentem Vertreter der Diskurstheorie kritisiert. Mit der
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs scheint Rawls auf diese Anmerkungen
zu reagieren. In der Sekundärliteratur wird diskutiert, ob Rawls sich mit dieser
Figur an die Habermassche Diskurstheorie annähert.662 Denn er scheint mit der
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs eine Form des idealen Diskurses zu
beschreiben. Habermas hatte Rawls vorgeworfen, dass er mit dem Schleier des
Nichtwissens eine monologische Form des Universalisierungsgrundsatzes entwerfe. Er fordert stattdessen einen intersubjektiven Verständigungsprozess. Entscheidungen sollen aus Sicht von Habermas auf einer kooperativen Anstrengung
beruhen und im Ergebnis einen gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringen.663
Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs scheint genau diese Kritik aufzugreifen.664 Rawls beschreibt nunmehr eine ideale politische Diskussion, in der die
Teilnehmer im Hinblick auf die Gründe, die sie vorbringen dürfen, durch die Bindung an die öffentliche Vernunft eingeschränkt sind. Die Idee des öffentlichen
Vernunftgebrauchs bildet ebenfalls den Universalisierungsgedanken ab. Denn es
660 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 313.
661 Vgl. Baur, On Actualizing Public Reason, Fordham Law Review 2004, 2153, 2155.
662 Vgl. hierzu Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Zur
Idee des politischen Liberalismus, 1997, 169; Rawls, Erwiderung auf Habermas, in:
Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus, 1997, 196, und die umfangreiche Sekundärliteratur Baynes, The normative Grounds of social criticism. Kant, Rawls, and Habermas, 1992; Klitschelt, Moralisches Argumentieren und Sozialtheorie: Prozedurale Ethik
bei John Rawls und Jürgen Habermas, ARSP 1980, 391 ff.; McCarthy, Kantian Constructivism and Reconstructivism: Rawls and Habermas in Dialogue, Ethics 105 (1994), 44 ff.;
McMahon, Why there is no issue between Habermas and Rawls, The Journal of philosophy,
99 (2002), 111 ff.; Young, Towards a Critical Theory of Justice, in: Richardson/Weithman,
Volume 5, 1999, 295 ff.
663 Vgl. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1991, 77.
664 Vgl. Kersting; John Rawls, 2001, 185 Fussnote, der von einer »Diskursethisierung« beziehungsweise einer »Habermasianisierung« der Rawlsschen Theorie spricht.
166
dürfen nur Argumente angeführt werden, die auch von anderen akzeptiert werden
können. Rawls stellt hiermit eine Diskursregel auf, die den Schleier des Nichtwissens möglicherweise ersetzt, ihn auf andere Weise abbildet.
Ob es sich hierbei um eine bewusste Annäherung an die Diskurstheorien handelt, ist fraglich. Dem kann entgegen gehalten werden, dass sich auch in Rawls’
Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit Schleier und Kommunikation nicht
zwingend ausschließen. Auf der Ebene der Gesetzgebung geht Rawls vielmehr
davon aus, dass der Schleier des Nichtwissens allein eine ideal verlaufende Diskussion garantieren soll.665 An dieser Stelle der Gerechtigkeitstheorie entfaltet
Habermas´ am Urzustand orientierte Kritik keine Wirkung. Zudem sehen Rawls
und Habermas selbst weiterhin grundlegende Unterschiede zwischen ihren Konzeptionen. Rawls betont, dass es sich bei Habermas` Ausführungen um eine
umfassende Lehre handele, während er sich allein auf eine Theorie des Politischen beschränken wolle.666 Habermas hingegen bezweifelt, dass Rawls eine derart »neutrale« politische Theorie entwirft. Zudem betont er das Stufenverhältnis
zwischen Eine Theorie der Gerechtigkeit und dem Politischen Liberalismus.
Innerhalb seines Grundwerkes entwickele Rawls eine Gerechtigkeitskonzeption,
während sich sein Folgewerk und damit auch die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs vor allem mit der Frage beschäftige, wie die Stabilität einer derart
gerechten Gesellschaft erklärt werden könne.667 Die Einschätzung von Habermas
deutet darauf hin, dass Schleier des Nichtwissens und öffentlicher Vernunftgebrauch auf zwei verschiedenen Ebenen der Rawlsschen Theorie angesiedelt sind.
c) Herkunft der Regeln für den öffentlichen Vernunftgebrauch
Der Schleier des Nichtwissens ist in Rawls’ Grundwerk eine natürliche Bedingung des Urzustandes, die auch auf den Ebenen von Verfassungs- und einfacher
Gesetzgebung Wirkung entfaltet. Er führt diese Gedankenfigur auf Kants kategorischen Imperativ zurück.668 Auf welchem Weg gewinnt Rawls in seinen Folgewerken dann die Rahmenbedingungen für einen öffentlichen Vernunftgebrauch?
In der weiterentwickelten Theorie von Rawls wählen die Parteien im Urzustand
nicht nur die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze aus, sondern stellen zudem auch
Richtlinien des öffentlichen Vernunftgebrauchs auf. Diese sollen die Anwendung
der Gerechtigkeitsgrundsätze regeln. Inhalt der Richtlinien ist, dass die Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze nur von solchen Urteilen, Schlussfolgerungen, Gründen und Evidenzen geleitet werden darf, die vernünftigerweise mit Zu-
665 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 395.
666 Vgl. Rawls, John Rawls’ Erwiderung auf Habermas, in: Hinsch, Zur Idee des politischen
Liberalismus, 1997, 196, 197.
667 Vgl. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Zur Idee
des politischen Liberalismus, 1997, 169, 190, 191.
668 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159 Fussnote.
167
stimmung aller rechnen können.669 Dieser Teil der Urvereinbarung zeigt auf, welche Art von Information und Wissen bei der Erörterung politischer Fragen relevant ist.670 Gerechtigkeitsgrundsätze und Richtlinien des öffentlichen Vernunftgebrauchs ergänzen sich. Sie sind zusammengehörige Teile und werden in einer
einzigen Übereinkunft gewählt.671
Auch hier zeigt sich erneut die »Verwandtschaft« zwischen der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs und den Diskurstheorien. Die Parteien im Urzustand
beschließen Prinzipien des Argumentierens.672 Diese erinnern an selbst auferlegte
Diskursregeln. Gleichzeitig zeigt sich hier eine Differenz zum Schleier des Nichtwissens. Die Regeln für den öffentlichen Vernunftgebrauch werden im Urzustand
und damit unter dem Schleier des Nichtwissens beschlossen. Dies zeigt, dass der
Schleier Voraussetzung für die Begleitvereinbarung ist. Er scheint folglich der
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauches vorgeordnet. Die Herkunft der Regeln
könnte damit Habermas´ Einschätzung untermauern. Demnach befänden sich
Schleier des Nichtwissens und Urzustand auf zwei verschiedenen Ebenen der
Rawlsschen Konzeption.
d) Besondere Rolle des Verfassungsgerichts
Eine besondere Beziehung besteht für Rawls schließlich zwischen dem Ideal des
öffentlichen Vernunftgebrauchs und der Institution eines Verfassungsgerichts.
Das Verfassungsgericht eines Staates (im Hinblick auf die Vereinigten Staaten der
Supreme Court) wird für ihn durch seine besondere Rolle zur exemplarischen Instanz des öffentlichen Vernunftgebrauchs.673 Dieser Einschätzung liegt das Bild
eines Gerichts zugrunde, das autoritative Urteile in grundlegenden politischen
Fragen fällt.674
Aufgabe des Verfassungsgerichts ist es hierbei, zu verhindern, dass das höherrangige Recht durch zeitweilige Mehrheiten und organisierte Interessen
(=Lobby) ausgehöhlt wird.675 Es verleiht der öffentlichen Vernunft dadurch Wirksamkeit, dass es die bestmögliche Interpretation der Verfassung entwickelt und in
seinen Entscheidungen zum Ausdruck bringt.676 Verfassungsrichter dürfen sich
nicht auf ihre persönliche Moral berufen. Stattdessen müssen sie ihre Entscheidung anhand politischer Werte begründen. 677
669 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 327.
670 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 145.
671 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 328.
672 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 145.
673 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 316.
674 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 341, kritisch hierzu Bohman, Öffentlicher Vernunftgebrauch, in: Apel/Kettner, Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, 1996, 266,
277.
675 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 336.
676 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 339
677 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 340.
168
Rawls entwickelt folglich im Politischen Liberalismus ein neues Gedankenexperiment. Als Probe aufs Exempel, ob wir der öffentlichen Vernunft folgen oder
nicht, mögen wir uns von Fall zu Fall fragen, wie unsere Argumente erscheinen
würden, wenn sie in einem Verfassungsgerichtsurteil stünden.678
Wie kann dieses Gedankenexperiment in Rawls’ Gesamtkonzeption eingeordnet werden? Möglicherweise schließt Rawls eine Lücke seines Grundwerkes,
indem er sich vertieft mit Fragen der Rechtsanwendung auseinander setzt. Wie an
anderer Stelle ausgeführt, beschäftigte er sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit
nur kursorisch mit der Ebene der Rechtsanwendung im Einzelfall. Gleicht er
diese Schwäche nunmehr aus? In gewisser Weise ja, denn er gibt den Inhabern
von öffentlichen Ämtern ein Gedankenexperiment an die Hand, mit dessen Hilfe
sie erkennen können, ob sie die Gerechtigkeitsgrundsätze korrekt anwenden.679
Doch warum schlägt er ihnen nicht vor, sich hinter einen fiktiven Schleier des
Nichtwissens zu versetzen? Widerspricht sich Rawls nicht, wenn er einerseits die
Notwendigkeit eines Schleiers auf der letzten Ebene der Rechtsanwendung
ablehnt, aber andererseits ein Gedankenexperiment einführt, mit dessen Hilfe
einzelne Personen ihre Argumentation überprüfen sollen?
e) Öffentlicher Vernunftgebrauch versus Schleier
Welches Verhältnis besteht also zwischen dem Schleier des Nichtwissens und öffentlichem Vernunftgebrauch? Aus den bisherigen Ausführungen scheint sich zu
ergeben, dass diese Figuren auf verschiedenen Ebenen der Rawlsschen Theorie
liegen und deshalb nicht miteinander in Konkurrenz stehen. Für ein solches Verständnis spricht, dass Rawls sich in seinem Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit und seinen Folgewerken mit unterschiedlichen Fragestellungen auseinander setzt. Stimmen in der Literatur, wie beispielsweise Habermas, ordnen sein
Gesamtwerk als eine zweistufige Gerechtigkeitstheorie ein. Auf einer ersten
Stufe entwickele Rawls eine Gerechtigkeitstheorie mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen als zentralen Maßstäben. Auf einer zweiten Stufe setze er sich dann mit der
Anwendung dieser Grundsätze auseinander und versuche, die Frage zu beantworten, wie eine derart gerechte Gesellschaft dauerhaft bestehen kann.680
678 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 362; Dworkin, Rawls and the Law, Fordham Law
Review 1387 ff. Rawls nähert sich hiermit den Überlegungen von Ronald Dworkin an, der
sich den Supreme Court ebenfalls als ein »forum of principle« wünscht. Vgl. Dworkin, A
Matter of Principle, 1986, 69; Audard, The Idea of »Free Public Reason«, Ratio Juris 8
(1995), 15, 17. Einen Vergleich der Grundpositionen von Rawls und Dworkin nimmt Wilkes vor: John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit und Ronald Dworkin, These der Rechte,
1997.
679 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 361.
680 Vgl. Audard, The Idea of »Free Public Reason«, Ratio Juris 8 (1995), 15, 17; McCarthy,
Kantian Constructivism and Reconstructivism: Rawls and Habermas in Dialogue, Ethics
105 (1994), 44, 53; Lehning, The Idea of Public Reason: Can it fulfill its task? Ratio Juris
8 (1995), 30, 34.
169
Kann jedoch eine solche Betrachtung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie
tatsächlich das unklare Verhältnis zwischen dem Schleier des Nichtwissens und
der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs auflösen? Nach Meinung der Verfasserin kann mit Hilfe eines solchen Verständnisses der Anwendungsbereich dieser
Figuren nicht in allen Konstellationen genau bestimmt werden. Gerade in dem für
die vorliegende Arbeit relevanten Bereich der idealen Gesetzgebung bleibt die
Beziehung dieser »Bausteine« der Rawlsschen Theorie unklar.
aa) Abgrenzung auf der Ebene Urzustand
Auf der Ebene des Urzustandes bereitet die Abgrenzung von Schleier des Nichtwissens und öffentlichem Vernunftgebrauch keine Probleme. Hier lässt sich das
Verhältnis der Bausteine zueinander mit dem Gedanken der »Zweistufigkeit« abbilden. Der Schleier des Nichtwissens ist gegenüber der Idee des öffentlichen
Vernunftgebrauchs vorrangig, denn durch erstere Gedankenfigur wird die fiktive
Entscheidungssituation erst geschaffen. Der Schleier ist Voraussetzung dafür,
dass die Gerechtigkeitsgrundsätze und die Richtlinien für den öffentlichen Vernunftgebrauch beschlossen werden können. Er garantiert die notwendige Unparteilichkeit, um eine derartige Grundstruktur für eine Gesellschaft zu schaffen.
bb) Abgrenzung auf der Ebene Rechtsanwendung im Einzelfall
Auch auf der Ebene der Rechtsanwendung im Einzelfall geraten die Figuren
»Schleier« und »öffentlicher Vernunftgebrauch« grundsätzlich nicht in Konflikt.
Denn in seiner Theorie der Gerechtigkeit hatte Rawls ausgeführt, dass die Kenntnisse auf dieser Stufe nicht mehr durch den Schleier des Nichtwissens beschränkt
werden. Es besteht hier ein Regelsystem, das auf die Menschen gemäß ihren Eigenschaften und Verhältnissen angewendet wird.681 Rawls hat sich in seinem
Grundwerk insgesamt nicht vertieft mit dieser Entscheidungsebene auseinander
gesetzt. Wie soeben schon angedeutet, tut sich hier jedoch ein möglicher Widerspruch zwischen seinem Grundwerk und seinen Folgewerken auf. Warum soll der
einzelne Richter nicht unter einem fiktiven Schleier des Nichtwissens entscheiden, aber an die Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs gebunden sein? Wie
wir gesehen haben, bilden beide Figuren letztlich den Universalierungsgedanken
beziehungsweise das Ideal der Unparteilichkeit ab.
Wichtig erscheint allerdings, dass sie dieses Ideal in verschiedener Form verkörpern. Der Schleier des Nichtwissens stellt eine radikale Ausprägung des Universalisierungsgrundsatzes dar. Er garantiert einen umfassenden Rollentausch,
der nach Rawls’ Konzeption notwendig ist, um gerechte Grundentscheidungen
für die Gesellschaft zu treffen. Denn der Beschluss über die Gerechtigkeitsgrund-
681 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 228.
170
sätze wirkt sich auf die gesamte Grundstruktur der Gerechtigkeit aus und hat deshalb tief greifende Auswirkungen für jeden einzelnen Bürger.
Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs stellt hingegen eine abgeschwächte Form des Universalierungsgedankens dar. Öffentlicher Vernunftgebrauch bedeutet nach Rawls, dass wir aufrichtig glauben, die von uns für vernünftig gehaltenen Abwägungen politischer Werte könnten auch von anderen als vernünftig anerkannt werden. Es handelt sich um eine Bereitschaft des Einzelnen,
dem zuzuhören, was andere zu sagen haben, und vernünftige Änderungen und
Anpassungen der eigenen Auffassungen zu akzeptieren. Rawls betont, dass die
Grenzen des Vernunftgebrauchs keine rechtlichen oder gesetzlichen Grenzen
sind, sondern ein Ideal, das wir achten. 682 Es handelt sich um einen Anspruch, der
nicht für die Begründung der gerechten Gesellschaft, sondern für deren Stabilität
Wirkung entfaltet.
Rawls beschäftigt sich in seinen Folgewerken vermehrt mit der Anwendung
der Gerechtigkeitsgrundsätze und damit auch der Anwendung von Regeln im Einzelfall. In diesem Bereich nähert er sich tatsächlich den Diskurstheorien an. Er
beschäftigt sich anders als in Eine Theorie der Gerechtigkeit mit der Stabilität
einer gerechten Gesellschaft und sieht, dass diese auf der Einstellung des einzelnen Bürgers und dem verantwortungsvollen Handeln der Amtsträger basiert. Eine
solche Einstellung kann eventuell besser mit einem »weichen« Appell an das
Ideal eines demokratischen Bürgers683 als mit einem von außen auferlegten Informationsdefizit vermittelt werden.
cc) Abgrenzung auf der Ebene Gesetzgebung
Auf der Ebene der Gesetzgebung jedoch führt der Verweis auf die verschiedenen
Schwerpunkte in Rawls’ Werken nicht zu einem widerspruchsfreien Bild.
Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs geht davon aus, dass die Abgeordneten sich bei ihrer Diskussion an Richtlinien orientieren. Diese sollen garantieren, dass die öffentliche Debatte allein von politischen Werten bestimmt wird.
Die Abgeordneten trifft eine Begründungspflicht, sie müssen ihr Entscheidungsverhalten vor der Öffentlichkeit begründen. Diese Ausführungen lassen sich
jedoch nicht in Einklang mit dem Abschnitt zum Vier-Stufen-Gang in Eine Theorie der Gerechtigkeit bringen. Rawls führt dort aus, dass idealer Verfassungs- und
einfacher Gesetzgeber unter einem Schleier des Nichtwissens entscheiden sollen.
Wenn der Schleier den persönlichen Lebensplan des einzelnen Abgeordneten
ausblendet, ist dann nicht automatisch garantiert, dass sein Entscheidungsverhalten der öffentlichen Vernunft entspricht? Lässt nicht der Schleier des Nichtwissens die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs auf dieser Ebene überflüssig
werden? Wenn die fiktiven Abgeordneten keine Kenntnisse über die Konzeptio-
682 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 361.
683 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 361.
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nen der von ihnen vertretenen Personen haben, dann müssen sie doch automatisch
auf Argumente zurückgreifen, die allgemeine Anerkennung finden können. Der
Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren garantiert gerade eine vernünftige Diskussion. Er zwingt die Parteien zu einer sachlichen Auseinandersetzung. Sie haben kein Wissen über die umfassenden Lebenspläne der von ihnen
vertretenen Personen. Wieso ist dann noch ein Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs notwendig?
Stellt der Appell an die Tugend des Amtsträgers nicht sogar einen Rückschritt
dar? Der Schleier des Nichtwissens transportiert als eine Bedingung den Gedanken der Unparteilichkeit. Rawls gelingt es, eine Verfahrensregel zu entwickeln,
die uns den Universalisierungsgedanken bildhaft vor Augen führt. Der öffentliche Vernunftgebrauch hingegen scheint eine Tugend der Handelnden vorauszusetzen. Er verlangt eine Bereitschaft, sich bei der Diskussion an Richtlinien zu
halten. Damit stellt Rawls anders als in seinem Grundwerk ausdrücklich moralische Anforderungen an die Abgeordneten auf. Der Schleier des Nichtwissens
dagegen zeigte gerade, dass Rawls seinen Abgeordneten, seinem Gesetzgeber
keine solche »moralische Grundhaltung« zugeschrieben hatte. Der Schleier des
Nichtwissens stellt vielmehr eine Bedingung dar, die moralische Grundannahmen
prozeduralisiert.
Es fällt schwer, diese Widersprüche auf der Ebene der Gesetzgebung aufzulösen. Wie können der Schleier des Nichtwissens und die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs hier in Einklang gebracht werden?
aaa) Unterscheidung ideale und nichtideale Theorie
Ein möglicher Lösungsweg könnte darin bestehen, dass man die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs nicht mehr der idealen Theorie zuordnet.684
Der Schleier des Nichtwissens wird von Rawls durchgängig als Bestandteil
einer Theorie der vollständigen Konformität eingeordnet. Er ist Verfahrensbedingung, um eine vollständig gerechte Grundstruktur zu entwickeln. Die Idee des
öffentlichen Vernunftgebrauchs hingegen könnte schon Teil der nichtidealen
Theorie sein. Sie könnte das Abbild des »Schleiers« in real bestehenden Gesellschaften verkörpern. Hiergegen ist einzuwenden, dass Rawls ausdrücklich von
einem Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs spricht. Er führt in Gerechtigkeit
als Fairness aus, dass die meisten seiner Überlegungen weiterhin einer Idealtheorie gelten.685 Andererseits ordnet Rawls die Idee des öffentlichen Vernunftge-
684 Vgl. Lehning, The Idea of Public Reason: Can it fulfill its task? Ratio Juris 8 (1995), 30,
34. In seinen Ausführungen klingt an, dass die Stufe des öffentlichen Vernunftgebrauchs
möglicherweise nicht mehr zur idealen Theorie gehört, …»there is not and of course there
cannot be, a solution like that of a veil of ignorance in the second stage, that is the stage
where we, here and now, have to discuss matters of constitutional essentials and problems
of social and economic inequalities…..«.
685 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 35.
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brauchs nicht als Grundidee ein. Stattdessen gehört sie zum dritten Teil seines
letzten Werkes und damit zu der vom Urzustand ausgehenden Argumentation.
Aber dennoch will Rawls mit diesen ergänzenden Ausführungen nicht das wirkliche Verhalten der Menschen in bestimmten Situationen oder die wirkliche Funktionsweise von Institutionen beschreiben oder erklären.686 Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs kann deshalb nicht als das Abbild des Schleiers in einer
real existierenden Gesellschaft begriffen werden. Vielmehr gehört auch dieser
Baustein noch zu Rawls’ politischer Konzeption für eine wohlgeordnete Gesellschaft.
bbb) Mehrstufiges Filtersystem
Möglicherweise lassen sich die beiden Gedankenfiguren jedoch auch innerhalb
einer idealen Theorie zusammen denken. Der Schleier des Nichtwissens und die
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs könnten ein mehrstufiges Filtersystem
für Informationen darstellen. Der Schleier des Nichtwissens schaltet auf einer ersten Stufe das Wissen über die eigenen Lebenspläne, über die eigenen Konzeptionen des Guten aus. Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs hilft den Abgeordneten im Hinblick auf das verbleibende abstrakte Wissen, formale Prinzipien des Argumentierens einzuhalten. Versteht man Rawls’ Ausführungen derart,
so entsteht ein in sich »stimmiges« Bild der Gesetzgebung. Es handelt sich jedoch
um eine Interpretation, die nicht direkt belegt werden kann. Rawls selbst spricht
nicht ausdrücklich von einem solchen Filtersystem. Als formales Argument kann
allein angeführt werden, dass in seinem letzten Werk Gerechtigkeit als Fairness
die Abschnitte zum Schleier des Nichtwissens und zur Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs unmittelbar aufeinander folgen.
ccc) Zeitlich gestreckte Betrachtungsweise
Es bestünde auch dann kein Widerspruch zwischen Schleier des Nichtwissens
und öffentlichem Vernunftgebrauch, wenn Rawls diese Ideale unterschiedlichen
Entwicklungsstufen seiner fiktiven gerechten Gesellschaft zuordnete. Ein Interpretationsansatz könnte darin bestehen, dass der ideale Gesetzgeber nur zu Beginn hinter einem Schleier des Nichtwissens Entscheidungen treffen soll. Diese
von außen gesetzte Bedingung wandelt sich möglicherweise dann langsam in die
Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs um. Je länger eine wohlgeordnete Gesellschaft Bestand hat, desto eher könnten deren Amtsträger in der Lage sein, sich
an einem Ideal des demokratischen Bürgers zu orientieren.
Dieser Versuch, die beiden Figuren in Einklang zu bringen, stimmt mit den verschiedenen Schwerpunkten von Rawls’ Veröffentlichungen überein. In seinem
686 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 133.
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Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit stand die Begründung einer gerechten
Grundstruktur für Verteilungsfragen im Vordergrund. In seinen späteren Schriften
hingegen betrachtet er nicht länger allein diesen Anfangspunkt einer gerechten
Gesellschaft, sondern deren Bestehen und Entwicklung über einen fiktiven längeren Zeitraum. Er beschäftigt sich mit der Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze und damit der Stabilität eines Regelsystems.
Rawls spricht seiner politischen Konzeption dabei eine Bildungsfunktion zu.
Diejenigen Personen, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft aufwachsen, formen ihr Selbstbild anhand der öffentlichen Kultur und mit Hilfe der in ihr enthaltenen Vorstellungen von Person und Gesellschaft.687 Rawls’ politische Theorie
baut gerade auf Grundgedanken zu Person und Gesellschaft auf. Sie stellt diese
Ideen, die bislang nur implizit in der öffentlichen Kultur enthalten waren, deutlich heraus. Es entsteht eine Gerechtigkeitskonzeption, die mit den Verteilungsprinzipien des Urzustands auf allgemein anerkennungsfähigen Werten aufbaut
und dem Bürger damit eine Rahmenordnung vorgibt. Diese Rahmenordnung zeigt
den Menschen ein Ideal auf. Sie ermöglicht ihnen, sich nach und nach als freie
und gleiche Personen zu begreifen.688
Rawls’ Ziel ist es, mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen auf die Grundstruktur
einer Gesellschaft einzuwirken. Die veränderte Grundstruktur beeinflusst die
politische Kultur einer Gesellschaft. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die in
ihr lebenden Personen aus. Rawls’ Konzeption kann folglich dahin gehend aufgefasst werden, dass sie Nah- und Fernwirkungen besitzt. Erstes Ziel ist es, (neue)
Verteilungsgrundsätze für die Institutionen der Gesellschaft aufzustellen. Diese
Veränderung wirkt sich, auf längere Zeit betrachtet, jedoch auch auf das Selbstverständnis der Bürger aus. Der öffentliche Vernunftgebrauch könnte deshalb
möglicherweise den Schleier des Nichtwissens nach und nach ersetzen.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Schleier des
Nichtwissens und der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs zahlreiche Fragen
aufwirft. Im Hinblick auf die Entscheidungsebene »Gesetzgebung« lassen sich
Rawls’ Überlegungen in Eine Theorie der Gerechtigkeit nur schwer mit seinen
späteren Schriften in Einklang bringen. Es fehlen eindeutige Ausführungen, wie
Schleier des Nichtwissens und öffentlicher Vernunftgebrauch ineinander greifen.
Es erscheint überzeugend, auf die unterschiedliche zeitliche Perspektive in
Rawls’ verschiedenen Werken abzustellen.
In Eine Theorie der Gerechtigkeit beschäftigt Rawls sich mit der Frage, wie
eine gerechte Gesellschaft begründet werden kann. Er zeigt mit der Wahl der
Gerechtigkeitsgrundsätze den Anfangspunkt seiner Theorie auf. Auch der Vier-
Stufen-Gang zeigt vor allem auf, wie sich ein neues Regelsystem etablieren würde. Rawls beschreibt die erstmalige Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze.
Um eine solche Grundstruktur von bisherigen Ansätzen deutlich abzugrenzen,
führt er mit dem Schleier des Nichtwissens eine radikale Form des Unparteilichkeitsgedankens ein.
687 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 192.
688 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 97.
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In seinen Folgewerken dagegen beschäftigt sich Rawls mit der Rechtfertigung
und Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze. Er betrachtet nicht länger nur
einen fiktiven Zeitpunkt X, sondern einen Zeitraum X. Der Schleier des Nichtwissens ist für eine solche längerfristige Betrachtung möglicherweise eine zu
»radikale« Figur. Längerfristig scheinen Amtsträger an das Ideal des öffentlichen
Vernunftgebrauchs als eine abgeschwächte Form des Schleiers gebunden zu sein.
Insoweit ist den Stimmen in der Literatur zuzustimmen, die Rawls’ Folgewerke
als einen »Rückschritt«, als eine »Abschwächung« seiner Gedanken ansehen.
Mehr als eine solche Einschätzung kann in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet
werden. Um das Verhältnis von Schleier und öffentlichem Vernunftgebrauch
umfassend zu klären, müsste noch mehr auf die grundlegenden Veränderungen in
Rawls’ Folgewerken eingegangen werden.689
Rawls führt in seinen späteren Schriften aus, dass er in Eine Theorie der
Gerechtigkeit versucht hat, eine umfassende moralische Lehre zu entwickeln.690
Diesen Anspruch hat er in seinen Folgewerken aufgegeben. Aufgrund des Faktums des vernünftigen Pluralismus erscheint es ihm unmöglich, eine gerechte
Gesellschaft auf einer einzigen umfassenden Moralkonzeption zu errichten.
Diese veränderte Zielsetzung erklärt möglicherweise auch, warum der Schleier
des Nichtwissens in den späteren Werken zwar noch Erwähnung findet, jedoch im
Widerspruch zur Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs steht. Der Schleier des
Nichtwissens war von Rawls ursprünglich als zentrale Figur einer umfassenden
Lehre gedacht. Er transportiert eine bestimmte moralische Grundannahme. Rawls
selbst führt diese Gedankenfigur auf Kants´ kategorischen Imperativ zurück. In
seinen späteren Werken ordnet er jedoch Kants Überlegungen als eine umfassende Morallehre ein.691 Er selbst möchte nicht eine solche entwerfen, sondern
vielmehr eine politische Konzeption darstellen, auf die sich die Anhänger der verschiedensten umfassenden Lehren dauerhaft einigen können. Der Schleier des
Nichtwissens erscheint mit dieser veränderten Zielsetzung nur noch bedingt kompatibel. Die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs hingegen beruht gerade auf
der Unterscheidung von umfassender Morallehre und politischer Konzeption. Ein
öffentlicher Vernunftgebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass die Amtspersonen
Gründe vorbringen, die über die verschiedenen Moralkonzeptionen hinaus eine
rechtfertigende Wirkung besitzen.692 Diese Vernunftidee hat mit dem Schleier des
Nichtwissens gemeinsam, dass sie ebenfalls das Ideal der Unparteilichkeit abbildet. Beide Figuren sollen garantieren, dass öffentliche Entscheidungen auf vernünftige (im Sinne von allgemein zustimmungsfähige) Gründe und nicht auf persönliche Interessen gestützt werden. Rawls zeichnet mit der Idee des öffentlichen
Vernunftgebrauchs das Idealbild eines Amtsträgers, der seine Entscheidung nicht
689 Vgl. hierzu im Hinblick gerade auf die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs Freeman,
Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004, 2021, 2026 ff.
690 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, Vorwort, 16.
691 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 180 ff.
692 Vgl. Freeman, Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004,
2021, 2027.
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durch Verweis auf eine umfassende Moralkonzeption und damit eine absolute
Wahrheit begründen darf.
III. Abschließende Stellungnahme
Der Schleier des Nichtwissens stellt innerhalb der Konzeption von Rawls die zentrale Figur dar. Er ist in erster Linie Teil des Urzustandes und garantiert, dass die
Menschen in dieser Situation als freie und gleiche Personen eine Übereinkunft
über die Gerechtigkeitsgrundsätze treffen. Sowohl der Urzustand selbst als auch
der Schleier als dessen Teil wurden in der Literatur umfassend erörtert und kritisiert.
1. Vier-Stufen-Gang als umfassendes System
Weniger beachtet wurde, dass Rawls einen weiter gehenden Vier-Stufen-Gang
skizziert und sich folglich auch mit der Frage einer idealen Gesetzgebung beschäftigt. Auf diesen untergeordneten Ebenen besitzt der Schleier ebenfalls eine
Bedeutung. Es ist folglich wichtig, die Figur des Schleiers in Rawls’ Werk nicht
nur als Verfahrensbedingung des Urzustandes zu betrachten.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ausführungen von Rawls zum Urzustand
vernachlässigt werden dürfen. Die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze ist die
Spitze des Vier – Stufen – Gangs. Urzustand und Gesetzgebungsebenen bilden
zusammen ein umfassendes System.693 Insofern können Rawls’ Ausführungen im
Zusammenhang mit dem Urzustand als ein allgemeiner Teil verstanden werden.
Die grundsätzlichen Eigenschaften der Gedankenfigur »Schleier« zeigt er dort
auf.
So wird beispielsweise in diesem Abschnitt deutlich, wie er die fiktive Verfahrensbedingung »Schleier« begründet. Rawls rechtfertigt sein Bild des Urzustandes mit der Idee des Überlegungsgleichgewichts. Seine Ausgangssituation ist das
Ergebnis eines Überlegungsvorgangs, bei dem wir verschiedene Konkretisierungen des Urzustandes mit unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen
vergleichen und einander anpassen.694 Für den Schleier des Nichtwissens bedeutet
dies: Er ist zentraler Bestandteil der Urzustandsbeschreibung. Seine Rechtfertigung beruht darauf, dass er als Verfahrensbedingung unseren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht. Rawls begründet folglich den Schleier, indem er auf die
»Common Sense«-Vorstellungen seiner Leser verweist. Der Urzustand und damit
auch der Schleier basieren auf intuitiven Vorstellungen.695
693 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt, 31, 223 ff.
694 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 38.
695 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 39.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.