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gleich und Finanzplanung als miteinander verwoben an und fordert deshalb berechenbare, im Sinne von langfristigen Maßstäben. Zudem scheint sich das Gericht
an den Abstufungen innerhalb des Haushaltsrechts zu orientieren. Die Figur des
Maßstäbe-Gesetzes gleicht dem Haushaltsgrundsätzegesetz. Es kann an dieser
Stelle nicht vertieft der Frage nachgegangen werden, ob sich die Bindungswirkung überzeugend aus Finanzverfassung und Vergleich mit dem Haushaltsrecht
begründen lässt. Wie in der Urteilsanalyse angedeutet, spricht hiergegen schon,
dass die Art. 106, 107 GG keinen ausdrücklichen zweifachen Gesetzgebungsauftrag enthalten. Auch weisen die Finanzverfassungsnormen keine dem Art. 109 III
GG entsprechende Ermächtigung auf.1298 Die Vorstellung eines bindenden Grundlagengesetzes ist deshalb eine Forderung, die bis auf Ausnahmen – Art. 109 III
GG – nicht umfassend rechtlich institutionalisiert ist.
Für die vorliegende Untersuchung ist entscheidend, dass der Rekurs auf die
formelle Allgemeinheit nur ein ergänzendes Argument darstellt. Das Gericht
betont den besonderen Charakter des Maßstäbe-Gesetzes. Es ergänzt jedoch den
Gesetzesbegriff nicht lediglich um das Merkmal der formellen Allgemeinheit.
Stattdessen entwickelt es mit dem Maßstäbe-Gesetz ein Grundlagengesetz. Hierbei handelt es sich um einen besonderen Gesetzestyp, der sich zwar auch durch
Allgemeinheit, vor allem aber durch seine Bindungswirkung und damit die Nähe
zur Verfassung auszeichnet. Es geht um eine Forderung an die Gesetzgebung, die
Verbindungslinien zur temporalen Allgemeinheit besitzt, jedoch nicht mit ihr
gleichgesetzt werden kann.
2. Distanz und persönliche / sachliche Allgemeinheit
Das Bundesverfassungsgericht scheint jedoch auf die sachliche und persönliche
Allgemeinheit von Gesetzen abzustellen, wenn es ausführt, dass das Gesetz sich
auf eine unbestimmte Vielzahl künftiger Fälle bezieht und damit Distanz zu den
Betroffenen wahrt. Bereits in der Urteilsanalyse wurde versucht, dieses Allgemeinheitsverständnis des Gerichts in eigene Worte zu fassen:
Im Zeitpunkt der Beschlussfassung muss der Gesetzgeber eine Offenheit besitzen. Diese Offenheit ist gewährleistet, wenn der Gesetzgeber kein Wissen über
künftige Fälle besitzt. Dadurch erlangt er eine notwendige Distanz gegenüber
Betroffenen. Eine solche Allgemeinheit, verstanden als ein Nichtwissen, ist Zielvorstellung des Bundesverfassungsgerichts in der vorliegenden Entscheidung.
Greift das Bundesverfassungsgericht mit dieser Definition auf die »traditionelle« Vorstellung von formeller Allgemeinheit zurück? In der Literatur wurde zu
Recht angemerkt, dass das Finanzausgleichsgesetz seinem Wesen nach nur eine
1298 Vgl. Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz, NJW 2000, 3742, 3745; Linck, Das
»Maßstäbegesetz« zur Finanzverfassung, DÖV 2000, 325, 326; Ossenbühl, Das Maßstäbegesetz – Dritter Weg oder Holzweg des Finanzausgleichs, FS Klaus Vogel 2002, 227,
232; Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, NJW 2000,
1086, 1087.
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begrenzte personelle und sachliche Allgemeinheit aufweise. Adressaten dieser
Regelung sind allein die Bundesländer, und auch der Gegenstand der Regelung
besitzt bereits Konturen. Das Bundesverfassungsgericht geht nicht vertieft auf
die Unterpunkte der formellen Allgemeinheit ein, Schlüsselbegriffe sind vielmehr »Offenheit des Gesetzgebers« und »Distanz zu den Betroffenen«. Zu überlegen ist deshalb, welches Verständnis von Gesetzgebung die Vorstellung eines
distanzierten Gesetzgebers transportiert.
a) Begriff der Distanz in der öffentlich-rechtlichen Literatur
Friedhelm Hufen stellt in einem Aufsatz eine Verbindung zwischen dem Postulat
der Allgemeinheit und dem Begriff der Distanz her. Das allgemeine Gesetz garantiere eine Distanz von Normgeber und Adressat. Das Allgemeinheitspostulat
sei in der Philosophiegeschichte mit den Forderungen nach Kontrolle von Herrschaft, Friedenssicherung, Unparteilichkeit und Chancengleichheit durch Abstraktion und Distanz von Normgeber und Adressat verbunden.1299 Hufen lässt
hierbei offen, ob er von einem formalen Allgemeinheitsverständnis oder nicht
doch von einem weiter gehenden (materiellen) Allgemeinheitsbegriff ausgeht.
Kann das Ziel der Distanz allein dadurch erreicht werden, dass abstrakt – generelle Gesetze erlassen werden? Erschöpft sich die Vorstellung von Distanz allein
in der äußeren Form von Gesetzen, in der Regelungstechnik?
Auch Michael Kloepfer hat sich in einem Beitrag zur Gesetzgebung mit dem
Begriff der Distanz auseinander gesetzt. Er beschreibt den Rechtsstaat als eine
Staatsform der Distanz. Die Vorstellung einer Distanz spiegele den Gedanken
wider, dass ein Abstand zwischen (persönlichem) Interesse und staatlicher Entscheidung bestehe.1300 Eine solche rechtsstaatliche Distanz solle Freiheit und
Gerechtigkeit sichern.1301 Das Gesetz sei das klassische Darstellungsmittel, um
Distanz herzustellen. Um Mehrheiten zu finden, müsse sich der Gesetzgeber von
Sonderinteressen lösen. Durch seine abstrakte und generelle Fassung rücke das
Gesetz von Interessen und Gegebenheiten des Einzelfalls ab.1302 Eine solche
Distanz ist nach Kloepfer eine ethische und nicht umfassend rechtlich institutionalisierte Forderung. Die Distanzarmut von Gesetzen führe außer beim Einzelfallgesetz regelmäßig noch nicht zu einer Verfassungswidrigkeit.1303
1299 Vgl. Hufen, in: Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaats, in: Schuppert
(Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, 11, 12.
1300 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 63, 65.
1301 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 63, 66, ähnlich auch
v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, 85, der Distanz gegenüber partikularen
Interessen ebenfalls als ein Verfassungsgebot auffasst, das sich in dem Gebot von Organisations- und Verfahrensnormen konkretisiert.
1302 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 63, 66.
1303 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 63, 79.
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b) Philosophischer Exkurs: Distanz als ein Grenzbegriff
Wirklich fassbar wird die Vorstellung von Distanz durch diese Aussagen in der
öffentlich-rechtlichen Literatur noch nicht. Im Rahmen einer kritischen Bewertung von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie hat Onora O´Neill sich mit dem Verhältnis
von Abstraktion und Idealisierung auseinander gesetzt.1304 Folgt man ihren Überlegungen, so stellt der Begriff der Distanz einen Grenzbegriff dar: Er kann einerseits formell verstanden werden und verlangt dann lediglich Abstraktion. Bezogen auf die Gesetzgebung bedeutet die Forderung nach Distanz dann lediglich,
dass Gesetze sich auf eine Vielzahl von Personen und Sachverhalten beziehen.
Distanz kann andererseits jedoch auch materiell verstanden werden. Dann transportiert dieser Begriff eine Idealisierung. Bezogen auf den Gesetzgeber wird von
diesem mehr als eine schematische Gleichbehandlung verlangt, nämlich Unparteilichkeit.
Kloepfer und Hufen verstehen den Begriff der Distanz inhaltlich. Sie fordern,
wenn auch nur in Nebensätzen, eine Unparteilichkeit des Gesetzgebers. Insbesondere bei Kloepfer wird deutlich, dass er den Begriff der Distanz ebenfalls als
einen Grenzbegriff einordnet. Ein Minimum an Distanz, und zwar die formelle
Seite, kann aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden. Die inhaltliche Seite
der Distanz dagegen gehört für ihn zur Rechtsethik. Der Gedanke eines distanzierten im Sinne eines unparteiischen Parlaments ist nach seiner Ansicht eine
ethische Forderung. Er trägt sie dennoch an den Gesetzgeber heran.
c) Einordnung der Ausführungen im Maßstäbe-Urteil
Welche Vorstellung von Gesetzen legt das Bundesverfassungsgericht seinen Ausführungen im Maßstäbe-Urteil also zugrunde? Auf den ersten Blick scheint das
Gericht einem Gesetzesbegriff zu folgen, der die formelle Allgemeinheit von Gesetzen betont. Es verwendet dann den Begriff der Distanz gegenüber den Betroffenen. Wie soeben dargelegt, kann dieser Begriff unterschiedlich starke Forderungen transportieren. In der öffentlich-rechtlichen Literatur besteht eine Tendenz, Distanz inhaltlich zu verstehen. Es handelt sich dann um eine anspruchsvolle Anforderung an den Gesetzgeber, die von ihm eine Unparteilichkeit fordert
und die Grenzen zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsethik verschwimmen lässt.
Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht wirklich ein solches Ideal an die
Gesetzgebung im Finanzausgleich heranträgt. Dafür spricht, dass das Gericht
gleichzeitig von einer Offenheit des Gesetzgebers spricht und einen Bezug zu
John Rawls’ Schleier des Nichtwissens herstellt. O`Neill ordnet Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als eine Konzeption ein, die nicht nur von nachweislich wahren
Aussagen über Menschen und menschliche Situationen abstrahiert, sondern auch
1304 Vgl. O`Neill, Tugend und Gerechtigkeit, 1996, 59 ff.
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verschiedene Ideale und idealisierte Vorstellungen vom Menschen beinhaltet.1305
Wie im dritten Teil der vorliegenden Untersuchung ausgeführt, garantiert der
Schleier des Nichtwissens eine faire Entscheidungssituation und integriert damit
eine moralische Kategorie in das Gesetzgebungsverfahren. Indem der Schleier
die Partikularinteressen der Abgeordneten ausblendet, bewirkt er nicht nur, dass
diese generell- abstrakte Gesetze erlassen, sondern schafft eine idealisierte Entscheidungssituation. Der Schleier ist bei Rawls Sinnbild für die Unvoreingenommenheit der Abgeordneten und damit selbst eine moralische Verfahrensbedingung. Rawls’ gesamte Theorie wird von seiner intuitiven Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness und damit einem Ideal geprägt. Dies wird von Rawls auch
selbst verdeutlicht, wenn er ausführt, dass sich jede ethische Konzeption an vielen Punkten mehr oder weniger auf Intuition stützen muss.1306
Die Argumentationsstruktur innerhalb des Urteils und hierbei vor allem der
Verweis auf John Rawls zeigen folglich, dass das Gericht nicht allein eine
bestimmte äußere Form des Maßstäbe-Gesetzes verlangt, sondern den Gesetzesbegriff um ein Ideal ergänzt.
Das Merkmal einer inhaltlichen Distanz und damit der Unparteilichkeit findet
Eingang in die Gesetzgebung. Es handelt sich hierbei um eine Forderung, die
nicht allein mit dem Gesetz als Ergebnis, sondern vielmehr auch mit dem Entscheidungsprozess verbunden ist. Indem das Gericht einen bestimmten Ablauf
des Gesetzgebungsverfahrens fordert, entwickelt es, bezogen auf den Finanzausgleich, einen neuen, einen prozeduralen Gesetzesbegriff. Gleichzeitig handelt es
sich bei der Forderung nach Unparteilichkeit um ein Ideal und damit um einen
ethischen Anspruch an den Gesetzgeber. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht nur unterstützend auf Rawls’ Schleier des Nichtwissens verweist, so finden
doch (rechts)ethische Überlegungen Eingang in den Gesetzesbegriff. Zusammengefasst liegt dem Maßstäbe-Urteil ein Gesetzesbegriff zugrunde, der um eine
ethische Verfahrensbedingung angereichert ist.
Indem das Bundesverfassungsgericht eine Offenheit des Gesetzgebers fordert
und unterstützend auf die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie verweist, entwickelt
es einen Gesetzesbegriff, der nicht länger den klassischen Typisierungen innerhalb der Dogmatik entspricht. Vielmehr weicht das Gericht die Grenze zwischen
Verfassungsrecht und Rechtsethik auf. Dies ist ein versteckter Grund dafür, dass
das Maßstäbe-Urteil derart scharf kritisiert wurde. Das Gericht verbleibt mit seinen Ausführungen nicht in der »klassischen Dogmatik« zum Gesetzesbegriff.
Stattdessen lädt es den Gesetzesbegriff um ein rechtsethisches Ideal auf und versucht, dieses durch zusätzliche Verfahrensbedingungen abzubilden. Es fordert
vom Gesetzgeber nicht allein eine Fähigkeit zur Abstraktion (formelle Allgemeinheit), sondern versucht, ihn darüber hinaus an ein Ideal (Unparteilichkeit) zu
binden.
1305 Vgl. O`Neill, Tugend und Gerechtigkeit, 1996, 65.
1306 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 7, 59.
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II. Verändertes Gesetzgebungsverfahren
Dieser Befund leitet zum Gesetzgebungsverfahren über. Wie konkretisiert das
Gericht seine Vorstellung einer inhaltlichen Distanz? Durch welche zusätzlichen
Verfahrensanforderungen soll die Offenheit des Entscheidungsprozesses gewährleistet werden?
Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen zeitlichen Stufenbau, eine zeitliche Abfolge bei der Gesetzgebung: Die Abgeordneten sollen das Maßstäbe-
Gesetz beschließen, bevor ihnen konkrete Zahlen zur Finanzsituation der einzelnen Länder zur Verfügung stehen. Der Begriff der Distanz wird von dem Gericht
dahin gehend konkretisiert, dass die Abgeordneten sich nicht von aktuellen
Finanzierungsinteressen, Besitzständen und Privilegien beeinflussen lassen sollen.1307 Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht mit diesen Ausführungen
die Idee eines inneren Gesetzgebungsverfahrens umsetzt. Inwieweit greift es auf
diesen umstrittenen Ansatz in der Gesetzgebungslehre zurück?
1. Prozeduraler Ansatz des Gerichts
Die Besonderheit des Maßstäbe-Urteils besteht darin, dass das Bundesverfassungsgericht kein eigenes materielles Konzept für den Finanzausgleich entwickelt, sondern nach einer »prozeduralen Lösung« sucht. Dieser Grundgedanke
entspricht der Entwicklung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Dogmatik. Die
Literatur ordnet das Vorgehen des Gerichts als einen Versuch ein, den Finanzgesetzgeber in hohem Maß zu disziplinieren.1308 Exakt dieses Ziel verfolgen die Befürworter eines inneren Gesetzgebungsverfahrens. Der Gedanke der Transparenz
hat sowohl im Maßstäbe-Urteil als auch innerhalb der Gesetzgebungslehre eine
zentrale Bedeutung. So führt das Gericht aus, dass das Maßstäbe-Gesetz die
rechtsstaatliche Transparenz der Mittelverteilung sichern solle.1309
2. Eingehen des Gerichts auf die Theorie der Spielräume
Im vierten Teil der vorliegenden Untersuchung wurde erörtert, inwieweit die Idee
eines inneren Gesetzgebungsverfahrens mit der Theorie der Spielräume vereinbar
ist. Drei Gesichtspunkte wurden vertieft diskutiert: das Verhältnis von Gesetzgebungsermessen und Planungsermessen, die Gefahr eines Optimierungsgedankens
und eine mögliche Vormachtstellung des Bundesverfassungsgerichts. Im Maßstä-
1307 Vgl. BVerfGE 101, 158 (218).
1308 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 435; Korioth, Kommentar zum Beitrag von Joachim Wieland, in: Schmidt-Trenz/Fonger (Hrsg.), Bürgerföderalismus, 2000,
57, 57.
1309 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.