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schiedene Definitions-Ansätze aufzeigen. 1. Der Begriff des Gesetzes kann formal verstanden werden; die Handlungsform Gesetz zeichnet sich dann durch ein
bestimmtes Entscheidungsverfahren aus. 2. Der Begriff des Gesetzes kann inhaltlich bestimmt werden; Gesetze weisen dann ein bestimmtes Regelungsziel auf.
Diese grundlegende Unterscheidung bleibt auch unter dem Grundgesetz aktuell.
Denn auch wenn nicht mehr verschiedene Staatsorgane um das Recht zur Gesetzgebung konkurrieren, so wird nunmehr diskutiert, welche Eigenschaften ein
Gesetz besitzen muss, um seiner Rolle als zentrales Steuerungselement im Staat
gerecht zu werden.809 Anknüpfend an Labands Differenzierung ist entweder eine
formalisierte oder eine inhaltlich angereicherte Definition des Gesetzes denkbar.
Es steht die Frage im Raum: Ist es allein die Art und Weise des Zustandekommens, die aus einem Staatshandeln ein Gesetz macht, oder müssen Gesetze dar-
über hinaus eine inhaltliche Qualität besitzen?
2. Mögliche Gesetzesbegriffe unter dem GG
Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich schwierig. Weder das Grundgesetz
noch die Landesverfassungen sagen ausdrücklich, was sie unter »Gesetz« verstehen;810 es fehlt eine Legaldefinition.811 Auch in der (Verfassungs-) Rechtsprechung finden sich nur wenige Äußerungen zum Gesetzesbegriff.812 Welcher Gesetzesbegriff dem Grundgesetz zugrunde liegt, gehört deshalb trotz oder gerade
wegen knapper Andeutungen im Verfassungstext zu den umstrittensten dogmatischen Problemen. 813
Dennoch erscheint es notwendig, den Begriff »Gesetz« näher zu bestimmen.
Nur so kann dieses Steuerungsmittel von anderen Handlungsformen wie beispielsweise der Verordnung abgegrenzt werden. Der Bereich des Parlamentsgesetzes und damit die Aufgabe des Gesetzgebers muss von dem Arbeitsfeld der
809 Vgl. Schuppert, (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungselement des Rechtsstaates,
1998 mit weiteren Nachweisen.
810 Vgl. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289,
291.
811 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 153. Dieses Schweigen der Verfassung entspricht einer »Tradition«. Auch die Reichsverfassung von 1871 definierte den
Gesetzesbegriff nicht, sondern setzte ihn voraus (vgl. Krawietz, Stichwort »Gesetz« in:
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, 1974, Sp. 490). In einem Referat zu dem
Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung stellte Hermann Heller fest, dass auch die
Weimarer Verfassung den Gesetzesbegriff nicht definiere, sondern voraussetze und auch
in keinem anderen Gesetz eine solche Definition zu finden sei (vgl. Heller, Der Begriff
des Gesetzes in der Reichsverfassung, VVDStRL 4 (1928), 98, 125).
812 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 727; Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 1969, 17 ff. Roellecke untersucht den Begriff des Gesetzes aus
einer anwendungsorientierten Sicht. Die vorliegende Untersuchung betrachtet dagegen
primär die Normsetzung, also das Gesetz im Verhältnis zu dem Gesetzgebungsverfahren.
813 Vgl. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des GG, 1979, 176.
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Exekutive mit ihren zentralen Handlungsformen Verordnung und Verwaltungsakt
abgegrenzt werden. Dem Gesetzesbegriff wird aus diesem Grund weiterhin eine
wichtige Bedeutung zugesprochen.814
Einigkeit besteht darüber, dass die Definitionskompetenz nicht beim einfachen, sondern allein beim Verfassungsgesetzgeber liegt.815 Aus diesem Grund
müssen die Normen des Grundgesetzes ausgelegt werden.816 Hier endet jedoch
die Übereinstimmung in der öffentlich-rechtlichen Literatur, denn im Rahmen der
Auslegung können, wie soeben aufgezeigt, zwei verschiedene Perspektiven eingenommen werden.
a) Formalisierter Gesetzesbegriff
Eine Ansicht spricht sich für einen formalisierten Gesetzesbegriff aus: Gesetze
sind alle Anordnungen, die in dem in der Verfassung vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zustande kommen und wirksam werden. Es werde dem Gesetzgeber nicht vorgeschrieben, bestimmte Werte oder Inhalte zu verfolgen.817
b) Inhaltlicher Gesetzesbegriff
Andere Teile der Literatur sprechen sich für einen inhaltlich angereicherten Gesetzesbegriff aus. So vertritt beispielsweise Christian Starck die Ansicht, dass
sich die Definition des Gesetzes unter dem Grundgesetz nicht in formalen Momenten erschöpfe, sondern auch inhaltliche Elemente aufweise.818 Nur wegen der
Schwierigkeit, inhaltliche Aussagen über Recht und Gesetz zu machen, dürfe
man sich nicht allein auf Formalien beschränken.819 Starck definiert das Gesetz
als eine in einem qualifizierten Verfahren erzeugte grundlegende und wichtige
Regelung, für deren Vernünftigkeit und Gerechtigkeit das Verfahren eine gewisse
Garantie bedeute.820 Andere Stimmen sind ebenfalls der Ansicht, dass das Verfahren allein Gesetze nicht rechtfertigen könne, es müsse außerdem eine Sachqualität gesichert werden.821
814 Vgl. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des GG, 1979, 177.
815 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 726.
816 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 153.
817 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 735; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 506; Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof, HStR Band
III, 1988, § 61 Rn. 13, Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz,
1969, 278 ff.; Stettner, in: Dreier, GG-Kommentar, Band II, 1999, Art. 76 Rn. 8.
818 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 210.
819 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 210.
820 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 175.
821 Vgl. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 7, 12.
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Unter dem Grundgesetz erscheinen folglich zwei Gesetzesdefinitionen denkbar. Auf der einen Seite kann ein Handeln des Staates schon dann als Gesetz angesehen werden, wenn es ein in der Verfassung vorgeschriebenes Verfahren durchlaufen hat. Auf der anderen Seite kann jedoch auch verlangt werden, dass ein
Gesetz weitere inhaltliche Anforderungen erfüllen müsse. Es handelt sich hier
noch um sehr abstrakte Überlegungen. Die Diskussion gewinnt Konturen, wenn
sie auf ein denkbares inhaltliches Merkmal des Gesetzes verengt wird: das der
Allgemeinheit des Gesetzes.
Der Begriff des »allgemeinen Gesetzes« ist eng mit der Kontroverse um den
Gesetzesbegriff verknüpft. Der Gedanke, dass sich ein Gesetz durch seine Allgemeinheit auszeichnet, durchzieht die gesamte europäische Rechtsgeschichte.822
Die Kontroverse um die Allgemeinheit ist deshalb auch nicht mit der Diskussion um einen dualistischen Gesetzesbegriff identisch. So stellt Laband als
»Vater« des aufgespalteten Gesetzesbegriffs keine Verknüpfung zwischen der
Allgemeinheit des Gesetzes und seiner Definition eines Gesetzes im materiellen
Sinn her: Es gehöre zum Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne des Wortes,
dass es einen Rechtssatz aufstelle, aber nicht, dass dieser Rechtssatz eine allgemeine Regel enthalte, welche auf viele oder auch nur auf eine unbestimmte
Anzahl von Fällen anwendbar sei. Die Allgemeinheit sei nur ein Naturale, nicht
aber ein Essentiale des Gesetzesbegriffs.823
Laband spricht sich folglich gegen das Merkmal der Allgemeinheit als zwingende inhaltliche Anforderung an Gesetze aus. Unter dem Grundgesetz wird der
soeben aufgezeigte Streit um einen formalisierten oder anspruchsvolleren Gesetzesbegriff hingegen mit der Frage nach der Allgemeinheit vermischt. Formuliert
man die Diskussion als eine »Gleichung«:
Gesetz = Vorschriften des Gesetzgebungsverfahrens
oder
Gesetz = Vorschriften des Gesetzgebungsverfahrens + X,
so stellt die »Allgemeinheit« das denkbare und umstrittene X dar.
Die Vertreter eines formalisierten Gesetzesbegriffs sprechen sich konsequent gegen ein allgemeines Gesetz aus. Die Verknüpfung zwischen dem Merkmal »allgemein« und dem positiven Gesetz sei schwer zu fassen.824 Zwar liege dem Gesetzesbegriff wohl die Vorstellung einer allgemeinen Norm zugrunde. Der Allgemeinheitsgedanke sei jedoch keine notwendige Voraussetzung für Gesetze, son-
822 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 61 Rn. 11. Der Streit um
die Allgemeinheit von Gesetzen lässt sich möglicherweise auf den Universalienstreit in
der Philosophie zurückführen. Auch im Rahmen des Rechts stellt sich die Frage, wie das
Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zu bestimmen ist. Vgl. hierzu vertiefend
Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 2. Auflage, 1982, 55 ff.
823 Vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Band, 5. Auflage, 1911, 2.
824 Vgl. Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 1969, 231.
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dern eine bloße Frage der »Staatsklugheit«. Er eigne sich unter dem Grundgesetz
nicht als inhaltliches Kriterium.825 Das »moderne« Gesetz habe sich von dem Bild
einer allgemeinen Regel entfernt.826
Die Befürworter eines inhaltlichen Gesetzesbegriffs hingegen sehen in der
»Allgemeinheit« ein denkbares inhaltliches Kriterium. Sie ordnen die Forderung
nach dem allgemeinen Gesetz nicht als ein bloßes Klugheitsgebot, sondern als
eine mögliche Verfassungspflicht ein. Schwierigkeiten bereitet jedoch dann das
Verständnis von »allgemein«. Wie muss ein allgemeines Gesetz beschaffen sein?
Wie kann diese Anforderung wiederum konturiert werden?
Der Ausdruck »allgemein« wird als mehrdeutig und vage eingestuft. Oft werden andere Ausdrücke wie »generell«, »universell«, »abstrakt« als Synonyme
verwendet.827 Es bestehe insgesamt eine Bedeutungsvielfalt des Allgemeinheitsgedankens.828 Die Diskussion um das allgemeine Gesetz in der Staatslehre sei
deshalb so unübersichtlich, weil nicht klar sei, was unter Allgemeinheit zu verstehen sei.829 In der Literatur werden verschiedene Bedeutungen von Allgemeinheit aufgezeigt. Im Folgenden werden ein materielles und ein formelles Verständnis von Allgemeinheit genauer untersucht.830
825 Diese Frage wird bereits aufgeworfen bei Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches,
Band 2, 5. Auflage, 1911, 2; vgl. auch Hofmann, Diskussion zur Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 9, 77; im Überblick Ossenbühl, in
Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 61 Rn.12.
826 Vgl. in diese Richtung Grawert, Stichwort »Gesetz« in: Geschichtliche Grundbegriffe,
Band 2, 1979, 921.
827 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 9, 12; v. Velden, Die formale Allgemeinheit des materiellen Gesetzes,
Rechtstheorie 22 (1991), 329, 330.
828 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 9, 14, 33.
829 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, 298.
830 Vgl. hierzu vertieft Rödig, Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft, in: Rödig,
Theorie der Gesetzgebung, 1976, 5, 21 ff. Andere Stimmen in der Literatur untergliedern
den Allgemeinheitsbegriff in materielle, formale und prozedurale Allgemeinheit; vgl. beispielsweise Ralf Dreier, Diskussion zur Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 76. Unter prozeduraler Allgemeinheit wird dann eine Allgemeinheit der Erzeugung des Gesetzes verstanden. Dieses Verständnis stellt jedoch kein
Merkmal des Gesetzesbegriffs dar. Vielmehr weist die Idee einer prozeduralen Allgemeinheit eine große Nähe zu der Forderung nach einem inneren beziehungsweise einem rationalen Gesetzgebungsverfahren auf. Aus diesem Grund wird hier nur eine Zweiteilung des
Allgemeinheitsverständnisses in formell und materiell vorgenommen. Überlegungen zu
einer prozeduralen Allgemeinheit finden in den Ausführungen zum Gesetzgebungsverfahren Ausdruck.
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aa) Materielle Allgemeinheit
Der Gedanke der materiellen Allgemeinheit steht für eine bestimmte inhaltliche
Ausrichtung des Gesetzes.831 Thomas von Aquin hat einen solchen Gesetzesbegriff aufgezeigt: Gesetze müssen allgemein in dem Sinn sein, dass sie auf das Gemeinwohl (bonum commune) abzielen.832 Legt man dieses Verständnis zugrunde,
dann verlangt das Merkmal »allgemein« vom Gesetzgeber wohlfahrtsorientierte
Entscheidungen.833 Diese Einschätzung spiegelt sich auch in folgendem Zitat wider:
»Die Forderung, dass das Gesetz ein allgemeines sein soll, hat ihre Grundlage in
Werten, die allen Bürgern gemeinsam sind und die sie verbinden. Daher verwirklicht sich in der Allgemeinheit des Gesetzes ein Wert, der als Wert des Allgemeinen
bezeichnet werden kann.834
Ein materielles Verständnis des Merkmals »allgemein« dient folglich ausdrücklich dazu, Werte zu transportieren.835 Der Inhalt des Gesetzes soll auf ein näher
zu bestimmendes Telos ausgerichtet sein. Ein solches Verständnis knüpft nicht an
die Gesetzesform an, die Vertreter dieser Auffassung fordern keine bestimmte
rechtstechnische Struktur des Gesetzes selbst.
Unter dem Grundgesetz kann materielle Allgemeinheit bedeuten, dass andere
Verfassungsbestimmungen insbesondere die Grundrechte inhaltliche Anforderungen an den Gesetzesbegriff aufstellen836 Starck zeigt in seiner Monographie
eine solche Vorstellung auf, indem er das Gesetz als ein Freiheit und Gleichheit
verwirklichendes Gesetz auffasst.837 Er kritisiert ein formelles Verständnis von
Allgemeinheit als zu oberflächlich: Es handele sich um eine Ausweichstrategie,
wenn allein die äußere Gestalt des Gesetzes betrachtet werde. Die Dogmatik verlagere dann erforderliche Aussagen über den Inhalt von Gesetzen in die Gesetzesstruktur. Es werde darauf vertraut, dass sich die äußere Form von Gesetzen
831 Vgl. v. Velden, Die formale Allgemeinheit des materiellen Gesetzes, Rechtstheorie 22
(1991), 329, 331; Rödig, Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft, in: Rödig,
Theorie der Gesetzgebung, 1976, 5, 38.
832 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 9, 33; 19; Scheuner, Gesetzgebung und Politik, in: Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, 1978, 529, 536; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 114; Zahn, Gesetz und Einzelakt, 1963.
833 Vgl. Alexy, Diskussion zur Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 76.
834 Vgl. Evers, Das allgemeine Gesetz und seine Anwendung, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 96, 97.
835 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 9, 34.
836 Vgl. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, 4./5. Auflage, 2003, Art. 76, Rn. 2.
837 Vgl Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 214 ff, 224 ff.
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automatisch positiv auf den Inhalt auswirke.838 Starck spricht sich hingegen für
ein Allgemeinheitsverständnis aus, das mit Freiheit und Gleichheit Werte des
Grundgesetzes transportiert / inkorporiert.
Fraglich ist jedoch, ob sich solche zusätzlichen Anforderungen an Gesetze tatsächlich zwingend aus dem Grundgesetz ableiten lassen. Methodisch muss sich
jede inhaltliche Anforderung an den Gesetzgeber aus dem jeweiligen positiven
Verfassungsrecht begründen lassen.839
aaa) Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip
Möglicher Anknüpfungspunkt für ein materiell allgemeines Gesetz könnte das
Rechtsstaatsprinzip sein. Gesetz und Gesetzgebung werden als den Rechtsstaat
gestaltende und darstellende Institutionen eingeordnet. Aus diesem Grund dürften sie nicht beliebig aussehen, weder substantiell noch in der Form. Aus dem
Rechtsstaatsprinzip heraus könnten folglich Forderungen an die Sachqualität von
Gesetzen entwickelt werden.840 Dieser Weg ist jedoch abzulehnen. Weder das
Rechtsstaatsprinzip (noch das Demokratieprinzip) können bei den Bemühungen
um den Gesetzesbegriff herangezogen werden. Es handelt sich um abstrakte
Grundbegriffe, die selber erst dogmatisch fixiert, also aufbereitet und konkretisiert werden müssen.841
bbb) Ableitung aus Grundrechten
Anknüpfungspunkte für ein inhaltliches Verständnis von Allgemeinheit könnten
jedoch die Grundrechte sein. Der Gesetzesbegriff werde entscheidend durch Bindungswirkung der Grundrechte nach Art. 1 III GG beeinflusst.842 Wer ein allgemeines Gesetz fordert, verlangt möglicherweise nichts anderes, als dass Gesetze
sich an Freiheit und Gleichheit ausrichten. Mit den Grundrechten würden dem
Gesetzgeber rechtliche Werte vorgegeben, sie stellten die verbindlichen Orientie-
838 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 206. In diese Richtung auch
Scheuner, Gesetzgebung und Politik, in: Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, 1978, 529, 538. Ähnlich ebenfalls Karpen, in: Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, 378. Dieser führt
aus, dass hinter dem Generell – Abstrakten als einer formalen Kategorie letztlich doch ein
materieller, an Wertprinzipien gebundener Gehalt stehe.
839 Vgl. Krebs, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, 5. Auflage, 2000, Art. 19, Rn. 10.
840 Vgl. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 7, 13.
841 Vgl. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des GG, 1979, 177;
Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 153. Vertiefende Ausführungen zum
Rechtsstaatsgebot finden sich beispielsweise bei Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997.
842 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987, 9, 44; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 210.
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rungspunkte dar. Das Merkmal »allgemeines Gesetz« könnte deshalb vor allem
in Art. 3 I GG verankert sein.843
ccc) Schwäche dieser Forderung: Unbestimmtheit
Dieser Anknüpfungspunkt besitzt jedoch eine entscheidende Schwäche: seine
Unbestimmtheit. Gewinnt der Begriff der Allgemeinheit von Gesetzen Konturen,
wenn wir ihn mit der Forderung nach Gleichheit inhaltlich auffüllen? Starck
selbst führt aus, dass der Gleichheitsgrundsatz ohne Bezug auf die zu regelnde
Wirklichkeit völlig nichts sagend und leer ist.844 Er will jedoch Gleichheit gerade
nicht schematisch verstehen, der Gleichheitsaspekt solle sich vielmehr in den
(politischen) Wertungen inhaltlich aktualisieren.845 Dies bedeutet jedoch, dass ein
solcher allgemeiner Charakter von Gesetzen variabel und nicht eindeutig ist.846
Im Rahmen der Philosophiegeschichte und der historischen Entwicklung hat
der Gedanke einer materiellen Allgemeinheit an Überzeugungskraft eingebüßt.
Es handelt sich um ein Kriterium, das eng mit einem Richtigkeitsanspruch an
Gesetzgebung verknüpft ist. Wie aufgezeigt, forderte Thomas von Aquin, dass
sich Gesetze am Gemeinwohl orientieren. Eine solche Konzeption setzt jedoch
voraus, dass eine sichere Erkenntnis dessen besteht, was dem Allgemeinwohl
dient. Bei Thomas ist die Gesetzesdefinition eng mit dem Gedanken eines Stufenbaus der Rechtsordnung verbunden. Es besteht für ihn ein Ableitungszusammenhang innerhalb der Gesetzeshierarchie. Die Lex aeterna stellt den vollkommenen Plan Gottes dar, der durch die Lex naturalis dem Menschen zugänglich
beziehungsweise erkennbar ist. Es sind folglich Vorgaben vorhanden, die den
Menschen aufzeigen, welche inhaltlichen Ziele sie mit ihrer Gesetzgebung verfolgen sollen.847 In der Konzeption von Thomas ist damit ein übergeordneter
Maßstab dafür vorhanden, ob Gesetze »richtig« beziehungsweise »gerecht« sind.
Mit Hilfe der Gesetzeshierarchie kann überprüft werden, ob der Gesetzgeber
wirklich das Gemeinwohl verfolgt.
Eine solche Vorstellung ist jedoch eng mit dem Gedanken einer übergeordneten Instanz (Gott / Naturrecht) und dem Bild einer vorgefundenen Wahrheit verbunden. Beide Legitimationsgrundlagen haben aber an Kraft verloren; das
Grundgesetz rekurriert nicht auf eine metaphysische Wahrheit und auch der
Naturrechtsgedanke hat aktuell für die Auslegung der Verfassung nur eine
843 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit
des Gesetzes, 1987; 9, 44; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 211, 314.
844 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 224.
845 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 226.
846 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 230.
847 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 114.
211
geringe Bedeutung.848 Das Postulat einer einzig richtigen Entscheidung stellt nur
eine mehr oder weniger nützliche Fiktion dar.849
Thomas von Aquins Vorstellung von einer gemeinwohlorientierten Gesetzgebung führt unter dem Grundgesetz nicht länger dazu, dass der Gesetzgeber an
feste übergeordnete Maßstäbe gebunden ist. Zwar enthält das Grundgesetz mehr
oder weniger explizite Gemeinwohlformen850, das Gemeinwohl stellt unbestritten
einen zentralen Begriff des Verfassungsrechts dar.851 Die herrschende Meinung in
der Literatur lehnt jedoch einen apriorischen Gemeinwohlbegriff ab. Der Begriff
des Gemeinwohls besitzt unter dem Grundgesetz keine inhaltlich vorgegebene
Größe.852 Das Gesamtziel des Staates und damit auch der Gesetzgebung sei unter
dem Grundgesetz nicht vorgegeben, sondern aufgegeben.853
Die Forderung nach einem materiell allgemeinen Gesetz stellt deshalb unter
dem Grundgesetz eine regulative Idee dar, für die kein sicherer Maßstab besteht.
Es reicht nicht aus, den Gesetzesbegriff mit dem Gleichheitspostulat nach Art. 3
I GG zu verknüpfen. Hierdurch entsteht keine kontrollfähige Vorstellung von
materieller Allgemeinheit. Will man wie Starck Gleichheit nicht schematisch verstehen, so entsteht lediglich eine unbestimmte Idealvorstellung von Gesetzen. Es
handelt sich bei einer solchen abstrakten Vorstellung allein um ein Klugheitsgebot. Unter dem Grundgesetz ist der Gesetzgeber rechtlich nicht zu einer materiell
allgemeinen Gesetzgebung verpflichtet.
bb) Formelle Allgemeinheit (Art. 19 I S.1 GG)
Möglicherweise ist es dem Gesetzgeber jedoch als »Minus« vorgeschrieben, formell allgemeine Gesetze zu erlassen. Eine solche Verpflichtung könnte sich aus
848 Die »Naturrechtsrenaissance« der Rechtsprechung gehört der Vergangenheit an, Vgl.
Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachrkiegsjahre und was daraus geworden ist, FS Sten Gagner, 1991, 105 ff. Eine differenzierende Betrachtung findet sich bei
Scheuner, Gesetzgebung und Politik, in: Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, 1978, 529, 537, der den modernen Gesetzesbegriff als eine Errungenschaft
des Naturrechts ansieht. Dieses habe bewirkt, dass sich das Gesetz von der Einbettung in
eine überlieferte und theologisch begründete Ordnung gelöst habe und so zu einem Instrument bewusster Reform und Erneuerung werden konnte.
849 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 827.
850 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 109, 112.
851 Vgl. Anderheiden, Ökonomik, Gemeinwohl und Verfassungsrecht, in: Recht und Ökonomik, 2004, 113, 114.
852 Vgl. dezidiert Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 1 ff; Magiera,
in: Sachs, GG – Kommentar, 3. Auflage, 2003, Art. 38 Rn. 54; Schulze- Fielitz, Wege,
Umwege oder Holzwege zu besserer Gesetzgebung, JZ 2004, 862, 863; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 388. Zahlreiche Literaturverweise finden sich in dem
Aufsatz von Kreuzbauer, Der Topos vom Gemeinwohl in der juristischen Argumentation,
in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele und juristische Argumentation, ARSP Beiheft
92 (2003), 9, 16.
853 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 33.
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Art. 19 I S. 1 GG ergeben. Diese Norm bietet gegenüber Art. 3 I GG eine deutliche
Präzisierung beziehungsweise Verschärfung.854 Sie stellt eine Konkretisierung
des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes dar.855 Der Gedanke einer formellen Allgemeinheit scheint folglich anders als die Forderung nach materieller Allgemeinheit einen konkreten Bezugspunkt im Grundgesetz zu besitzen.
Die Literatur unterscheidet grundsätzlich verschiedene Elemente der formellen Allgemeinheit: temporale, sachliche und personelle Allgemeinheit.856
Die temporale Allgemeinheit wird als eine Art »Zeitlosigkeit« von Recht
beschrieben. Ein formell allgemeines Gesetz hebe sich durch seine Dauerhaftigkeit von einer zeitlich begrenzten Anordnung ab. Es bestehe eine Offenheit für
die Zukunft, der zeitliche Geltungsbereich des Gesetzes sei quasi unbeschränkt.
Gleichzeitig wird jedoch bezweifelt, ob ein solches Verständnis »ewiger«
Gesetze heute wirklich noch vorhanden sei.857 Es erscheint deshalb fraglich, ob
eine solche Dauerhaftigkeit noch eine eigenständige formale Kategorie für
Gesetze darstellt.858
Das Merkmal der sachlichen Allgemeinheit soll verdeutlichen, dass ein formell allgemeines Gesetz auf eine unbestimmte Vielzahl künftiger Fälle anwend-
854 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, 19. Lieferung, Art. 19 I Rn. 9; Krebs: in v. Münch/Kunig,
GG – Kommentar, Band I, 5. Auflage, 2000, Art. 19 Rn. 10.
855 Vgl. Jarass/Pieroth, GG – Kommentar, 2004, Art. 19 Rn. 1a.; Huber: in v. Mangoldt/Klein/
Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19, Rn. 21.
856 v. Velden unterscheidet in seinem Aufsatz, Die formale Allgemeinheit des materiellen
Gesetzes, Rechtstheorie 22 (1991), 329 ff., zusätzlich noch die Raum-Allgemeinheit. Hier
ist jedoch Hofmann zuzustimmen, nach dessen Ansicht die räumliche Allgemeinheit in
der Adressaten-Allgemeinheit aufgehe. Sie sei nur ein Mittel, den Kreis der Normadressaten zu bestimmen und damit keine eigenständige Kategorie der Gesetzesallgemeinheit,
vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 9, 37 ff.
857 So schlägt H.P. Schneider vor, die Geltungsdauer von Gesetzen zu begrenzen und diese
nur für einen bestimmten Zeitraum zu erlassen. Er zeigt drei Varianten auf, die in der
Gesetzgebungswissenschaft diskutiert werden: 1. Gesetze sollten nach einer bestimmten
Frist automatisch wieder außer Kraft treten (Zeitgesetze); 2. Für risikoreiche Projekte sollten vorab Erfahrungen gesammelt, diese bewertet und erst dann dauerhafte Regelungen
eingeführt werden (Experimentiergesetze); 3. Der Anwendungsbereich eines Gesetzes
sollte für einen bestimmten Zeitraum räumlich oder personell beschränkt werden, um für
einen repräsentativen Teil der Bevölkerung den Nachweis der Zweckmäßigkeit zu erbringen (Modellversuch), vgl. Schneider, Meliora Legalia, ZG 2004, 105, 116. Vgl. hierzu
ebenfalls Müller, Elemente einer Rechtsetzungslehre, 1999, 41 ff., Schuppert, Gute
Gesetzgebung, ZG Sonderheft, 2003, 65 ff. mit weiteren Nachweisen für die einzelnen
Varianten.
858 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 9, 37; v. Velden, Die formelle Allgemeinheit des materiellen Gesetzes,
Rechtstheorie 22 (1991), 333. Gegen das Merkmal der Dauerhaftigkeit spricht sich Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 735; Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem
Grundgesetz, DÖV 1973, 289, 296, aus. Dem Begriff der Dauer hafte durch seinen graduellen Charakter Willkürlichkeit an. Das Grundgesetz lasse nicht erkennen, dass eine
bestimmte Dauer zu den Essentialien eines Gesetzes zähle.
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bar sei.859 Geläufig ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung
»abstrakt / konkret«. Bezugspunkt des Gesetzes sei ein abstrakter, noch unbestimmter Sachverhalt, während der Verwaltungsakt sich mit einer konkreten,
bereits eingetretenen Situation beschäftige.860
Das Element der personellen Allgemeinheit schließlich zielt auf den subjektiven Anwendungsbereich, den Normadressaten ab.861 Hier gewinnt die Unterscheidung »generell / individuell« an Bedeutung. Ein generelles Gesetz richte
sich an jedermann beziehungsweise an einen Adressatenkreis, der nur nach Gattungsmerkmalen bestimmt ist.862
aaa) Regelungsgehalt von Art. 19 I S. 1 GG
Von seinem Wortlaut her scheint sich Art. 19 I S. 1 GG nur auf das Element der
sachlichen Allgemeinheit zu beziehen (»nicht für den Einzelfall«). In der Literatur wird jedoch der Regelungsgehalt dieser Norm weiter verstanden.
Ratio des Art. 19 I S. 1 GG sei es, die Gefahr von Verletzungen des Gleichheitssatzes schon im Vorfeld abzufangen. Ein solcher Schutz sei jedoch nur dann
gewährleistet, wenn auch der betroffene Personenkreis in die Überlegungen einbezogen werde. Aus diesem Grund müsse die Forderung nach Allgemeinheit als
eine Forderung nach sachlicher und persönlicher Allgemeinheit verstanden werden.863 Neben dieser an den Gleichheitsgrundsatz anknüpfenden Argumentation
wird auch der Gedanke der Gewaltenteilung beziehungsweise Handlungsformenlehre für eine weite Interpretation angeführt. Art. 19 I S. 1 GG baue auf dem
Gegensatz zwischen dem Gesetz als abstrakt–genereller Regelung und dem Verwaltungsakt als konkret–individueller Regelung auf. Ziel dieser Norm sei es, Verwaltungsakte in Gesetzesform zu verhindern. Dann müsse das Allgemeinheitspostulat sich jedoch sowohl auf den Adressatenkreis als auch auf den Sachverhalt
erstrecken.864 Diesem Argument kann entgegen gehalten werden, dass sich der
Verwaltungsakt in Gestalt der personenbezogenen Allgemeinverfügung ebenfalls
an einen unbestimmten Kreis von Adressaten richtet. Das Merkmal der persönlichen Allgemeinheit ist folglich nur bedingt geeignet, Verwaltungsakt und Gesetz
voneinander abzugrenzen. Im Ergebnis ist der herrschenden Meinung in der Literatur hingegen zuzustimmen, die den Begriff der Allgemeinheit in Art. 19 I S. 1
859 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 9, 39.
860 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 730.
861 Vgl. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 9, 37.
862 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 201.
863 Vgl. Huber: in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19,
Rn. 50.
864 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, 19. Lieferung, Art. 19 I Rn. 34.
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GG weit versteht.865 Die Formulierung »für den Einzelfall« ist unter dem
Gesichtspunkt eines möglichst umfassenden Grundrechtsschutzes / einer umfassenden Grundrechtsgeltung auszulegen.
bbb) Schwache Allgemeinheit nach Art. 19 I S.1 GG
Zu überlegen ist, welche Bedeutung die Allgemeinheitsforderung nach Art. 19 I
S. 1 GG besitzt. Es wurde bereits kurz angedeutet, dass sie gegenüber der Forderung nach materieller Allgemeinheit ein »Minus« darstellt. Doch worin besteht
genau dieses »Minus«?
Die Begriffe der formellen und materiellen Allgemeinheit betonen unterschiedliche »Eigenschaften« von Gesetzen. Die Forderung nach formeller Allgemeinheit knüpft an die Regelungstechnik an: Wie sind Gesetze zu formulieren?866
Die Unterpunkte der sachlichen, zeitlichen und persönlichen Allgemeinheit
beschäftigen sich mit der Frage, wie der Tatbestand eines Gesetzes zu fassen ist.
Hingegen knüpft der Begriff der materiellen Allgemeinheit an die wertenden
Entscheidungen des Gesetzgebers an. Gesetzgebung verfolgt nach dieser Sichtweise einen Zweck. Das Merkmal der Allgemeinheit soll garantieren, dass der
Gesetzgeber Freiheit und Gleichheit als entscheidende Maßstäbe ansieht und
berücksichtigt. Die materielle Allgemeinheit ist folglich gegenüber der formellen
Allgemeinheit vorrangig. Sie knüpft an die inhaltlichen Entscheidungen des
Gesetzgebers an, während die formelle Allgemeinheit sich auf die äußere Gestaltung des Gesetzes, auf seinen Charakter als Regel bezieht.
Bedeutet dies, dass nur eine materielle Allgemeinheit geeignet ist, den Gedanken der Gleichheit zu garantieren? In der Literatur wird angenommen, dass auch
die formelle Allgemeinheit den Gleichheitsgedanken aktualisiere. Anforderungen an die Gesetzesstruktur werden als ein geeignetes Mittel angesehen, um eine
Gleichbehandlung zu garantieren.867 Vor allem die Forderung nach persönlicher
Allgemeinheit bewirke, dass eine Distanz zwischen Gesetzgeber und Normadressat entstehe.868 Dies wurde von Carl Schmitt betont: Ein generelles (= persönlich
allgemeines) Gesetz sei schlechthin Ausdruck der Gleichheit.869 Dies bedeutet,
dass auch das Merkmal der persönlichen Allgemeinheit mit dem Gleichheitsgedanken verknüpft ist. Jedoch schützt es eine andere Form der Gleichheit als ein
materielles Allgemeinheitsverständnis. Denn es handelt sich bei der persönlichen
865 Vgl. Huber: in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19,
Rn. 50; Krüger/Sachs, in: Sachs, GG – Kommentar, 2003, Art. 19 Rn. 21 mit jeweils weiteren Nachweisen.
866 Vgl. Herzog, in: Maunz /Dürig, 19. Lieferung, Art. 19 I Rn. 26.
867 Vgl. Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, 11, 13; Karpen, Verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gesetzesbegriffs in Deutschland, GS Martens, 1987, 137, 137.
868 Vgl. zum Begriff der Distanz Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert, Das Gesetz
als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, 11, 13.
869 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Auflage, 1954, 154.
215
Allgemeinheit um ein Formprinzip.870 Folglich garantiert diese Anforderung
allein eine relative, eine schematische Gleichheit. Der »Vorteil« einer solchen
Sichtweise ist jedoch, dass das Merkmal der persönlichen Allgemeinheit im
Gegensatz zu dem Begriff der materiellen Allgemeinheit kontrollfähig ist.
Insgesamt besteht folglich das »Minus« des Art. 19 I S.1 GG darin, dass diese
Norm die wertenden Entscheidungen des Gesetzgebers nicht / nur indirekt
erfasst. Mit Hilfe des Merkmals der persönlichen Allgemeinheit wird nur ein Teilaspekt des Gleichheitsgedankens abgebildet. Allerdings gelingt es dadurch, das
Gleichheitsgebot zu konkretisieren und damit kontrollfähig zu machen.
ccc) Geringer Stellenwert von Art. 19 I S. 1 GG
Bedeutet dies für die Frage nach einem inhaltlichen Gesetzesbegriff, dass das
Grundgesetz mit Art. 19 I S.1 eine Zusatzforderung normiert? Liegt dem Grundgesetz also ein Gesetzesverständnis zugrunde, das neben den Anforderungen der
Art. 76 ff. GG zusätzlich eine formelle Allgemeinheit verlangt?
Gegen eine solche Sichtweise spricht zum einen, dass Art. 19 I S. 1 GG nur
einen begrenzten Anwendungsbereich besitzt. Diese Norm betrifft allein Gesetze,
die Grundrechte einschränken. Eine umfassend geltende Aussage zum Gesetzesbegriff dürfte systematisch nicht im Grundrechtsabschnitt der Verfassung erfolgen, sondern müsste sich im Abschnitt zur Gesetzgebung befinden. Das Allgemeinheitsgebot wird insgesamt nicht als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des
Verfassungsrechts eingeordnet.871
Zum anderen bestehen sogar im Grundrechtsbereich selbst Ausnahmefälle. Die
Möglichkeit der Legalenteignung nach Art. 14 III S. 2 GG widerspricht dem Allgemeinheitsgebot. Das Bundesverfassungsgericht und die Literatur sehen hierbei
Art. 19 I S.1 GG als nachrangig beziehungsweise subsidiär an.872 Auch hierdurch
wird dem Allgemeinheitsgebot ein unbedingter Charakter abgesprochen.
Schließlich sieht das Bundesverfassungsgericht auch Maßnahmegesetze, die
einen konkreten Fall zum Anlass haben, als durchaus zulässig an.873 Die Literatur
definiert das Maßnahmegesetz als eine Gesetzesform, die eingesetzt wird, um
eine bestimmte Aufgabe zu lösen.874 Es handele sich quasi um einen Verwaltungsakt für den modernen Gesetzgeber. Dieser könne sich nicht mehr strikt darauf
beschränken, nur generelle Normen im Sinn abstrakter Grundsätze zu erlassen. Er
sei stattdessen immer wieder gezwungen, einzelne Maßnahmen zu treffen, um
870 Vgl. Starck, Stichwort »Gesetz« in: Staatslexikon, Band 2, 1986, Sp. 999.
871 Vgl. Dreier: in Dreier, GG – Kommentar, Band I, 2. Auflage, 2004 Rn. 10.
872 Vgl. BVerfGE 74, 264 (279 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1999, Rn. 330;
Huber: in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19 Rn.
29; Krebs: in v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band I, 5. Auflage, 2000, Art. 19 Rn. 12.
873 Vgl. BVerfGE 25, 371(396); BVerfGE 36, 383 (400); BVerfGE 42, 263 (305).
874 Vgl. Meessen, Maßnahmegesetze, Individualgesetze, Vollziehungsgesetze, DÖV 1970,
314, 315.
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Fehlläufe der sozialen und politischen Verhältnisse abzuwenden.875 Indem das
Bundesverfassungsgericht diese Form der Gesetzgebung toleriert und unter den
Gesetzesbegriff subsumiert,876 wird Art. 19 I S.1 GG weiter entwertet.877 In diese
Richtung weist im Übrigen auch die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts, da sie den Gesetzgeber unabhängig von der Vielzahl der Fälle zum
Handeln verpflichtet.878
cc) Konsequenz: formalisierter Gesetzesbegriff
Insgesamt zeigt sich somit, dass die Forderung nach allgemeinen Gesetzen auch
unter dem Grundgesetz auf der Schnittstelle zwischen bloßer Klugheitsregel und
rechtlicher Pflicht liegt.879
Das Verständnis einer materiellen Allgemeinheit knüpft unter dem Grundgesetz an die Grundrechte, insbesondere an den Gleichheitsgrundsatz Art. 3 I GG
an. Jedoch reicht diese Anbindung an das positive Verfassungsrecht nicht aus, um
materielle Allgemeinheit für die gesamte Gesetzgebung zu einem kontrollfähigen
Maßstab werden zu lassen. Wenn Starck die Aktualisierung von Freiheit und
Gleichheit fordert, so handelt es sich um eine ethische Forderung, die trotz Art.
3 I nicht rechtlich institutionalisiert ist.
Allerdings könnte mit Art. 19 I S.1 GG zumindest ein Teilbereich der Allgemeinheit zu einer Verfassungspflicht geworden sein. Art. 19 I S.1 GG normiert
ein formelles Allgemeinheitspostulat und stellt folglich auf eine schematische
beziehungsweise strukturelle Gleichheit ab. Ausprägungen dieser Gleichheitsvorstellung sind die persönliche und sachliche Allgemeinheit. Der Versuch einer
Verrechtlichung ist allerdings gescheitert. Dadurch, dass das Allgemeinheitsgebot in Art. 19 I S. 1 GG verankert ist, besitzt es, systematisch betrachtet, nur einen
begrenzten Anwendungsbereich. Eine derartige Anforderung an Gesetze entfaltete nur dann umfassende Wirkung, wenn sie in den Art. 76 ff. GG festgeschrieben wäre. Zudem besitzt Art. 19 I S.1 GG in der bisherigen Rechtsprechung des
875 Vgl. zum Maßnahmegesetze Forsthoff, Über Maßnahme–Gesetze, in Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel: Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950 – 1964, 105 ff.; Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, Berlin 1963, Stern, Staatsrecht, Band 1, 1984, 827, Zeidler, Maßnahmegesetz und klassisches Gesetz, 1961. Speziell zum Zusammenhang von
Maßnahmegesetz und Gesetzgebungslehre vgl. Karpen, in: Karpen, Zum gegenwärtigen
Stand der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, 383.
876 Vgl. BVerfGE 25, 371(396); BVerfGE 36, 383 (400); BVerfGE 42, 263 (305).
877 Vgl. Huber: in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19,
Rn. 5, der davon spricht, dass die Bedeutung des Allgemeinheitsgebotes in der Verfassungswirklichkeit ausgesprochen blass geblieben sei.
878 Vgl. Dreier: in Dreier, GG – Kommentar, Band I, 2. Auflage, 2004, Art. 19 I Rn. 14.
879 Vgl. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289,
289 Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 3, 2003, Art. 76 Rn. 2; Stettner,
in: Dreier, GG -Kommentar, Band II, 1998, Art. 76 Rn. 8.
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Bundesverfassungsgerichts keine praktische Bedeutung. Am Allgemeinheitsgebot ist bislang noch nicht eine einzige Norm gescheitert.880
Insgesamt ist den Stimmen in der Literatur Recht zu geben, die das Regelungsverfahren als einziges und entscheidendes Kriterium des Gesetzesbegriffs unter
dem Grundgesetz ansehen.881 Trotz der Regelung in Art. 19 I S. 1 GG liegt dem
Grundgesetz ein formalisierter Gesetzesbegriff zugrunde. Die Gedanke einer Allgemeinheit des Gesetzes wird nicht zu einem umfassend geltenden und kontrollfähigem rechtlichen Merkmal aufgewertet.
Zu Beginn der Untersuchung wurde aufgezeigt, welche Bilder des Gesetzgebers in der Philosophiegeschichte dominierten. Welche Vorstellung der Legislative »transportiert« dann der aktuelle formalisierte Gesetzesbegriff?
Ein solches Gesetzesverständnis setzt der Legislative nur einen äußeren Rahmen, die inhaltliche Entscheidung liegt allein in den Händen des Parlaments. Ein
derartiges Verständnis drückt ein »Vertrauen« in den Gesetzgeber aus. Ein formalisiertes Gesetzesverständnis betont die Organsouveränität des Parlaments. Es
vermittelt die Botschaft, dass sich die Verfassungsgeber bewusst dafür entschieden haben, den gesetzlichen Vertretungskörperschaften eine umfassende inhaltliche Entscheidungskompetenz zu übertragen.882
II. Gesetzgebungsverfahren
Die kurzen Ausführungen zum dualistischen Gesetzesverständnis im 19. Jahrhundert deuteten bereits an, dass der Definition des Gesetzes innerhalb der Staatsrechtslehre eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Mit Hilfe des Gesetzesbegriffes sollten »Machtsphären« voneinander abgegrenzt werden. Innerhalb des
Konstitutionalismus standen sich Monarch und aufstrebendes Bürgertum als
»Kontrahenten« gegenüber. Wie bereits ausgeführt, besteht diese Dichotomie unter dem Grundgesetz nicht mehr. Der Bundestag ist, um eine Formulierung von
Konrad Hesse aufzugreifen, der institutionelle Mittelpunkt des politischen Lebens der Bundesrepublik und damit das »besondere Organ«, dem die Entscheidung über die grundlegenden Fragen des Gemeinwesens anvertraut ist.883
Auch wenn unter dem Grundgesetz eine Definition des Gesetzes weiterhin notwendig erscheint, so hat doch die Auseinandersetzung um die Konkretisierung
dieses Begriffs im »modernen« Verfassungsrecht an Schärfe verloren. Die Frage,
wie der Gesetzesbegriff unter dem Grundgesetz zu bestimmen ist, steht in der
880 Vgl. Dreier: in: Dreier, GG – Kommentar, Band I, 2. Auflage, 2004, Art. 19 Rn.9; Huber:
in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 2005, Art. 19 Rn. 6.
881 Vgl. Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, 289,
297.
882 Vgl. so auch Achterberg, Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV
1973, 289, 297.
883 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn.
574.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.