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werden und eine wechselseitige Vereinbarung treffen. Dauerhaft werden sie jedoch stärker von ihren individuellen Bedürfnissen als von dem abstrakten Allgemeinwohlgedanken beeinflusst. Der ideale Gesetzgeber ist folglich nicht jedermann, sondern Teil einer Elite. Diese Elite zeichnet sich dadurch aus, dass ihre
persönlichen Interessen mit dem Allgemeinwohl zusammenfallen. Sie sind mit
ihrer Stellung in der Gesellschaft zufrieden und haben folglich ein unmittelbares
Interesse daran, diese Gesellschaft auch zu erhalten.228 Der ideale Gesetzgeber
beider Philosophen ist folglich durch seine Neutralität charakterisiert. Hume und
Smith gehen nicht so weit wie Rousseau, einen übermenschlichen altruistischen
Gesetzgeber zu fordern. Es liegt keine völlig uneigennützige Entscheidung des
idealen Gesetzgebers vor. Der Eigennutzen besteht darin, die Rechtsordnung und
damit mittelbar die eigene Position zu garantieren.
2. Klassischer Utilitarismus
Der klassische Utilitarismus stellt sich als ein Bündel verschiedener ethischer
Theorien dar. Es hat sich eine große Zahl von Positionen und Unterpositionen herausgebildet.229 Die folgende Darstellung orientiert sich vor allem an dem Werk
von Jeremy Bentham. Dieser gilt als einer der Begründer des »klassischen« Utilitarismus und hat sich intensiv mit Gesetzen und Gesetzgebung beschäftigt. Er
wird als einer der interessantesten Gesetzgebungstheoretiker überhaupt angesehen.230 Seine Introduction to the Principles of Morals and Legislation (im Folgenden: IPML) war als Einführung für ein neues Strafgesetzbuch gedacht.231 In
der Sekundärliteratur werden seine Ausführungen als eine kritische Rechtstheorie
eingeordnet. Denn in seinen Werken beschäftige er sich nicht nur mit dem Utilitarismus als einem Moralprinzip, sondern vor allem mit der Frage, wie das Nützlichkeitsprinzip anzuwenden sei. Ethik werde von Bentham nicht nur als Wissenschaftszweig gedacht, sondern zu einer allgemeinen normativen Handlungstheo-
228 Vgl. Hume, Traktat über die menschliche Natur, Drittes Buch, 287.
229 Vgl. Gähde, Zum Wandel des Nutzenbegriffs im klassischen Utilitarismus, in: Gähde /
Schrader (Hrsg.), Der klassische Utilitarismus, 83, 88, Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 9.
230 Vgl. Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, 2004, 8; Hilgendorf
bezeichnet Benthams Texte als die bis heute wichtigste Darlegung des utilitaristischen
Ansatzes; vgl. Hilgendorf, Der ethische Utilitarismus und das Grundgesetz, in: Brugger
(Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, 249, 253.
231 Vgl. Bentham, Preface IPML, 1, 4.
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rie erweitert.232 Es entstehe dadurch eine kritische Gesellschaftstheorie, die sich
insbesondere auf den Bereich des Strafrechts beziehe.233
Bentham selbst spricht von »art of legislation« und »legislative science«; 234 er
entwickelt eine Gesetzgebungswissenschaft, die nicht auf Religion, Metaphysik
oder Tradition basiert.235 Aus diesem Grund wird Bentham auch als ein Theoretiker des modernen Staates bezeichnet. Er entwickelte eine Sicht der Gesetzgebung, die nicht auf fragwürdig gewordene Autoritäten zurückgreife.236
Sein Anliegen erinnert insgesamt sehr an die Ziele der heutigen Gesetzgebungswissenschaft. Innerhalb der Diskussion um das innere Gesetzgebungsverfahren wird gerade vorgebracht, dass immer noch ein mythisch überhöhtes Gesetzesverständnis bestehe. Gesetzgebung werde noch zu sehr als eine »unantastbare«, »dezisionistische« Tätigkeit begriffen. Die Überlegungen von Bentham
könnten schon deshalb eine historische Wurzel der Gesetzgebungslehre darstellen.237 Zusammengefasst ist deshalb sein Werk eine entscheidende Quelle, um das
Bild des Gesetzgebers im klassischen Utilitarismus herauszuarbeiten.
a) Nützlichkeitsprinzip
Für die Figur des Gesetzgebers im klassischen Utilitarismus ist das Menschenbild
eine entscheidende Basis. In der Konzeption von Jeremy Bentham wird der
Mensch als ein selbstinteressiertes Individuum charakterisiert, das seine eigenen
Interessen verfolgt und prinzipiell dazu neigt, sein Wohl vor das anderer Menschen zu stellen. Menschen sind informationsverarbeitende Wesen, die Schmerz
vermeiden und Freude suchen.238 Stärker noch als Hume beschreibt Bentham die
Eigenliebe und das Eigeninteresse des Menschen. Der einzelne Mensch strebt
nach Glück und richtet sein Vorgehen an dem Nutzenprinzip aus. Eine Handlung
hat dann eine nützliche Tendenz, wenn sie dazu neigt, Gewinn, Vorteil, Freude
oder Glück hervorzubringen. Bentham entwickelt insgesamt eine konsequentia-
232 »Ethics at large may be defined as the art of directing men´s action to the production of
the greatest possible quantity of happiness, on the part of those interest is in view« Bentham, IPML, 282. »Now private ethics has happiness for its end: and legislation can have
no other. Private Ethics and legislation can have no other. Private ethics concerns every
member, that is, the happiness and the actions of every member of any community that can
be proposed; and legislation can concern no more. Thus far, the private ethics and the art
of legislation go hand in hand« Bentham, IPML, 285.
233 Vgl. Köhler, Zur Geschichte und Struktur der utilitaristischen Ethik, 1979, 13, 14; Hart,
Introduction IPML, xliii.
234 Vgl. Bentham, IPML, Concluding Note, 308.
235 Vgl. Bentham, The Theory of Legislation, Principles of Legislation, Chapter XIII, 67 ff.;
Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 15.
236 Vgl. Rosenblum, Bentham´s Theory of the modern State, 1978, 2.
237 So verweist Mengel ausdrücklich auf Jeremy Bentham, vgl. Mengel, Gesetzgebung und
Verfahren, 1997, 220.
238 Vgl. Bentham, IPML, 11, Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 65, 311.
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listische Ethik.239 Die moralische Qualität einer Handlung bestimmt sich nach ihren Folgen.
Bentham beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Frage, nach welchem moralischen Grundsatz der einzelne Mensch sein Handeln ausrichten soll. Er ist vielmehr auf der Suche nach einem Prinzip, das der Gesetzgebung und damit dem
Handeln des Staates als Maßstab dienen kann. Hierbei überträgt er das Nutzenprinzip vom Einzelnen auf die Gesellschaft. Das Prinzip des größten Glücks ist
sowohl Maßstab für individuelle Handlungen als auch für Maßnahmen der Regierung.240 Das Staatsziel besteht dann darin, den Gesamtnutzen zu maximieren.241
Bekannt ist die von Bentham geprägte Formel vom »größten Glück der größten
Zahl«. Politisches Handeln soll das Glück einer möglichst großen Zahl von Menschen berücksichtigen.242 Bei dem klassischen Utilitarismus handelt es sich folglich um eine teleologische Ethik.
b) Gesetzgebung als Kalkulationsverfahren
Was bedeutet diese Ausrichtung auf den Gesamtnutzen für das Bild des Gesetzgebers? Bentham beschreibt die Gesetzgebung als einen mehrstufigen Prozess.
Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, die Tendenz einer Handlung – also eines von
ihm beabsichtigten Gesetzes – festzustellen. Er muss den Wert einer Menge an
Freude oder Leid bestimmen. Hierfür ist ein mehrschrittiges Verfahren einzuhalten. Auf einer ersten Stufe ist der Wert einer Handlung für die wahrscheinlich am
stärksten betroffene Person zu bestimmen. In einem zweiten Schritt stellt der Gesetzgeber dann die Anzahl der insgesamt betroffenen Personen fest und errechnet
für jede von ihnen die Tendenz des geplanten Gesetzes. In einem letzten Schritt
erstellt der Gesetzgeber mit Hilfe der gewonnen Ergebnisse eine Bilanz. Er be-
239 Noch differenzierter Hilgendorf, Der ethische Utilitarismus und das Grundgesetz, in:
Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und
Gesellschaftstheorie, 1996, 249, 259. Er betont, dass der klassische Utilitarismus nicht mit
dem Konsequentialismus gleichgesetzt werden dürfe. Die utilitaristische Ethik sei nicht
deckungsgleich mit dem Konsequentialismus, sondern stelle bloß eine Variante dieser
Theorienfamilie dar.
240 Vgl. Bentham, IPML, 12; Schofield, Jeremy Bentham und die englische Jurisprudenz im
19. Jahrhundert, in: Gähde/Schrader (Hrsg.), Der klassische Utilitarismus, 1992, 34, 36.
241 Vgl. Gähde, Zum Wandel des Nutzenbegriffs im klassischen Utilitarismus, in: Gähde /
Schrader (Hrsg.), Der klassische Utilitarismus, 1992, 83, 89.
242 Vgl. Bentham, IPML, 11«…to rear the fabric of felicity by the hands of reason and of
law…«. Höffe übersetzt diese Passage wie folgt: »Ziel ist es, das Gebäude der Glückseligkeit durch Vernunft und Recht zu erreichten«, vgl. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 56; Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 194. Vertiefende
und kritische Ausführungen zur »Glücksformel« bei Köhler, Zur Geschichte und Struktur
der utilitaristischen Ethik, 1979, 83.
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rechnet aus den Auswirkungen auf alle betroffenen Personen den Wert des Gesetzes für die Gemeinschaft.243
Der Rationalitätsanspruch, der dem Nützlichkeitsprinzip innewohnt, wird
deutlich, wenn Bentham dieses von dem Prinzip der Sympathie und Antipathie
abgrenzt. Richtet sich der Gesetzgeber an dem Nützlichkeitsprinzip aus, wird
Gesetzgebung zu einer »mathematischen« und damit transparenten Tätigkeit.
Denn, wie aufgezeigt, muss der Gesetzgeber den Wert von Freud und Leid einer
Handlung ermitteln. Gesetzgebung wird bei Bentham zu einer mathematischen
Berechnung,244 es bestehe eine gesetzgeberische Logik.245 Orientiert sich Gesetzgebung hingegen am Sympathieprinzip, so entspringen Gesetze allein der Intuition, der subjektiven Einschätzung der Menschen. Der Gesetzgeber verlässt sich
dann allein auf seine eigenen Gefühle. Es gibt für ihn keinen überindividuellen
Maßstab, den er verfolgt. Bentham betont, dass eine solche Gesetzgebung vor
allem im Bereich des Strafrechts zu untragbaren Ergebnissen führen würde.246
Sympathie und Antipathie, also moralische Gefühle, führen zu einer willkürlichen, von dem Charakter des jeweiligen Menschen abhängigen Herrschaft.247
c) Wissen des Gesetzgebers
Bentham beschreibt folglich einen Gesetzgeber, der zuerst Informationen sammelt und diese in einem zweiten Schritt gewichtet. Es besteht in seiner Konzeption folglich ein Zusammenhang zwischen Wissen und gerechten, im Sinne von
den Gesamtnutzen maximierenden Gesetzen. Für das Streben nach Glück ist Wissen unbedingt notwendig.248 Ohne Wissen gibt es kein individuelles oder soziales
Glück. Hierbei stellt sich das Wissen bei Bentham als ein Faktenwissen, ein Erfahrungswissen dar. Er folgt der Ansicht von Locke, dass Wissen nur über Beobachtung und Weiterentwicklung entstehe.249 Umfassende empirische Kenntnisse
sind für die Gesetzgebung unbedingt erforderlich.250
243 Vgl. Bentham, IPML, 38 ff.
244 Vgl. Bentham, The Theory of Legislation, Principles of Legislation Chapter VIII, 32 »…
and legislation thus becomes a matter of arithmetic. The evil produced is the outgo, the
good which results is the income…«
245 Vgl. Bentham, The Theory of Legislation, Principles of Legislation, Chapter XIII, 66.
246 Vgl. Bentham, IPML, 25 »… if you hate little, punish little: punish as you hate. If you
hate not at all, punish not at all: the fine feelings of the soul are not to be overborne and
tyrannized by the harsh and rugged dictates of political utility«.
247 Vgl. Bentham, The Theory of Legislation, Principles of Legislation, Chapter I, 9.
248 Vgl. Bentham, Rationale of Judicial Evidence, Bowring Edition Band VI, 264. »Happiness, in almost all its points, is, in every individual (......) more or less dependent upon
knowledge.«
249 Vgl. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 100.
250 Vgl. für den klassischen Utilitarismus vertiefend Höffe, Einführung in die utilitaristische
Ethik, 2003.
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Damit der Gesetzgeber seiner Aufgabe der optimalen Glücksverteilung nachkommen kann, muss er ein besonderes Glückskalkül besitzen. Dieses Kalkül verlangt, dass er alle möglichen betroffenen Interessen berücksichtigt, alle Freuden
und Leiden der Menschen einbezieht. Er soll bei seiner Bewertung auch die langfristigen Entwicklungen beachten. Abschließend nimmt er eine Aufrechnung
aller Nutzen und Lasten vor, erstellt eine umfassende Bilanz.251
Dies bedeutet jedoch, dass Bentham sehr hohe Anforderungen an das Wissen
seines idealen Gesetzgebers stellt. Das Glückskalkül setzt voraus, dass der
Gesetzgeber über umfassende Informationen verfügt. Zudem muss er wissen, wie
er die gewonnenen Kenntnisse bewerten, einordnen kann. Hier zeigt sich eine
Schwäche des klassischen Utilitarismus: Wie können die Auswirkungen auf verschiedene Menschen miteinander verglichen werden? Wie kann eine Nutzen- und
Schadensbilanz für die gesamte Gesellschaft erstellt werden? Bentham gibt seinem idealen Gesetzgeber folgende Bewertungsmaßstäbe vor:
Anzahl der betroffenen Personen,
Intensität, Dauer, Gewissheit, Nähe von Freud/Leid für die einzelne Person
Mögliche Auswirkungen/ Fernwirkungen von Freud/Leid.252
Der zweite Bewertungsmaßstab scheint zu verlangen, dass der Gesetzgeber Maßeinheiten beispielsweise für die Intensität von Schmerz besitzt. Er muss als Beobachter festlegen können, welchem Schmerzgrad eine einzelne Person objektiv
ausgesetzt ist. Der dritte Bewertungsmaßstab zeigt, dass er zudem die Zukunftsentwicklung, die langfristige Perspektive erkennen soll. Dafür muss er geradezu
über ein »übermenschliches« Maß an Vorausschau verfügen. Die von Bentham
geforderte Bilanz kann nur derjenige erstellen, der über eine »zweifache« Fähigkeit verfügt: Er muss die Situation jeder einzelnen Person genau analysieren können und dann in einem zweiten Schritt die gesammelten Einzelinformationen mit
Hilfe einer gemeinsamen Maßeinheit gewichten.253
d) Altruistische Grundhaltung des Gesetzgebers
Selbst ein umfassendes Faktenwissen macht jedoch einen Menschen noch nicht
zum idealen utilitaristischen Gesetzgeber. Wie schon dargestellt, wird der
Mensch als ein selbstinteressiertes Individuum verstanden. Ihm zur Verfügung
stehendes Wissen setzt er ein, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Was
bringt einen Gesetzgeber dann dazu, stets von seinem persönlichen Vorteil abzusehen und sich in den Dienst des Gesamtnutzens zu stellen? 254 Ein idealer Gesetzgeber im Sinne der klassischen Utilitaristen hat bei seiner Entscheidungsfin-
251 Vgl. Bentham, IPML, 40; Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 194.
252 Vgl. Bentham, IPML, 38 ff.
253 Vgl. in diese Richtung auch Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 20.
254 Vgl. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 17.
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dung nicht nur sein eigenes Wohl, sondern das Wohl aller im Auge. Seine Perspektive wird durch ein Sozialprinzip beeinflusst. Er wird auf das allgemeine
Wohlergehen verpflichtet.255
Bentham knüpft hier an die Überlegungen von Hume und Smith an, die einen
Gesetzgeber fordern, dessen persönliche Interessen mit denen des Gemeinwohls
identisch sind. Anders als diese beiden Philosophen wird der Gesetzgeber bei
Bentham stärker als uneigennützig handelnde Person dargestellt. Er ist eine Person, die ausschließlich eine generelle Sichtweise (»general view«) besitzt. Sein
Handeln ist auf das Wohl der Gesellschaft ausgerichtet. Seine eigenen Bedürfnisse finden insoweit Berücksichtigung, als er selbst auch Mitglied dieser Gesellschaft ist und an deren Wohlergehen partizipiert 256
Eine solche altruistische Grundhaltung ist auch Ideal für John Stuart Mill. Er
fordert von den Menschen ebenfalls, dass sie die Position eines unbeteiligten und
wohlwollenden Betrachters einnehmen können. Sie müssen mit strenger Unparteilichkeit entscheiden können.257 Anders als Hume und Smith fordert Mill als
moralische Fähigkeit der Menschen nicht nur Mitgefühl, sondern eine abstrakte
Menschenliebe: Die Bereitschaft, selbst ohne Glück auszukommen, ist für ihn
wohl am ehesten geeignet, so viel Glück zu bewirken, wie überhaupt nur erreichbar ist.258 Mills Ideal ist nicht mehr nur der Mensch, der sich in andere hineinversetzen kann, sondern der vollkommen uneigennützig handelnde Mensch. Er vertritt einen klaren Altruismus.259
Allerdings trifft er eine Einschränkung: In der Praxis müssen beziehungsweise
können nicht alle Menschen das ausschließliche Ziel Gemeinwohl verfolgen. Die
altruistische Grundhaltung fordert Mill nur von denjenigen, die durch ihr Handeln
auf die Gesellschaft als Ganzes Einfluss nehmen können.260 Er fordert folglich,
dass der Gesetzgeber Angehöriger einer Elite ist, die durch eine Kombination aus
Wissen und besonderen moralischen Fähigkeiten geprägt ist. 261
Insgesamt zeigen die Konzeptionen von Bentham und Mill, das der klassische
Utilitarismus in seinen Anforderungen an den idealen Gesetzgeber einen Schritt
weiter als Hume und Smith geht. Er fordert einen menschenliebenden und dauerhaft uneigennützig handelnden Gesetzgeber. Neben das umfangreiche Wissen
tritt eine altruistische Motivation.262
255 Vgl. Engin-Deniz, Vergleich des Utilitarismus mit der Theorie der Gerechtigkeit von
Rawls, 1991, 17; Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, 2003, 11.
256 »It has been shown, that the happiness of the individuals, of whom a community is composed, that is their pleasures and their security, is the end and the sole end which the legislator ought to have in view....« Bentham, IPML, 34.
257 Vgl. Mill, Utilitarismus, 30.
258 Vgl. Mill, Utilitarismus, 29.
259 Vgl. Pazos, Die Moralphilosophie John Stuart Mills, 2001, 108.
260 Vgl. Mill, Utilitarismus, 33.
261 Vgl. Pazos, Die Moralphilosophie John Stuart Mills, 2001, 109.
262 Vgl. Engin-Deniz, Vergleich des Utilitarismus mit der Theorie der Gerechtigkeit von
Rawls, 1991, 13.
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e) Konsequenz Beobachterposition
Die Ausstattung »Wissen und Altruismus« führt dazu, dass der Gesetzgeber im
klassischen Utilitarismus zu einem Beobachter wird. So beschreibt Bentham den
Gesetzgeber als einen Gärtner, der das glückliche Gemeinwesen als Garten
pflegt.263 Er wird zu einer schlichtenden Macht, die sich zwischen die Interessen
der Individuen stellt.264
Das Phänomen des Beobachtens hat Bentham insgesamt sehr beschäftigt. Die
Möglichkeit, ein Geschehen von »außen« zu lenken und zu beeinflussen, spielt
in seinen Schriften eine entscheidende Rolle. Er spricht häufig vom »public
eye«.265 In seinen Texten zum »Panopticon« stellt er ein Gefängnis dar, das sich
durch eine permanente Beobachtung auszeichnet. Es besteht eine Allgegenwart
der Aufseher, die wiederum selber beobachtet werden.266 In der Sekundärliteratur
ist das Prinzip dieses Gefängnisses teilweise als eine säkulare Variante der Allwissenheit und Unsichtbarkeit Gottes aufgefasst worden.267 In jedem Fall befindet sich der Beobachter in einer überlegenen und zugleich distanzierten Position.
Er kann gerade als »unsichtbare« und außen stehende Figur auf das Verhalten der
Menschen einwirken.268 Durch Beobachtung entsteht für Bentham eine visuelle
Kontrolle. Allein schon das Gefühl des Beobachtetwerdens bewirkt, dass sich die
Menschen regelkonform benehmen.269 Bentham fordert, dass auch der Gesetzgeber als Beobachter ein Meister der visuellen Kommunikation sein soll.270 Er soll
seine gesetzgeberische Entscheidung im weitesten Sinn inszenieren.271
263 «It`s only by making use of the interests, the affections and the passions that the legislator,
who labors for the service of mankind can effect his purposes. Those interests, acting in
the capacity of motives, may be of the self-regarding class, or the dissocial, or the social.
Social motives the legislator will, wherever he finds them aldready in action, not utilize
but cherisch and cultivate. As for the self regarding and dissocial, although his study will
be rather to restrain than to encourage them, he will at any rate, wherever he sees them
already in action or likely to come in action, use his best endeavors to direct their influence,
with whatever force he can muster, to his own social purposes.« Bentham, Handbook of
Political Fallacies, 226, zitiert nach Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 197.
264 Vgl. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 213 mit weiteren Nachweisen.
265 Vgl. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 91.
266 Vgl. Bentham, Panopticon, Bowring Edition, Band IV, 37 ff. zitiert nach Hofmann, Politik
des aufgeklärten Glücks, 2002, 91 ff.
267 Vgl. Himmelfarb, The Haunted Hause of Jeremy Bentham, in: Victorian Minds, 1968, 32
ff.
268 Vgl. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 99.
269 Vgl. Bentham, Panopticon, Bowring Edition, Band IV, 95 zitiert nach Hofmann, Politik
des aufgeklärten Glücks, 2002, 91 ff.
270 Vgl. Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 98.
271 Bentham, Rationale of Judicial Evidence, Bowring Edition, Band VI, 321. zitiert nach Hofmann, Politik des aufgeklärten Glücks, 2002, 98: »As puppets in the hand of the showmen,
so would men be in the hand of the legislator, who, to the science proper to his function,
should add a well-informed attention to stage effects«.
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f) Konsequenz Elite als Gesetzgeber
Die Forderung nach einem informierten und altruistischen Gesetzgeber könnte jedoch auch dazu führen, dass nur wenige Personen befähigt sind, dieses Amt auszuüben.
In der Sekundärliteratur zu Bentham wird betont, dass dieser nicht wie Rousseau einen gottähnlichen Gesetzgeber fordere.272 Er verlange nicht mehr umfassende Weisheit, sondern allein logisches Denken.273 Auch stünden sich in den
Werken Benthams zwei Gestalten gegenüber, der »große Gesetzgeber« einerseits
und Gesetzgebung als ein politischer, parlamentarischer Prozess andererseits.
Aus diesem Grund seien seine Werke schwierig zu interpretieren.274
Die Position des klassischen Utilitarismus führt folglich nicht zu dem Bild
eines einzelnen weisen Gesetzgebers. Anders als Rousseau schreibt Bentham seinem Gesetzgeber Fähigkeiten zu, die jeder Mensch erwerben kann. Die Begabung
zu logischem Denken mag ein Mensch in höherem Maße als ein anderer besitzen.
Jedoch besitzt jeder von uns eine grundsätzliche Fähigkeit zu logischer Analyse,
die durch Übung ausgebildet / verbessert / perfektioniert werden kann. Insoweit
verändert Bentham das Bild des klassischen Gesetzgebers. Er nimmt dieser Vorstellung den »übernatürlichen« Charakter. Gesetzgebung erfordert zwar auch
nach seiner Konzeption eine besondere Befähigung, diese ist jedoch nicht »gegeben« und damit mystisch überhöht. Das Wissen des Gesetzgebers bei Bentham ist
kein metaphysisches Wissen. Er beschreibt keinen Herrscher, der als einziger eine
Vorstellung von dem Guten für die Menschen besitzt.
Nicht die Anforderungen an das Wissen, sondern der moralische Anspruch
schränkt den »Bewerberkreis« um das Amt des Gesetzgebers ein. Indem die klassischen Utilitaristen eine altruistische Grundhaltung verlangen, stellen sie hohe
moralische Anforderungen an den Gesetzgeber. Sie zeichnen das Bild einer Person, die anders als der »normale« Mensch uneigennützig handelt.
IV. Abschließende Betrachtung
Welche Schlüsse können aus diesem Einblick in die Philosophiegeschichte gezogen werden? Es wird deutlich, dass das Bild des Gesetzgebers sich aus verschiedenen Facetten zusammensetzt. Die zu Beginn gestellte Frage, über welche Art
des Wissens er verfügen soll, kann aus diesem Grund nicht pauschal beantwortet
werden. Es kann jedoch ein Katalog von Kriterien aufgestellt werden, der die verschiedenen Überlegungen der Philosophen systematisch zusammenfasst. Er spiegelt die verschiedenen Blickwinkel wider, unter denen die Verbindung »Wissen
und gesetzgeberische Entscheidung« betrachtet werden kann. Dadurch kann er
272 Vgl. Rosenblum, Bentham´s Theory of the modern State, 1978, 9, 15.
273 Vgl. Rosenblum, Bentham´s Theory of the modern State, 1978, 9, 23.
274 Vgl. Rosenblum, Bentham´s Theory of the modern State, 1978, 9, 20.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.