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Einleitung
1998 stellten die drei Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen einen Normenkontrollantrag auf Überprüfung des Gesetzes über den Finanzausgleich.1 Sie führten vor dem Bundesverfassungsgericht aus, dass zentrale Vorschriften dieses Gesetzes gegen die Verfassung verstießen. Diesem Vorwurf traten die Bundesländer Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein entgegen,
die im Gegenzug die Feststellung begehrten, dass die fraglichen Vorschriften mit
dem Grundgesetz vereinbar seien.
Das Bundesverfassungsgericht war damit erneut gezwungen, sich mit der
Materie des Länderfinanzausgleiches auseinander zu setzen. Bereits in drei vorangehenden Urteilen hatte es verschiedene Fassungen des FAG auf deren Verfassungsmäßigkeit überprüft.2 Sooft dieses Gesetz inhaltlich neu strukturiert wurde,
initiierten die Gegner des jeweiligen Reformvorhabens eine verfassungsgerichtliche Kontrolle. Eine dauerhafte einfachgesetzliche Regelung wurde bislang
nicht gefunden; das Ringen um ein verfassungsgemäßes FAG mutet deshalb wie
die Suche nach dem Stein der Weisen an.
I. Gesetzgebung im Finanzausgleich als unmögliches Unterfangen
Worin liegt die besondere Schwierigkeit einer Regelung des Länderfinanzausgleichs? Das FAG setzt einen im Grundgesetz verankerten Gesetzgebungsauftrag
um. Dem Bundesgesetzgeber wird dort die Aufgabe zugewiesen, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen. Die besondere Sprengkraft dieses Auftrages besteht darin, dass die Finanzausstattung für die Bundesländer eine essentielle Bedeutung hat. Ohne ausreichende Finanzmittel wären sie
handlungsunfähig.3 Zudem verleiht die Verfügung über Finanzmittel politische
Macht. Die Verteilung der Finanzen berührt das Gleichgewicht der Kräfte im
Bundesstaat und übt bedeutsamen Einfluss darauf aus.4
Aus diesen Gründen möchten die finanziell gut gestellten Länder möglichst
nur einen geringen Anteil ihrer selbst erwirtschafteten Einnahmen an die finanzschwachen Länder abgeben. Geber- und Nehmerländer stehen sich frontal gegen-
über. Bei knapper werdenden finanziellen Ressourcen wachsen die Spannungen
zwischen diesen Beteiligten an. Die Geberländer stöhnen unter der Last der ihnen
1 Im Folgenden FAG.
2 Vgl. BVerfGE 1, 117 ff. (Urteil vom 20.02. 1952); BVerfGE 72, 330 ff. (Urteil vom
24.07.1986); BVerfGE 86, 148 ff. (Urteil vom 27.05. 1992).
3 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 33.
4 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 39; Vogel, in: Isensee/Kirchhof,
HStR IV, 1990, § 87 Rn. 2, 12.
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auferlegten Ausgleichsleistungen und sprechen von einer Überstrapazierung des
Solidargedankens, während die finanzschwachen Länder im Gegenteil über eine
unzureichende Solidarität der Starken klagen.5
Die Verteilungsmaßstäbe richten sich an eine von vornherein begrenzte Anzahl
an Adressaten, nämlich die 16 Bundesländer. Das FAG besitzt also nur eine
geringe personelle Allgemeinheit. Da es sich um ein zustimmungsbedürftiges
Gesetz handelt, können die Länder als Betroffene den Gesetzgebungsprozess entscheidend beeinflussen. Der Länderfinanzausgleich stellt daher eine Sonderform
der Gesetzgebung in eigener Sache dar. Die aktuellen Finanzierungsinteressen
der Länder dominieren die Verhandlungen. Die Materie »Finanzen« begünstigt
hierbei die Orientierung an Kurzfristinteressen. Denn es lässt sich ohne größere
Mühe ausrechnen, zu welchen Ergebnissen jeder Verteilungsmaßstab für jedes
Land führt. Alle Beteiligten verfügen über das Wissen, dass und wie sich die
jeweils ausgehandelten Quoten finanziell auf ihre konkrete Situation auswirken.
Verhandlungsergebnisse und etwaige Zugeständnisse können sofort in »Zahlen«
umgerechnet werden.
Den Gesetzgebungsaufträgen im Bereich der Finanzverfassung liegt somit ein
besonderer Interessenkonflikt zugrunde, der zu einer Dominanz des Politischen
führt. Der Entscheidungssprozess wird hauptsächlich von den kurzfristigen
(finanziellen) Interessen der Länder beeinflusst. Er kann als ein Machtkampf charakterisiert werden, dessen Ergebnis (das FAG) nur einen augenblicklichen Kompromiss festschreibt. Die Phasen, in denen alle Beteiligten mit der ausgehandelten Fassung des FAG wenigstens einigermaßen zufrieden sind, sind deshalb selten und bislang nur von kurzer Dauer gewesen.6
In den früheren Urteilen zur Finanzverfassung hatte sich das Bundesverfassungsgericht bereits wiederholt dagegen gewandt, die Finanzverfassung als eine
politische und nicht justiziable Materie einzustufen. Vielmehr stellten die Finanzverfassungsnormen Vorgaben auf, die ein »reines Aushandeln« der einfachgesetzlichen Regelung zwischen den Ländern verbieten. Der Bundesgesetzgeber als
nicht unmittelbar Betroffener werde von der Verfassung bewusst beauftragt, eine
gesetzliche Lösung für diesen Verteilungskonflikt zu normieren. Ihm wurde eine
besondere Verantwortung zugewiesen. Das Gericht machte deutlich, dass sich die
politische Auseinandersetzung nicht verselbständigen dürfe, sondern die Finanzverfassung einen verbindlichen rechtlichen Rahmen vorgebe.
Die früheren Urteile konnten den Streit um die Ausformung des FAG nicht beilegen. Auch wenn das Gericht versuchte, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung zu stärken, konnte ein dauerhafter Ausgleich der konträren Positionen nicht erreicht werden. Die jeweilige Fassung des FAG legte keine abstrakten Kriterien der Verteilung fest, sondern bildete allein in einem Kompromiss die
zum Verhandlungszeitpunkt bestehenden konkreten Länderinteressen ab. Sobald
5 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 25; Seybold, Der Finanzausgleich im
Kontext des deutschen Föderalismus, 2005, 21.
6 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 25.
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sich diese änderten, schwand die Akzeptanz gegenüber den festgehaltenen Modalitäten der Verteilung.
Die erneute Stellungnahme des Gerichts wurde deshalb mit Spannung erwartet.
Und das Gericht erließ ein überraschendes Urteil.
II. Neuer prozeduraler Lösungsversuch im Maßstäbe-Urteil
Wie in der weiteren Untersuchung noch genauer dargestellt wird, stärkt das Gericht die »prozedurale Seite« des Länderfinanzausgleichs. Mit dem sog. »Maßstäbe-Urteil etabliert es den Gedanken einer Verfahrensgerechtigkeit gegenüber
einer bloßen Ergebnisgerechtigkeit. Das Gericht leitet aus den Normen der Finanzverfassung einen zweistufigen Gesetzgebungsauftrag ab. Der Bundesgesetzgeber soll zuerst ein Maßstäbegesetz erlassen, in dem er allgemeine Grundsätze
für den Finanzausgleich festschreibt. In einem zweiten – zeitlich abgesetzten –
Schritt habe er diese Maßstäbe dann in einem Finanzausgleichsgesetz näher auszuführen. Dem Maßstäbegesetz schreibt das Gericht einen besonderen Rang zu;
es soll – einmal erlassen – eine Bindungswirkung für den Gesetzgeber besitzen.
Das Gesetzgebungsverfahren müsse so ausgestaltet sein, dass die Abgeordneten
zum Zeitpunkt der Maßstäbegesetzgebung möglichst kein Wissen über die späteren Finanzierungsinteressen der Bundesländer besitzen. Das Bundesverfassungsgericht beruft sich hierbei innerhalb seiner Argumentation auf den »Schleier des
Nichtwissens« von John Rawls. Es zitiert ausdrücklich dessen Werk Eine Theorie
der Gerechtigkeit. Dieser Verweis auf eine rechtsphilosophische Konzeption bildet den Anlass der vorliegenden Untersuchung.
III. Überraschender Verweis auf John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie
Die Begründung des Gerichts hat die Literatur in Erstaunen versetzt. Überwiegend ist die direkte Verbindung von philosophischer und juristischer Argumentation auf strikte Ablehnung gestoßen.
Warum wird der Verweis auf eine moderne Gerechtigkeitstheorie als ein »Fehlgriff« eingeordnet? Schließlich handelt es sich bei John Rawls um einen der
bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts.7 In einem Nachruf
anlässlich seines Todes im Jahre 2002 wird er als der wichtigste amerikanische
Philosoph seit John Dewey eingeordnet.8 Seine Werke werden als Klassiker angesehen. Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, die politische Philosophie wieder
7 Vgl. Dworkin, Rawls and The Law, Fordham Law Review 2004, 1387 ff.; Freeman, Introduction: John Rawls – An Overview, in: Freeman, Cambridge Companion to Rawls, 2003,
1 ff.; Kersting, John Rawls, 2001, 7 ff.; Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 3 ff.; Lübbe, Die Auferstehung
des Sozialvertrages: John Rawls Gerechtigkeitstheorie, Rechtstheorie 8 (1977), 185, 185.
8 Dorf, http:// writ.findlaw.com/dorf/ 20021211.html (Stand Juni 2005).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.