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Idee der Gesellschaft als faires System sozialer Kooperation
Idee des freien und gleichen Bürgers
Idee der wohlgeordneten Gesellschaft
Idee der Grundstruktur
Idee des Urzustandes
Idee der öffentlichen Rechtfertigung
Leider fehlen in den Folgewerken eindeutige Aussagen, in welchem Verhältnis
die verschiedenen Ideen zueinander stehen. Rawls bleibt eine Antwort schuldig,
ob er seine Konzeption lediglich verfeinert darstellen wollte oder vielmehr umfassend neu strukturiert. Dieser Befund führt dazu, dass die Bedeutung des
Schleiers in seinen späteren Werken mit einem »Fragezeichen« versehen werden
muss. Wird diese Gedankenfigur durch konkurrierende Ideen verdrängt? Das ist
in zweierlei Hinsicht denkbar: Zum einen ist unklar, wie das Verhältnis von Urzustand und der Idee der freien und gleichen Person aufzufassen ist. Es scheint,
als verliert die Urzustandsbeschreibung und damit auch der Schleier als zentrale
Bedingung an Bedeutung. Diese Veränderung an der Spitze des Vier –Stufen –
Gangs könnte sich auch auf die untergeordneten Ebenen Verfassungs- und Gesetzgebung auswirken. Zum anderen könnte ein Konkurrenzverhältnis zwischen
der Figur des Schleiers selbst und der Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs
bestehen. Rawls scheint sich innerhalb seines Folgewerkes den Überlegungen der
Diskurstheoretiker zu nähern.
3. Veränderter Urzustand
Die Idee des Urzustandes bleibt im Politischen Liberalismus grundsätzlich erhalten. Mit Hilfe dieser Ausgangssituation will Rawls auch in seiner weiterentwikkelten Konzeption einen Standpunkt aufzeigen, von dem aus eine faire Übereinkunft zwischen Personen erreicht werden kann.541 Zu untersuchen ist, inwieweit
er hierbei auf seine Ausführungen in Eine Theorie der Gerechtigkeit zurückgreift
oder Veränderungen vornimmt.
a) (Kantischer) Konstruktivismus542
In seinen Folgewerken betont Rawls noch mehr den modellhaften Charakter der
Ausgangssituation. Der Urzustand ist ein Darstellungsmittel, ein Bild, um Freiheit und Gleichheit von Personen auszudrücken.543 Als Gedankenexperiment hilft
er den Menschen herauszufinden, welchen Gerechtigkeitsgrundsätzen sie zustimmen würden. Es handelt sich um eine vorgestellte Situation, die der öffentlichen
Reflexion und Selbstklärung dient.544 Der Urzustand steht für einen Überlegungs-
541 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 90.
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prozess unter idealen und nicht historischen Bedingungen.545 Er ist ein Versuch,
die formalen und allgemeinen Elemente unseres moralischen Denkens in einer
handhabbaren und anschaulichen Konstruktion darzustellen.546
Die letzte Aussage zeigt, dass sich Rawls im Politischen Liberalismus ausdrücklich zu einem politischen Konstruktivismus bekennt.547 Er will mit dem
Urzustand einen Argumentationsrahmen entwickeln, der die Parteien zu den
Gerechtigkeitsgrundsätzen »führt«.548 Dabei ist dieser Rahmen »konstruiert«, das
heißt eine fiktive Situation. Die Parteien des Urzustands sind künstliche Personen, die allein Bestandteil einer idealen Entscheidungssituation sind.549 Als ausschließlich rational-autonome Akteure sind die Entscheidungsträger keine »normalen« Menschen, sondern Teil eines Gedankenexperiments. Dieses Bild der
Entscheidungsträger im Urzustand greift Rawls auch in Gerechtigkeit als Fairness auf. Sein Ziel ist es nicht, das wirkliche Verhalten der Menschen oder die
wirkliche Funktionsweise von Institutionen zu beschreiben. Mit dem Urzustand
werden keine realen Personen beschrieben.550 Die Parteien im Urzustand sind
Figuren, die in Rawls’ gedankenexperimentellem Stück eine Rolle spielen.551 Sie
gehören zu einem Konstruktionsverfahren, das einem philosophischen Zweck
dient. Mit seiner Hilfe kann eine bestimmte Form der Übereinkunft erklärt beziehungsweise legitimiert werden.552
Rawls’ Folgewerke zeichnen sich im Hinblick auf das Darstellungsmittel
Urzustand dadurch aus, dass er nunmehr das Ausgangsmaterial und das Konstruktionsverfahren für seine Überlegungen offen legt. In seinem Grundwerk
Eine Theorie der Gerechtigkeit führt er nicht genauer aus, inwieweit Wertvorstellungen in die Figur des Urzustandes einfließen. Deutlich wurde dies bei der
542 Der Begriff des Konstruktivismus steht grundsätzlich für eine bestimmte Wissenschaftstheorie. Die konstruktivistische Wissenschaftstheorie unterscheidet sich von der analytischen Wissenschaftstheorie dadurch, dass sie zuerst um ein Vorverständnis über das zu
Leistende bemüht ist und erst im Anschluss hieran die Methoden der jeweiligen Wissensbildung bestimmt. Vgl. hierzu Lorenzen, Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie 1987, 9, 229. Rawls wiederum versteht politischen Konstruktivismus als eine Methode,
die Struktur und den Inhalt einer politischen Konzeption zu verstehen. Seine Grundsätze
der Gerechtigkeit sind das Ergebnis eines bestimmten Konstruktionsverfahrens, vgl. Politischer Liberalismus, 169.
543 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 93.
544 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 94.
545 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 385; Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 41.
546 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 387.
547 Den konstruktivistischen Charakter von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie von Anfang an
betont haben beispielsweise Barry, Theories of Justice, 1989; Dworkin, Justice and Rights,
in: Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge 1977, 165 (Übersetzt von Wolf, Ursula,
Gerechtigkeit und Rechte, in: Bürgerrechte ernst genommen, 1990, 266 ff.); O`Neill, Constructions of Reason, 1989.
548 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 208.
549 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 152.
550 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 133.
551 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 136.
552 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 81 Fussnote.
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Frage, welche Funktion die Liste mit den zu wählenden Gerechtigkeitsgrundsätzen erfüllt. Durch sie gelangen »versteckt« traditionelle Gerechtigkeitsauffassungen in die Urzustandsbeschreibung. Im Politischen Liberalismus hingegen
beschreibt Rawls sein Vorgehen differenzierter. Nach seiner Ansicht enthält die
politische Kultur einer demokratischen Gesellschaft zumindest stillschweigend
gewisse grundlegende intuitive Ideen. Von diesen Gemeinsamkeiten ausgehend,
kann man eine politische Gerechtigkeitskonzeption erarbeiten.553
b) Die Komponenten: das Vernünftige und das Rationale
Rawls unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Komponenten des Urzustandes: das Vernünftige und das Rationale. Die beiden Grundideen wirken für ihn im
Urzustand zusammen und ergänzen einander.554 Auch in Gerechtigkeit als Fairness nimmt Rawls diese Untergliederung vor.555
Es ist hierbei schwierig, die genauen Anknüpfungspunkte zwischen diesem
neuen Begriffspaar und Rawls’ Ausführungen in Eine Theorie der Gerechtigkeit
aufzuzeigen. Rawls selbst spricht davon, dass er im Politischen Liberalismus
nunmehr fünf Ideen des Guten verwende.556 Die Idee des Guten als des Rationalen
ist für Rawls in seinen Folgewerken das gedankliche Grundgerüst für die Schwache Theorie des Guten. Wie bei den Ausführungen zu Eine Theorie der Gerechtigkeit aufgezeigt, benötigt Rawls diese Theorie um den vernünftigen Wunsch
nach Grundgütern zu erklären.
Im Politischen Liberalismus umsschreibt Rawls mit der Idee des Rationalen
diesen Aspekt seiner Gerechtigkeitskonzeption genauer. Er beschreibt das intellektuelle und moralische Vermögen der Menschen. Sie haben die Fähigkeit, eine
Konzeption des Guten auszubilden, zu verfolgen, zu verändern und können in
Übereinstimmung mit ihr praktische Überlegungen anstellen.557 Sie sind somit
grundsätzlich in der Lage, zu urteilen und zu überlegen, welches ihre ureigensten
Zwecke und Interessen sind.558
Die Idee des Vernünftigen hingegen wird durch die Entscheidungssituation,
durch die Umstände des Urzustandes repräsentiert. Die Parteien werden im Urzustand durch vernünftige Bedingungen eingeengt. Vernünftig sind hierbei diejenigen Beschränkungen, die sich ergeben, sofern die Repräsentanten in eine symme-
553 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 108, 182, 460.
554 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 124. Diese Differenzierung wird als eine entscheidende Weichenstellung angesehen: Dreben, On Rawls and Political Liberalism, in: Freeman, Cambridge Companion to Rawls, 2003, 316, 323. Vgl. hierzu auch die prägnante Darstellung bei Alejandro, The Limits of Rawlsian Justice, 1998, 75 ff.
555 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 134.
556 Die Idee des Guten als Rationalen, Die Idee der Grundgüter, Die Idee zulässiger umfassender Konzeptionen des Guten, Die Idee der politischen Tugenden, Die Idee des Gutes
einer wohlgeordneten politischen Gesellschaft, Rawls, Politischer Liberalismus, 266. 269.
557 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 149.
558 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 123.
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trisch strukturierte Situation gebracht werden. Der Urzustand enthält Bedingungen, die Ungleichgewichte zwischen den beteiligten Parteien ausschließen. Der
Begriff des Vernünftigen umschreibt das Element sozialer Kooperation: Personen, die kooperieren, müssen daraus Vorteile ziehen und die gemeinsamen Belastungen in angemessener Form teilen.559 Der Schleier des Nichtwissens bildet
hierbei das zentrale Merkmal.560
Kritisch ist anzumerken, dass Rawls’ Terminologie an dieser Stelle nicht überzeugen kann. Er verwendet den Begriff des Vernünftigen abweichend zu seinen
Äußerungen in Eine Theorie der Gerechtigeit. Der Begriff der abwägenden Vernunft bezog sich dort auf die schwache und vollständige Theorie des Guten. Nunmehr umschreibt Rawls mit der Idee des Vernünftigen die Randbedingungen seines Urzustandsmodells. Den Begriff des Rationalen hingegen scheint Rawls zu
verwenden, um eine Form empirisch praktischer Vernunft zu umschreiben.561
Diese abweichende Begriffsverwendung ist verwirrend und wird von ihm nicht
in ausreichendem Maß begründet. Wenn Rawls selbst die Unterscheidung zwischen dem Vernünftigen und dem Rationalen auf Kant zurückführt, so müsste er
diese Differenzierung dennoch umfassender erläutern.562
c) »Mischung« Urzustand
Durch das Informationsdefizit ist es den Parteien nicht möglich, einseitig Partikularinteressen zu verfolgen. Das Element der Rationalität wird durch die vernünftigen Bedingungen zurückgedrängt. Es geht jedoch nach Ansicht von Rawls
nicht verloren, denn das Nichtwissen wird in seiner Theorie weiter durch die Idee
der Grundgüter kompensiert. Das Vernünftige setzt das Rationale voraus und ist
ihm übergeordnet.563 Es umrahmt das Rationale und ist aus einem Begriff der moralischen Person als frei und gleich abgeleitet.564 Hierbei will Rawls das Verständnis der Grundgüter in seinen Folgewerken genauer darstellen beziehungsweise
verbessern.565
Die Idee der Grundgüter beruht darauf, dass es Ähnlichkeiten zwischen den
unterschiedlichen Konzeptionen des Guten gibt. Alle Konzeptionen benötigen
eine bestimmte Basis von Grundgütern.566 Die Parteien im Urzustand kennen mit
diesen Gütern die allgemeine Struktur von Lebensplänen. Die Grundgüter können
559 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 98, Rawls, Politischer Liberalismus, 122.
560 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 39, 40.
561 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 120 Fussnote.
562 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 120.
563 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 100.
564 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 103.
565 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 405; Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 143.
566 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 274.
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insofern als die Hauptbestandteile denkbarer Konzeptionen des Guten angesehen
werden.567 Aus diesem Grund können die Parteien auch unter dem Schleier des
Nichtwissens weiter rational handeln, sie können interpersonelle Nutzenvergleiche vornehmen. 568
Der Urzustand spiegelt insgesamt die Idealvorstellung eines Vorrangs des Vernünftigen vor dem Rationalen wider.569 Durch den Schleier des Nichtwissens wird
garantiert, dass in die Entscheidungsfindung moralische Überlegungen Einfluss
finden.570 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass Rawls die Menschen
im Urzustand nicht als Altruisten, sondern als Egoisten ansieht. Die Selbstbezogenheit sieht er hierbei nicht als Makel, sondern als Bestandteil des menschlichen
Wesens an. Er konstruiert jedoch mit dem Schleier des Nichtwissens eine Bedingung, die die Menschen zur Vernunft »zwingt.« Der Urzustand verkörpert Rawls’
Vorstellung von Autonomie: Die Parteien handeln rational, ihnen wird jedoch
durch vernünftige Beschränkungen ein Rahmen gesetzt.571
4. Veränderter Schleier des Nichtwissens
Für den Schleier des Nichtwissens ergibt sich hieraus, dass er Teil eines Argumentationsrahmens und der Idee des Vernünftigen zuzuordnen ist. Er stellt eine
Bedingung dar, die es den Menschen unmöglich macht, allein nutzenorientiert zu
handeln. Der Schleier diszipliniert das zweckgerichtete Handeln der Menschen,
er verkörpert den Vernunftaspekt innerhalb des Urzustandes. Er stellt quasi das
»Medikament« für den bestehenden »Egoismus« der Parteien dar, wobei Rawls
versucht, seine radikale Wirkung durch die Idee der Grundgüter abzumildern.
a) Ausgeschlossenes Wissen – erlaubtes Wissen
Auch im Hinblick auf die Wirkungsweise des Schleiers greift Rawls auf seine Unterscheidung zwischen umfassender Lehre und politischer Konzeption zurück.
Der Schleier blendet die umfassenden Lehren der Menschen aus. Er ermöglicht
es damit, Gerechtigkeitsgrundsätze zu beschließen, die mit den verschiedensten
Positionen vereinbar sind. Das Nichtwissen ist entscheidend, um zu einem übergreifenden Konsens zu gelangen.572
Wie bereits aufgezeigt, hatten Stimmen in der philosophischen Literatur kritisiert, dass Rawls im Urzustand ein zu umfassendes Allgemeinwissen voraussetze.
Im Politischen Liberalismus distanziert sich Rawls ausdrücklich von einem zu
567 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 428.
568 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 103.
569 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 134.
570 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 123.
571 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 156.
572 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 92.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.