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ccc) Repräsentation und»klassische« Vertragstheorien
Wie Rawls in seinen späteren Werken klarstellend ausführt, entwickelt er eine
Gerechtigkeitskonzeption für moderne westliche Demokratien. Der Repräsentationsgedanke ist ein Hinweis darauf, dass er den Anwendungsbereich seiner
Theorie »überarbeitet« hat. Rawls hat in seinen Folgewerken berücksichtigt, dass
der Gedanke der Repräsentation Teil unserer wohlüberlegten Urteile ist. Insofern
hat er seine Urzustandsbeschreibung modifiziert und sie dadurch näher an die politische Realität angepasst.
Er entfernt sich hierdurch weiter von den klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrages, insbesondere von Rousseau, der eine Beteiligungsallgemeinheit
beziehungsweise eine identitäre Entscheidung fordert.600 Jedoch besteht weiterhin eine Übereinstimmung zwischen Rawls und Kant, die im Rahmen der Stellungnahme noch vertieft erörtert wird. Denn Kant beschreibt im Rahmen seiner
Rechtslehre ein Gedankenexperiment, das sich an den Gesetzgeber richtet und
ebenfalls den Repräsentationsgedanken beinhaltet:
»..Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze
so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen
können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu
einem solchen Willen mit zusammengestimmt habe. Denn das ist der Probierstein
der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben
könnte…..so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, dass ein Volk dazu zusammenstimmte, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten: gesetzt auch, dass
das Volk jetzt in einer solchen Lage oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß
es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlich seine Bestimmung verweigern
würde.601
5. Konkurrenz: die Idee der freien und gleichen Person
Bereits in seinem Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit führt Rawls aus,
dass sich die Teilnehmer des Urzustands in einer symmetrischen Verhandlungsposition befinden. Der Schleier des Nichtwissens garantiert, dass sie als freie und
gleiche Entscheidungsträger agieren. Diesen Gedanken baut Rawls in seinen späteren Werken zu einer eigenständigen Vernunftidee aus: der Idee der freien und
gleichen Person. Diese nimmt in seinen späteren Veröffentlichungen einen breiten Raum ein, er erörtert sie ausführlich und differenziert. Seine Grundkonzep-
600 Vgl. Rousseau, Contrat Social, 13. Kapitel, 103 »Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst
beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz«.
601 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht
für die Praxis, herausgegeben von Heiner F. Klemme, 1992, 29.
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tion der Person wird zum entscheidenden Ausgangsmaterial für die Konzeption
einer Gerechtigkeit als Fairness.602
Fraglich ist, wie das Verhältnis des neuen »Bausteins« zum Urzustand und zum
Schleier des Nichtwissens eingeordnet werden kann. Rawls führt nur sehr knapp
aus: Die Idee des Urzustandes bestimmt die fairen Modalitäten der Kooperation.
Die Idee der freien und gleichen Person beschreibt die Parteien, die an der Kooperation beteiligt sind.603
Nach dieser Beschreibung scheinen beide Vorstellungen gleichwertig nebeneinander zu stehen. Sie ergänzen einander, indem sie zusammen zu einer fairen
Form der Zusammenarbeit zwischen den Gesellschaftsmitgliedern führen. Doch
wird die Ausstattung der Urzustandsteilnehmer hierdurch nicht verändert?604
Rückt durch die Idee der freien und gleichen Person ein bestimmter Aspekt der
Gerechtigkeitstheorie mehr in den Vordergrund?605 Verliert der Schleier des
Nichtwissens an Bedeutung, weil Rawls von einer Situationsbeschreibung zu
einer idealisierten Personenbeschreibung überwechselt?
Im Folgenden wird in einem ersten Schritt Rawls’ Idee der freien und gleichen
Person kurz dargestellt und dann erörtert, welche Auswirkungen diese Vorstellung auf die Figur des Schleiers hat. Dabei ist Bezugspunkt zuerst ein Aufsatz
(»Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie«) von Rawls, der auf einer
Vorlesung von 1980 beruht. Darin möchte Rawls die kantischen Wurzeln seiner
Konzeption einer Gerechtigkeit als Fairness klarer herausstellen.606 Dieser Aufsatz wird hier deshalb herangezogen, weil er einen Anhaltspunkt dafür bietet,
warum Rawls verstärkt die Idee einer moralischen Person aufgreift.
a) Inhalt der Grundidee
Rawls erläutert in seiner Veröffentlichung genauer, was er meint, wenn er Teile
seiner Theorie als »kantisch« einordnet. Das Adjektiv »kantisch« bedeutet für ihn
Analogie, nicht Identität, seine Lehre ähnele der von Kant in vielen grundlegenden Hinsichten, sie stehe ihr nahe.607
Im Hinblick auf die Idee der freien und gleichen Person führt Rawls aus, dass
er sich am kantischen Personenverständnis orientiere.608 In einer kantischen Kon-
602 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 186.
603 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 53.
604 Vgl. Kersting, John Rawls, 2001, 179.
605 Vgl. Kersting, John Rawls, 2001, 175.
606 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 80. Auf das Verhältnis von Schleier des Nichtwissens
und kategorischem Imperativ wird in der abschließenden Stellungnahme noch genauer eingegangen.
607 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 82.
608 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 81.
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zeption müssen der Begriff Person, das Konstruktionsverfahren und die obersten
Gerechtigkeitsgrundsätze in einer bestimmten Weise miteinander verbunden
sein.609 Diesen Leitgedanken greift Rawls auf, die bestimmte Vorstellung einer
Person wird zu einem entscheidenden Ausgangspunkt. Er möchte mit seinen Ausführungen eine Konzeption der Person präzisieren, die der öffentlichen Kultur
einer demokratischen Gesellschaft stillschweigend zugrunde liegt.610
Rawls präzisiert in seinem Aufsatz auch die Rolle des Urzustandes. Dessen
Aufgabe besteht darin, die Verbindung zwischen der Idee einer moralischen Person und den Gerechtigkeitsgrundsätzen herzustellen.611 Der Urzustand beschreibt
das Verfahren, mit dessen Hilfe ein besonderer Begriff der Person mit bestimmten
obersten Grundsätzen verknüpft wird.612 Der Urzustand verkörpert reine Verfahrensgerechtigkeit; die Idee der freien und gleichen Person ist dagegen eine inhaltliche Idee, die durch den Urzustand als Verfahren umgesetzt wird. Das Vernünftige umrahmt das Rationale und ist aus einem Begriff der moralischen Person als
frei und gleich abgeleitet.613 Dies bedeutet: Die Idee der freien und gleichen Person hat Vorrang, der Urzustand ist »nur« ein Bild, eine Konstruktion, um diese
Idee abzubilden. Der Urzustand wird also zu einem Argument, das die Konzeptionen der Gesellschaft und der Person nachbildet.614
Im Politischen Liberalismus folgt Rawls diesem veränderten Ansatz: Die Idee
der Person ist Teil einer Konzeption politischer und sozialer Gerechtigkeit.615 Sie
basiert auf der Tradition des demokratischen Denkens. Wie in dem früheren Aufsatz angesprochen, ist für Rawls eine solche Vorstellung implizit in der öffentlichen politischen Kultur präsent.616 Die Vorstellung der freien und gleichen Person
beruht für ihn nicht auf metaphysischen oder psychologischen Annahmen. Stattdessen sieht er sie als impliziten Bestandteil unserer öffentlichen politischen Kultur an. Sie ist in den politischen Grundtexten wie Verfassungen und Menschenrechtserklärungen präsent. Die Idee der Person ist ein Extrakt unserer politischen
Grundüberzeugungen.617
Im Hinblick auf den genauen Inhalt dieser Vernunftidee präzisiert Rawls seine
Ausführungen: Er betont, dass es sich bei den Bürgern im Urzustand um freie und
609 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 82.
610 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 85.
611 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 87.
612 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 89.
613 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 103.
614 Vgl. Rawls Politischer Liberalismus, 189.
615 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 417, 495.
616 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 87.
617 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 45.
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gleiche Personen handelt.618 Sie besitzen zwei moralische Vermögen: 1. die
Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn 2. die Befähigung zu einer Konzeption des
Guten.619 Rawls definiert diese beiden Anlagen der Menschen noch genauer.
Unter einem Gerechtigkeitssinn versteht er die Fähigkeit, eine öffentliche
Gerechtigkeitskonzeption zu verstehen und ihre Regeln zu befolgen.620 Diese
Definition findet sich bereits in Eine Theorie der Gerechtigkeit, hier liegen keine
Veränderungen vor. Die Befähigung zu einer Konzeption des Guten ist dann für
Rawls das Vermögen, eine Vorstellung vom eigenen rationalen Vorteil oder Wohl
ausbilden, revidieren und verfolgen zu können.621 Wichtig ist, dass die jeweilige
Konzeption des Guten nicht unveränderlich ist. Sie kann sich vollständig wandeln.622
b) Verbindungslinien zum Schleier des Nichtwissens
Zu überlegen ist, welche Auswirkungen die Weiterentwicklung der Rawlsschen
Konzeption auf den Urzustand und letztlich auf die Gedankenfigur des Schleiers
hat.
Wie aufgezeigt, wurde Rawls in Anmerkungen zu Eine Theorie der Gerechtigkeit vorgeworfen, ein unplausibles Menschenbild zu konstruieren: Durch die
Bedingung »Nichtwissen« verkörpere der Urzustand eine Vorstellung, die zwischen der Person selbst und ihren Werten differenziere. Entscheidend für Rawls
seien fälschlicherweise nicht die Ziele, die die Menschen wählen, sondern ihre
Fähigkeit zu wählen an sich.623
Mit der Idee der freien und gleichen Person erhebt Rawls in seinen Folgewerken einen Aspekt des Schleiers des Nichtwissens zu einer eigenständigen Vernunftidee. Indem er verdeutlicht, dass seiner Urzustandsbeschreibung eine
bestimmte Konzeption der Person zugrunde liegt, reagiert er auf diese am
Schleier des Nichtwissens geübte Kritik.
So antwortet Rawls im Politischen Liberalismus ausdrücklich auf die Rezeption seiner Theorie. Er sieht es als ein Missverständnis an, wenn Sandel ihm eine
besondere metaphysische Konzeption der Person unterstelle. Für Rawls hat der
Schleier keine metaphysischen Implikationen, die das Wesen des Selbst betreffen. Er setzt nicht voraus, dass es ein vorgängiges Selbst gibt. Rawls vergleicht
den Urzustand in diesem Zusammenhang mit einem Rollenspiel: »Das Eintauchen in den Urzustand erlaubt es uns, in eine andere bildhafte Rolle zu schlüp-
618 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 85.
619 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 85; Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 44.
620 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 85.
621 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 86.
622 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 86.
623 Vgl. Sandel, The Procedural Republic and the unencumbered Self, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 4, 217, 222.
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fen.«624 Die Parteien im Urzustand sind nichts anderes als Konstruktionselemente. Sie sind künstliche Schöpfungen, die ein Darstellungsmittel bewohnen
und nicht ein Bild der menschlichen Natur repräsentieren.625
Rawls versteht somit den Urzustand nicht dahin gehend, dass er ein bestimmtes
Menschenbild aufzeigt. Diese Weichenstellung möchte er verdeutlichen, wenn er
in seinen Folgewerken ausdrücklich zwischen der Figur des Schleiers und der
Idee der freien und gleichen Person unterscheidet.
Denn in Zusammenhang mit der neu eingeführten Vernunftidee betont er von
Anfang an den Unterschied zwischen einem Begriff der Person und einer Theorie
der menschlichen Natur. Der Begriff der Person ist für ihn ein moralisches Ideal.
Die Aufgabe einer Morallehre besteht darin, eine Konzeption der Person zu
beschreiben, die mit den allgemeinen Tatsachen der menschlichen Natur vereinbar ist.626 Eine besondere Theorie der menschlichen Natur hingegen gehört für
Rawls nicht zu den Rahmenbedingungen seines Urzustandes. Die Vorstellung
einer Person baut vielmehr auf einem bereits vorhandenen Menschenbild auf. Die
gesamte Konzeption von Rawls setzt eine solche Theorie als gegeben voraus. Die
Parteien im Urzustand haben Kenntnisse über allgemeine Tatsachen und damit
über eine Theorie der menschlichen Natur. Rawls will kein bestimmtes »Menschenbild« als eine weitere Bedingung seiner Entscheidungssituation festlegen.627
In der Literatur wird bezweifelt, ob Rawls in seinen Folgewerken tatsächlich
lediglich eine solche politische Philosophie entwirft.628 Die Kritik, die sich in der
Rezeption seines Grundwerkes gegen den Schleier des Nichtwissens richtete,
setzt nunmehr an der Idee der freien und gleichen Person an. Es wird kontrovers
diskutiert, ob es sich bei Rawls’ Personenverständnis um anthropologische
Wesensaussagen oder, wie von ihm angestrebt, um hermeneutische Aussagen
über die Grundlage des Selbstverständnisses einer bestimmten Kultur handelt.629
Insgesamt geht es bei der Idee der freien und gleichen Person um eine Ausdifferenzierung von Eine Theorie der Gerechtigkeit. Rawls legt nunmehr ausdrücklich offen, dass in seine Urzustandbeschreibung eine Idee der Person einfließt, die
er als Bestandteil unserer politischen »Common sense«-Vorstellungen ansieht.
Die Figur des Schleiers wird hierdurch in gewisser Weise entlastet. Denn schon
die Idee der freien und gleichen Person zeigt, dass jeder Bürger die Fähigkeit
624 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 95.
625 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 96.
626 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 106.
627 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Hinsch, Die Idee des
politischen Liberalismus, 1994, 80, 107.
628 Vgl. Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Zur Idee
des politischen Liberalismus, 1997, 169, 182; Hauke, Liberalismus, metaphysisch und
politisch. Anmerkungen zu einem freistehenden politischen Liberalismus bei John Rawls,
ARSP 2005, 49 ff.
629 Vgl. Siep, Rawls’ politische Theorie der Person, in: Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus, 1997, 380, 382, 385.
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besitzt, seine Konzeption des Guten zu verändern, zu revidieren. Er besitzt schon
qua Person die Möglichkeit, sich von seinen früheren Lebensplänen zu distanzieren. Diese Fähigkeit wird durch den Schleier des Nichtwissens radikalisiert. Er
blendet die persönlichen Interessen und die persönliche Identität der Entscheidungsträger vollständig aus.
Allerdings könnte man in dieser Weiterentwicklung der Rawlschen Theorie
auch einen Rückschritt sehen. Mit der Idee des freien und gleichen Bürgers wird
der Urzustand stärker personalisiert. Der Schleier des Nichtwissens wird um ein
weiteres Ideal ergänzt. Überspitzt formuliert, verwässert Rawls hierdurch seine
Gerechtigkeitskonzeption. Denn die Faszination an dem Schleier des Nichtwissens kann gerade darin gesehen werden, dass er unsere politischen Vorstellungen
in eine bildhafte Verfahrensbedingung verwandelt. Indem Rawls die Fähigkeiten
der Person in seinen Folgewerken zu einem eigenständigen Baustein seiner Theorie erhebt, legt er, positiv betrachtet, die Grundlagen seiner Urzustandsbeschreibung deutlicher offen. Negativ gewandt verliert der Schleier seine zentrale Stellung in Rawls’ Konzeption und wird zu einer Verfahrensbedingung, die lediglich
die nunmehr im Vordergrund stehende Idee der Person ergänzt.
6. Konkurrenz: die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs
Der Schleier des Nichtwissens könnte in den Überarbeitungen einer Theorie der
Gerechtigkeit zudem auch von einer anderen Figur verdrängt worden sein. Denn
Rawls entwickelt innerhalb seiner Folgewerke einen weiteren neuen Baustein:
die Idee eines öffentlichen Vernunftgebrauchs. Dieses Ideal wird zu einem Teil
seiner politischen Gerechtigkeitskonzeption.630 Es ist für ihn eine angemessene
Ergänzung für eine konstitutionelle Demokratie, deren Kultur von einer Pluralität
vernünftiger Lehren gekennzeichnet ist.631 In der Sekundärliteratur wird diese
Veränderung der Rawlsschen Theorie umfassend rezipiert.632 Zahlreiche Aufsätze
setzen sich kritisch mit dieser Figur auseinander, die oftmals als die wichtigste
Neuerung in Rawls’ späteren Schriften eingeordnet wird. 633
Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen drei Werke von Rawls. Die
Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs beschreibt er ausführlich im Politischen
Liberalismus.634 Er hat diesen Bestandteil seiner politischen Konzeption dann in
630 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 313.
631 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 360.
632 Vgl. Baur, On Actualizing Public Reason, Fordham Law Review 2004, 2153 ff.; Freeman,
Public Reasons and Political Justifications, Fordham Law Review 2004, 2021 ff.; Thompson, Public Reason and Precluded Reasons, Fordham Law Review 2004, 2073 ff.; v. d.
Brink, Politischer Liberalismus und ziviler Perfektionismus, DZPhil 50 (2002), 907, 912.
633 Vgl. Ferrara, Öffentliche Vernunft und Normativität des Vernünftigen, DZPhil 50 (2002),
925, 926.
634 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 312 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.