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7. Teil:
Schleier des Nichtwissens unter dem Grundgesetz
Im vorherigen Abschnitt wurde erörtert, warum das Bundesverfassungsgericht
gerade im Spezialbereich Finanzverfassung auf den Schleier des Nichtwissens
verweist. Zwischenergebnis war, dass der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers mit der Struktur des Länderfinanzausgleichs in besonderem Maß kompatibel erscheint. Rawls beschäftigt sich in seiner Konzeption mit Verteilungskonflikten innerhalb moderner demokratischer Gesellschaften und zeigt eine ideale
Theorie als Leitbild auf.
Dennoch kann der Bereich der Finanzverfassung nicht derart isoliert betrachtet
werden. Wie im fünften Abschnitt der Untersuchung aufgezeigt, stellt die Finanzverfassung keinen unabhängigen Teil des Grundgesetzes dar. Sie bleibt auf die
Funktionsnormen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung angewiesen.
Dies bedeutet jedoch, dass nicht nur diskutiert werden muss, ob die Rawlssche
Theorie auf Verteilungskonflikte im Finanzausgleich anwendbar erscheint, sondern auch, ob der Schleier des Nichtwissens mit den allgemeinen Aussagen des
Grundgesetzes zur Gesetzgebung kompatibel ist. Ein solches Untersuchungsprogramm geht über den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts hinaus. Das Gericht
beschäftigt sich allein mit der Entscheidungssituation im Länderfinanzausgleich
und stellt nur für diese Fallkonstellation zusätzliche Anforderungen an das
Gesetzgebungsverfahren auf. Es stützt seine Argumentation hierbei unmittelbar
auf die Finanzverfassungsnormen, entwickelt einen veränderten Gesetzgebungsbegriff und verweist ergänzend auf Rawls. Dieses Vorgehen zeigt jedoch gleichzeitig, dass der Rückgriff auf den Schleier des Nichtwissens auch auf den Funktionsbereich Gesetzgebung ausstrahlt.
Das Maßstäbe-Urteil gibt damit Anlass, umfassend über die Vereinbarkeit von
»Schleier des Nichtwissens« und Grundgesetz nachzudenken. Rawls entwickelt
im Rahmen seiner Gerechtigkeitskonzeption ein bestimmtes Bild idealer Gesetzgebung, in dem diese Gedankenfigur eine zentrale Rolle einnimmt. Inwieweit
ähnelt dieses Bild den Ansätzen der Gesetzgebungslehre? Ist es mit den »Eckpfeilern« des Grundgesetzes kompatibel?
Das Maßstäbe-Urteil besitzt deshalb eine Faszination, weil es eine Verbindung
zwischen einer Gerechtigkeitskonzeption und dem Grundgesetz herstellt. Wie
bereits an mehreren Stellen deutlich wurde, ist jedoch diese – zudem sehr vage
gehaltene – Verknüpfung auf massive Kritik gestoßen.
Unabhängig von inhaltlichen Bedenken fällt es möglicherweise schwer, bei
verfassungsrechtlichen Fragen über den dogmatischen »Tellerrand« hinaus zu
schauen und eine gerechtigkeitsorientierte Perspektive zuzulassen. So formuliert
Höffe sehr prägnant, dass eine solche Gerechtigkeitsperspektive im Nirgendwo
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lebe. Sie sei für das Gemeinwesen der Moderne utopisch geworden. In einem
komplex austarierten, dennoch uneingeschränkt positiven Gefüge habe die Berufung auf eine überpositive Instanz scheinbar ihren Sinn verloren.1377 Auch Starck
merkt kritisch an, dass der bei uns allgemein herrschende Verfassungsrechtspositivismus vergessen lassen habe, dass viele heute im Grundgesetz geregelte und
vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Fragen eine rechtsphilosophische
Basis besäßen.1378
Dieser Befund zeigt sich – für die vorliegende Untersuchung interessant – auch
in Stellungnahmen zum Fairnessgedanken. Eingang in die dogmatische Diskussion findet dieser vor allem im Zusammenhang mit strafprozessualen Fragestellungen, insbesondere dem Gebot des fairen Verfahrens.1379 Im Bereich der öffentlich-rechtlichen Literatur wird dieser Begriff kritisch betrachtet. Es handele sich
um eine allzu offene und vage Formel. Fairness stelle ein catch-word, ein
»Schwammwort« dar.1380 Durch den außerrechtlichen Standort des Fairness-
Topos sei nicht auszuschließen, dass er zu einem Schleusenbegriff für dezidiert
außerrechtliche Wertungen werde.1381
Eine derartige Verknüpfung von Rechtsethik und Verfassungsrecht muss
jedoch nicht negativ bewertet werden. Zuzustimmen ist der optimistischen Haltung Alexander Someks, der seine Monographie über Gleichheitsaspekte in der
Zuversicht schreibt, dass sich die Probleme der Rechtsdogmatik besser lösen oder
wenigstens besser verstehen lassen, wenn man sie aus der Perspektive der politischen Philosophie betrachtet.1382 Hier ist auch noch einmal auf die Interdisziplinarität der Gesetzgebungslehre hinzuweisen. Die Entwicklungen in diesem
Bereich zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der Schnittstelle zwischen Recht
und Rechtsethik liegen. Beschäftigt man sich mit der Frage einer »guten« Gesetzgebung, so darf ein Verweis auf mögliche ethische Konzeptionen nicht pauschal
abgelehnt werden.
I. Rawls und die Forderung nach einem allgemeinen Gesetz
Möglicherweise bestehen bereits Parallelen zwischen der Rawlsschen Konzeption und der »klassischen« Forderung nach einem allgemeinen Gesetz. Zu unter-
1377 Vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 3. Auflage, 2002, 18.
1378 Vgl. Starck, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das positive Recht, in: Alexy/Dreier/
Neumann (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, 1991, 376, 386.
1379 Vgl. Tettinger, Fairness als Rechtsbegriff im Deutschen Recht, Der Staat 36 (1997), 575 ff.
1380 Vgl. Tettinger, Fairness als Rechtsbegriff im Deutschen Recht, Der Staat 36 (1997), 575,
595.
1381 Vgl. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat: Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte,
1997, 149.
1382 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, 2. Ähnlich auch Höffe, Politische
Gerechtigkeit, 3. Auflage, 2002, 25, 28, der betont, dass die politische Gerechtigkeit den
normativ – kritischen Maßstab des Rechts darstelle.
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suchen ist, ob Rawls selbst die Allgemeinheit als ein Merkmal von Gesetzen annimmt.
1. Bezugspunkt Gesetzesherrschaft
In seinen Ausführungen zur Gesetzesherrschaft zeigt Rawls einen Idealbegriff
von Gesetzen auf, dem die tatsächlichen Gesetze möglichst nahe kommen sollen.1383 Aus dem Grundsatz »nullum crimen sine lege« leitet er ab, dass Gesetze
dem Wortlaut wie dem Geist nach allgemein sein müssen und nicht zur Schädigung bestimmter, womöglich namentlich aufgeführter Menschen (Proskription)
dienen dürfen.1384 Kann jedoch aus diesen eher beiläufigen Aussagen gefolgert
werden, dass Rawls die Allgemeinheit als ein grundsätzliches Merkmal von Gesetzen ansieht?
Hiergegen spricht, dass sich seine Ausführungen nur auf die Strafgesetze
beziehen. Ausdrücklich fordert er allgemeine Gesetze nur für einen Teilbereich
legislativen Handelns. Allerdings leitet er den Grundsatz »nullum crimen« aus
dem übergeordneten Gedanken des Gesetzessystems ab. Dies könnte bedeuten,
dass er anhand der Strafgesetze eine für alle Gesetze geltende Überlegung aufzeigt.
Sollte dies der Fall sein, so stellt Rawls jedoch nur eine Minimalforderung auf:
Er spricht sich gegen Einzelfallgesetze aus und verlangt damit allein abstrakt –
generelle Gesetze. Dies entspricht dem Begriff der formellen Allgemeinheit. In
die gleiche Richtung deutet auch eine weitere Textstelle: Rawls zitiert Sidgwick
und folgt dessen Ansicht, dass die Gleichheit bereits im Begriff des Gesetzes oder
der Institution enthalten sei, wenn man sie sich als Schema allgemeiner Regeln
vorstelle.1385
Möglicherweise ergänzt Rawls jedoch diese minimale Forderung. Denn er
führt auch aus, dass ein Regelsystem nichts Unmögliches verlangen und alle Fälle
gleich behandeln solle.1386 Müssen sich folglich Gesetze an einem Gleichheitskriterium messen lassen und verlangt Rawls demnach doch mehr als allein »schematische« Allgemeinheit?
Gegen einen solchen Interpretationsansatz ist einzuwenden, dass Rawls den
Gedanken der Gleichbehandlung vor allem auf die Gesetzesanwendung zu beziehen scheint. Zwar geben seiner Ansicht nach das materielle Recht (die gesetzlichen Vorschriften) und das Prozessrecht (ihre Anwendungsregeln) Gleichheitskriterien vor. Dennoch folgen bei Rawls dann Ausführungen zum Ermessensspielraum der Richter und sonstiger Amtspersonen. Verwirklicht oder nicht verwirklicht wird der Gleichheitsgedanke folglich erst im Rahmen der Einzelfallanwendung. Denn gesetzliche Regelungen können einigermaßen kompliziert und
1383 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 38, 267.
1384 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 38, 269.
1385 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 10, 79.
1386 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 38, 268.
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interpretationsbedürftig sein und damit dem Richter oder Verwaltungsbeamten
einen Entscheidungsspielraum zusprechen.1387 Rawls ordnet den Grundsatz der
Gleichbehandlung demnach der formalen Gerechtigkeit1388 zu und damit der
regelmäßigen und unparteiischen Anwendung öffentlicher Regeln.1389
Insgesamt finden sich in seinem Grundwerk nur Andeutungen zur Frage des
Gesetzesbegriffs. Er beschäftigt sich nur mit der Strafgesetzgebung. Hier könnte
man aus seinen Ausführungen herauslesen, dass er sowohl eine formelle (Allgemeinheit dem Wortlaut nach) als auch eine materielle Allgemeinheit (Allgemeinheit dem Geiste nach) verlangt. Jedoch handelt es sich hierbei um eine »gewagte«
Interpretation seiner Aussagen. Wesentlich näher liegt es, dass er sich nur gegen
Einzelfallgesetze aussprechen will. Es fehlen Ausführungen, die den Begriff
einer »Allgemeinheit dem Geiste nach« weiter erläutern. Der Gedanke der
Gleichbehandlung wird von Rawls weniger an das Gesetz als an den Gesetzesanwender herangetragen. Er streift die Frage der Allgemeinheit von Gesetzen insgesamt nur am Rand und stellt allein eine Minimalforderung auf.
2. Bezugspunkt Gerechtigkeitsgrundsätze
Dieser Befund spiegelt sich auch in der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze wider.
Rawls stellt in der Urzustandssituation formale Bedingungen des Rechten auf. So
müssen die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsgrundsätze allgemein sein. Man
muss sie ohne das formulieren können, was man intuitiv als Eigennamen ansehen
würde und ohne verkappte bestimmte Beschreibungen. Die verwendeten Prädikate sollen stattdessen allgemeine Eigenschaften und Beziehungen ausdrücken.1390 Diese formale Bedingung drückt folglich eine Forderung nach formeller
Allgemeinheit aus.
Die formalen Bedingungen des Rechten gewährleisten eine formelle Allgemeinheit der zur Wahl stehenden Grundsätze. Jedoch haben diese Ausführungen
in Rawls’ Konzeption nur eine ergänzende Funktion. Sie werden von der zentralen Figur des Schleiers »an den Rand gedrängt« und nahezu überflüssig.1391 Denn
die Parteien im Urzustand haben keine Kenntnisse über sich und ihre Lage und
wüssten schon deshalb nicht, wie sie Gerechtigkeitsgrundsätze auf ihren eigenen
1387 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 38, 268.
1388 Vgl. zu dem Begriff der formalen Gerechtigkeit vertiefend, Perelman, Eine Studie über
die Gerechtigkeit, in: Perelman, Philosophie der Gerechtigkeit, 1967, 22 ff. Rawls selbst
verweist in einer Fussnote ausdrücklich auf Perelman (TG, Abschnitt 10, 79) Nach Perelman ist formale Gerechtigkeit ein begriffliches Element, das allen Formen der Gerechtigkeit gemeinsam ist. Er definiert formale Gerechtigkeit als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden
müssen. Im Gegensatz hierzu stehen konkrete Gerechtigkeitskonzeptionen, die immer persönlich gefärbte Weltanschauungselemente enthalten.
1389 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 10, 78; Abschnitt 38, 266.
1390 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 154.
1391 Vgl. in diese Richtung Hare, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 81, 88.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.