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verantwortlich für sich entscheiden und handeln. Doch wie kann der Einzelne
diese Entscheidungslast tragen? Die Menschen suchen vermehrt nach Idealen,
nach Vorbildern, nach Symbolen. Gleichzeitig gewinnt das Rechtssystem mit der
Rezeption des römischen Rechts an Bedeutung. Seit dem 13. Jahrhundert werden
in Norditalien und Westeuropa zahlreiche Universitäten gegründet. Hierbei steht
das Corpus Juris im Mittelpunkt des Studiums, gleichzeitig verliert das Kirchenrecht im weltlichen Bereich stetig an Bedeutung.
Zwei Entwicklungsstränge sind demnach für die Verbreitung der Justitia entscheidend: Sowohl der einzelne Mensch als auch das Rechtssystem lösten sich
zunehmend von den kirchlichen Bindungen ab. Die Justitia wurde zu einem Bild
für »Die Tugend der Gerechtigkeit«. Dieser Aussagegehalt füllte damit eine Lükke im Bereich des Rechts, die durch die Säkularisierung zunehmend entstand. Die
Justitia-Darstellungen nehmen in dem Augenblick zu, in dem die Eingliederung
der Menschen in eine religiöse Gemeinschaft an Bedeutung verliert und der
Gedanke der Individualität vermehrt in den Vordergrund rückt.
Die Bedeutung beziehungsweise die Auseinandersetzung mit der Individualität ist auch der Grund für den Schleier des Nichtwissens in Rawls’ Überlegungen.
Seinem Grundwerk liegt implizit das Bild moderner westeuropäischer Demokratien zugrunde, die durch eine pluralistische Gesellschaft geprägt sind. Rawls entwirft mit dem Schleier des Nichtwissens eine Figur, die innerhalb einer fiktiven
Entscheidungssituation die Individualität der Menschen ausblendet, um deren
Unterschiedlichkeit gerade umfassend zu berücksichtigen. Denn die fiktiven
Teilnehmer des Urzustandes werden gezwungen, ihren eigenen Standpunkt zu
verlassen und Gerechtigkeitsgrundsätze zu wählen, die mit den verschiedensten
Lebenskonzeptionen vereinbar sind.
4. Schleier des Nichtwissens und weitere Bedingungen
Der Schleier des Nichtwissens ist Teil einer umfassenden Urzustandsbeschreibung. Er steht in Verbindung mit weiteren Einschränkungen. Auch diese Bedingungen wirken sich auf die Einigung über die Gerechtigkeitsgrundsätze aus. Zusammen mit dem Schleier garantieren sie eine bestimmte Form der Entscheidung.
Die zusätzlichen Merkmale der ursprünglichen Situationen haben zwei unterschiedliche Bezugspunkte. Zum einen definiert Rawls Eigenschaften der Parteien. Zum anderen verlangt er, dass die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsgrundsätze formale Kriterien erfüllen. Er legt damit Bedingungen im Hinblick auf den
Entscheidungsgegenstand fest.
a) Anforderungen an Form und Inhalt der Übereinkunft
Die Wahlmöglichkeiten der Menschen im Urzustand werden von Rawls eingeschränkt. Den Parteien wird eine Liste mit herkömmlichen Gerechtigkeitsvorstel-
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lungen vorgelegt. Ihre Aufgabe besteht darin, sich einstimmig auf die beste Vorstellung zu einigen. Es besteht folglich eine Vorgabe von außen, die die möglichen Entscheidungsalternativen begrenzt.428
Diese Liste kann nur Gerechtigkeitsgrundsätze enthalten, die bestimmte formale Anforderungen erfüllen. Rawls zählt fünf solcher Kriterien auf. Die Grundsätze müssen:
Allgemein sein. Sie sollen keine Eigennamen enthalten, sondern allgemeine
Eigenschaften und Beziehungen wiedergeben.
Unbeschränkt anwendbar sein. Sie müssen für jedermann gelten. Dies beinhaltet auch, dass sie für jedermann verständlich sein müssen.
Öffentliche Gerechtigkeitsvorstellungen enthalten. Sie müssen geeignete
Leitlinien für gesellschaftliches Leben vorgeben.
Konkurrierende Ansprüche in eine Rangordnung bringen können. Sie
müssen mögliche (Verteilungs-)Konflikte schlichten.
Endgültig sein. Sie sollen eine letzte Instanz darstellen. Als höchste Begründungsebene dürfen sie nicht auf übergeordnete Maßstäbe verweisen.429
Die Zweiteilung in Entscheidungsvorschläge (= Liste) und Entscheidung (=
Übereinkunft der Parteien) erinnert an die Ausführungen von Rousseau. Dort
hatte der Gesetzgeber die Aufgabe, den Entschluss vorzubereiten. Durch seine
übernatürlichen Fähigkeiten erhielt der Gesetzentwurf seine Legitimation. Bei
Rawls hingegen bleibt offen, wer die Liste möglicher Gerechtigkeitsgrundsätze
erstellt. Die Person des »Legislateurs« wird durch eine allgemeine Verfahrensbedingung ersetzt. Rawls’ Konzeption wird deshalb auch als eine prozedurale Antwort auf Rousseaus »paradoxe Figur« eines göttlichen Gesetzgebers angesehen.430
Hier zeigt sich noch einmal, dass Rawls einen bestimmten Urzustand konstruiert. Wie schon aufgezeigt, möchte er diese Ausgangssituation so bestimmen,
dass die gewünschte Lösung herauskommt.431 Die Liste ist Teil des von ihm
gezeichneten Bildes. Gleichzeitig zeigt sie jedoch die Grenzen eines solchen Vorgehens auf. Rawls spricht bewusst von einer Liste »herkömmlicher Gerechtigkeitsvorstellungen«. An anderer Stelle gibt er ausdrücklich zu, dass sich jede ethische Theorie mehr oder weniger auf Intuition stützt.432 Jede Gerechtigkeitsvorstellung muss sich bis zu einem gewissen Grad auf Intuition berufen.433 Sein Ziel
ist es nur, den Anteil, den Stellenwert von Intuition innerhalb seiner Konzeption
428 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 21, 145.
429 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 154 ff.
430 Vgl. Ricoeur, On John Rawls’ Theory of Justice, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume
1, 133, 135.
431 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 165.
432 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 7, 59.
433 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 8, 61.
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zurückzudrängen.434 Die vorgegebene Liste kann jedoch nur durch Intuition
gerechtfertigt werden. Rawls greift an dieser Stelle auf Tradition zurück. Seine
Ausführungen können so verstanden werden, dass die von ihm eingeführte Liste
durch die allgemeine Akzeptanz bei den Menschen gerechtfertigt wird. Sie ist ein
Spiegel von nicht weiter begründungsbedürftigen und begründungsfähigen möglichen Gerechtigkeitsvorstellungen.
Bei der formalen Bedingung »Liste« wird somit noch einmal deutlich, dass
Rawls’ Urzustand eine weitere Legitimationsquelle besitzt. Rawls konzipiert
seine Ausgangssituation zwar bewusst auf ein Verfahren hin. Die eingeführten
Bedingungen sind jedoch nicht willkürlich gesetzt. Sie werden nicht allein durch
das angestrebte Ziel, die Entscheidung, legitimiert. Vielmehr basieren sie auf den
wohlüberlegten Urteilen der Menschen. Die Liste der Gerechtigkeitsgrundsätze
baut auf den traditionellen Vorstellungen der Menschen auf.
Im Hinblick auf das analysierte Finanzverfassungsurteil gewinnt möglicherweise die Bedingung der Allgemeinheit eine besondere Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht fordert in seiner Entscheidung gerade allgemeine Maßstäbe
für die Umverteilung ein. Sie sollen eine neue Stufe zwischen Grundgesetz und
konkretem Finanzausgleich bilden. Ist diese Forderung mit der aufgestellten
Bedingung von Rawls vergleichbar? Rawls versteht den Begriff der Allgemeinheit in seiner intuitiven Bedeutung. Er stellt keine genaue Definition auf. Die Forderung nach allgemeinen Gerechtigkeitsgrundsätzen ist für ihn eine natürliche
Voraussetzung. Diese Selbstverständlichkeit ergibt sich seiner Ansicht nach daraus, dass die ersten Grundsätze für alle Zeiten als Rahmen einer wohlgeordneten
Gesellschaft dienen müssen. Rawls stellt also folgende These auf: Wählen die
Menschen im Urzustand dauerhafte Regeln für ein Zusammenleben aus, verlangen sie intuitiv, dass es sich um allgemeine Bestimmungen handelt.435 Eine ähnliche Annahme liegt auch den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
zugrunde. Wie in der Urteilsanalyse ausgeführt, soll die Vorrangigkeit des Maßstäbegesetzes eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten. Der
parlamentarische Gesetzgeber soll ein Gesetz erlassen, das anders als das bisherige FAG dauerhafte und deshalb notwendig allgemeine Umverteilungskriterien
enthalten soll. Rawls und das Bundesverfassungsgericht stimmen folglich darin
überein, dass Grundsätze für Verteilungsfragen nicht kurzfristige Verhandlungsergebnisse festschreiben dürfen, sondern hiervon unbeeinflusst einen noch
genauer zu untersuchenden Grad von Allgemeinheit aufweisen müssen.
434 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 8, 64, kritisch zu dieser Vorgehensweise Höffe, Kritische Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 1977, 23 ff.; Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 1982, 156.
435 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 154.
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b) Eigenschaften der Beteiligten
Rawls schreibt zudem den Parteien weitere Eigenschaften zu. Im Mittelpunkt
steht bei der folgenden Untersuchung die Frage, welcher Zusammenhang zwischen diesen Annahmen und dem Schleier des Nichtwissens besteht. Die Kritik
der Literatur an den weiteren Charaktermerkmalen der Parteien wird nicht vertieft dargestellt.436 Sie führt von der Hauptfigur des Schleiers zu weit weg. Als
eine erste grobe Einordnung gilt: Der Schleier beschäftigt sich mit dem Wissen
der Parteien, während die weiteren Bedingungen die Motivation der Beteiligten
konkretisieren.437
aa) Desinteresse438
Welche Motivation prägt die Parteien des Urzustandes? Hier ist notwendig, noch
einmal kurz auf den Umfang des »Schleiers« einzugehen. Dieser verdeckt nicht
das Wissen um die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit. Die Menschen
besitzen ein abstraktes Wissen darüber, dass Gesellschaften durch Interessenkonflikte und Interessenharmonie gekennzeichnet sind. Sie haben Kenntnis darüber,
dass in Gesellschaften eine gewisse Knappheit bestimmter Güter herrscht.
Gleichzeitig wissen sie, dass eine Zusammenarbeit zwischen den Menschen möglich und vorteilhaft ist, die einzelnen Gesellschaftsmitglieder jedoch unterschiedliche Lebenspläne besitzen.439
Wie setzen die Menschen dieses Wissen bei der Übereinkunft ein? In der Konzeption von Rawls sind die Parteien im Urzustand aneinander desinteressiert.440
Das Hauptinteresse eines jeden Menschen richtet sich auf sich selbst.441 Jeder
denkt bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze an seinen eigenen – ihm noch
unbekannten, aber potentiell vorhandenen – Lebensplan.442 Rawls schließt
sowohl eine negative als auch eine positive Beziehung zwischen den Menschen
aus. Die Parteien kennen auf der einen Seite keinen Neid. Sie versuchen nicht,
einander auszustechen oder einander Schlechtes anzutun. Auf der anderen Seite
ist ihr Verhalten auch nicht durch Wohlwollen oder Liebe geprägt.443 Die Betei-
436 Vgl. nur Barry, Theories of Justice, 1989, 338 ff.; Katzner, The Original Position and the
Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980, 42, 56; Scarano, Der Gerechtigkeitssinn, in:
Höffe, Eine Theorie der Gerechtigkeit 1998, 231 ff.
437 Vgl. Zu dieser Einteilung Barry, The Liberal Theory of Justice, 1975, 10.
438 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Eigenschaft »Desinteresse« erfolgt bei
Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980, 42, 46.
439 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 150.
440 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 152.
441 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 151.
442 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 168.
443 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 168
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ligten haben keine ausdrücklichen moralischen Verpflichtungen gegenüber Dritten.444
Rawls begründet diese »Vereinzelung« der Menschen wie folgt: Seine Gerechtigkeitsvorstellung soll keine verbreiteten natürlichen Gefühle zwischen den
Menschen voraussetzen. In einer Gemeinschaft von Heiligen, die einem gemeinsamen Ideal huldigen, würden niemals Streitfragen über Gerechtigkeit bestehen.
Rawls will indessen keine besondere Theorie der menschlichen Motivation in den
Urzustand einführen.445 Speziell zum Neid beruft er sich auf seine Unterscheidung zwischen idealer und nichtidealer Theorie. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden unter der Annahme abgeleitet, dass es keinen Neid gibt. Erst danach
soll geprüft werden, ob diese Regeln auch unter realen Bedingungen anwendbar
bleiben.446
Während der Schleier des Nichtwissens das persönliche Wissen ausschaltet,
blendet die Annahme »Desinteresse« die individuellen Beziehungen der Menschen aus. Rawls lässt im Urzustand weder Konflikt noch Kooperation auf
Gefühlsebene zu. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass die Übereinkunft
letztlich nur von einem fiktiven Menschen getroffen wird. Hier stellt sich wieder
die Frage: Ist eine Kommunikation zwischen den fiktiven Menschen des Urzustandes überhaupt denkbar? Welcher Austausch kann erfolgen, wenn sowohl auf
Wissens- als auch auf zwischenmenschlicher Ebene eine derartige Objektivität
herrscht?
bb) Vernunft
Außerdem setzt Rawls voraus, dass die Menschen im Urzustand vernünftig sind.
Er definiert den Begriff der Vernünftigkeit hierbei dahin gehend, dass ein vernunftgeleiteter Mensch dem Plan folge, der möglichst viele von seinen Wünschen
erfüllt und der eine gute Chance auf erfolgreiche Verwirklichung bietet.447
Rawls unterscheidet in seiner Konzeption die Theorien des Guten und des
Rechten. Im Urzustand einigen sich die Menschen über Gerechtigkeitsgrundsätze
und legen eine Vorstellung vom Rechten fest. Rawls definiert den Begriff des
Rechten deshalb als die Übereintimmung mit den Grundsätzen, auf die man sich
im Urzustand für den betreffenden Gegenstand einigen würde.448 Die Vorstellung,
dass Menschen vernünftige Entscheidungen treffen hingegen, ordnet Rawls der
Theorie des Guten zu. Er unerscheidet hierbei in seinem Grundwerk noch genauer
zwischen einer vollständigen und einer schwachen Theorie des Guten. Die vollständige Theorie des Guten ist eng mit dem Begriff der abwägenden Vernunft verbunden. Der einzelne Mensch verfolgt den Lebensplan, den er mit abwägender
444 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 151.
445 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 22, 152.
446 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 167.
447 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 167.
448 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 18, 132.
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Vernunft aus der maximalen Klasse der Pläne auswählen würde.449 Der beste Plan
für einen Menschen ist hierbei derjenige, für den er sich bei vollständiger Information entscheiden würde.450
Hier drängt sich sofort die Frage auf: Wie sollen Menschen dann unter Nichtwissen vernünftige Entscheidungen treffen können? Entwirft Rawls mit dem
Schleier des Nichtwissens ein inkonstantes Bild und widerspricht seinen eigenen
Aussagen zu einer Theorie des Guten?
Wie kurz angesprochen, beschäftigt sich Rawls selbst mit diesem möglichen
Einwand und verweist auf eine Theorie der Grundgüter. Diese soll erklären,
warum die Menschen auch im Urzustand noch vernünftige Entscheidungen treffen können. Rawls entwickelt eine schwache Theorie des Guten, nach der es eine
Reihe von Gütern gibt, die für jeden potentiellen Lebensplan, für jeden möglichen
Platz in der Gesellschaft eine Relevanz besitzen.451 Diese wichtigsten gesellschaftlichen Grundgüter sind nach Rawls Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen.452 Auch wenn die Urzustandsteilnehmer kein Wissen über
ihre individuellen Wünsche und Ziele besitzen, wollen sie eine Vereinbarung treffen, die jedem möglichst viele gesellschaftliche Grundgüter sichert.453
Ihre Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze ist damit nicht willkürlich. Die Urzustandsteilnehmer überprüfen vielmehr, zu welcher Grundgüterverteilung die
jeweiligen Gerechtigkeitsgrundsätze führen.454 Der Schleier des Nichtwissens
führt zu einem »besonderen« Vernunftgebrauch. Er verhindert, dass die Menschen sich allein von individuellen Nutzenkalkülen leiten lassen und verlangt von
ihnen, eine Einigung auf einer übergeordneten Ebene zu erzielen. Die Urzustandsteilnehmer müssen eine Abwägung vornehmen, in der sie nicht bloß die
Folgen für ihre eigen Person, sondern die Folgen für alle Gesellschaftsmitglieder
einstellen müssen. Nicht der vernünftige Lebensplan des Einzelnen, sondern alle
denkbaren vernünftigen Lebenspläne müssen Berücksichtigung finden.
cc) Gerechtigkeitssinn
Schließlich nimmt Rawls an, dass die Parteien im Urzustand einen Gerechtigkeitssinn besitzen. Diese Bedingung soll die Gültigkeit der Übereinkunft sichern.455 Der Gerechtigkeitssinn garantiert, dass die aufgestellten Grundsätze von
allen eingehalten werden. Die Entscheidung im Urzustand wird als bindend an-
449 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 65, 463.
450 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 64, 455.
451 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 60, 435; kritisch hierzu Kersting, John Rawls, 2001, 178 – die
Isolierung einer allen denkbaren Lebensplänen gemeinsamen, ethisch neutralen universalteleologischen Güterschicht erweise sich als Illusion.
452 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 15, 112.
453 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 166.
454 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 166.
455 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 168.
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gesehen.456 Rawls betont, dass es sich hierbei um eine »formale« Ausstattung der
Urzustandsteilnehmer handelt. Die Beteiligten legen ihren Überlegungen nicht
eine bestimmte inhaltliche Gerechtigkeitsvorstellung zugrunde.457 Der Gerechtigkeitssinn ersetzt folglich in der Rawlsschen Konzeption die »klassische« Annahme des »pacta sunt servanda«. Die Dauerhaftigkeit des gefassten Beschlusses
wird bei Rawls durch eine Eigenschaft der Entscheidenden garantiert.
Auf die Entscheidungsfindung selbst wirkt sich die Bedingung »Gerechtigkeitssinn« allein indirekt aus. Sie vermittelt den Urzustandsteilnehmern lediglich
die Bedeutung, die Bindungswirkung ihres Beschlusses.458
dd) Zwischenergebnis
Die weiteren Bedingungen des Urzustandes formen zusammen mit dem Schleier
des Nichtwissens eine spezifische Entscheidungssituation. Diese kann in verschiedene Phasen aufgeteilt werden. Eingeleitet wird die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze durch eine vorgegebene Liste. Durch sie fließen traditionelle
Vorstellungen in das Urzustandsmodell ein. Die Anforderungen an den Inhalt der
Liste wiederum garantieren, dass nicht beliebige traditionelle Gerechtigkeitsgrundsätze zur Wahl stehen. Die formalen Bedingungen Allgemeinheit, umfassende Anwendbarkeit etc. stellen einen Filter dar. Sie sichern ab, dass die Parteien
keine »unsinnigen« Grundsätze wählen können. Es gelangen nur Vorschläge auf
die Liste, die formal geeignet sind, die Güterverteilung zu regeln.459
Mit den Bedingungen Vernünftigkeit, Desinteresse und Gerechtigkeitssinn
bestimmt Rawls die Motivation der Parteien näher. Im Gegensatz zum klassischen Utilitarismus spricht er sich für einen Vorrang des Rechten vor dem Guten
aus. Nicht die Vorstellung des Menschen von seinem individuellen Wohl (= das
Gute) soll die Wahl der Grundsätze bestimmen.460 Stattdessen soll eine faire Ausgangssituation mit Freiheit und Gleichheit der Vertragsparteien Ausgangspunkt
sein (=das Rechte).461 Rawls will eine Grundstruktur entwickeln, die einen Rahmen für ganz verschiedene Ziele der Menschen darstellt.462 Eine vollständige
Theorie des Guten, also das Streben des einzelnen Menschen nach dem besten
Lebensplan, setzt die Gerechtigkeitsgrundsätze voraus.463
Während die Vernünftigkeit sich wie der Schleier auf die einzelne Person
bezieht, wirkt sich die Annahme eines Desinteresses auf das Verhältnis zwischen
den Menschen aus. Rawls konstruiert eine Neutralität zwischen den Teilnehmern
456 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 169.
457 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 168.
458 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 168.
459 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 23, 153.
460 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 68, 489.
461 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 46.
462 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 50.
463 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 60, 436.
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des Urzustandes. Genau wie dieser nicht von einer bestimmten Konzeption des
Guten abhängig sein soll, soll er nicht bestimmte Neigungen/Gefühle der Parteien
füreinander voraussetzen.464
Die Annahme eines Gerechtigkeitssinns schließlich wirkt sich vor allem auf
die Folgen der Übereinkunft aus. Diese Eigenschaft der Parteien bezieht sich primär auf ihr Verhalten nach der Einigung. Rawls sichert mit dieser Bedingung ab,
dass die Entscheidung über die Grundsätze bindenden Charakter besitzt.
5. Schleier des Nichtwissens und Gesetzgebung
Der Schleier des Nichtwissens ist, wie soeben dargestellt, zentrale Figur der Urzustandsbeschreibung bei Rawls. Er ist Teil der Theorie, die zu den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen als Grundstruktur führen soll. Die Einigung über die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze steht am Beginn von Rawls’ Überlegungen. Sein
Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit gliedert sich in verschiedene Teile:
Teil I ist der vorangestellte allgemeine Teil, der den grundlegenden Denkansatz
Gerechtigkeit als Fairness, das Argument »Urzustand« und die Ergebnisse
»Grundsätze der Gerechtigkeit« einführt. Dieser Teil lehnt sich in seiner Struktur
an den klassischen kontraktualistischen Ansatz an. Er wirft eine bestehende Konfliktsituation – hier die Problematik: wie können Grundgüter in einer bestehenden
Gesellschaft gerecht verteilt werden – auf und bietet einen Lösungsansatz, der
sich an dem Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit orientiert. Durch den
Schleier des Nichtwissens und weitere Bedingungen wird ein faires Einigungsverfahren garantiert.
Diese Grundkonzeption beschäftigt sich jedoch nur mit der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze, nicht mit der »normalen« Gesetzgebung. Fraglich ist, ob
Rawls seine Denkfigur des Schleiers des Nichtwissens auch auf jede gesetzgeberische Entscheidung überträgt. Wie konstruiert er im Rahmen seiner Theorie
diese Entscheidungssituation? Hierfür kann auf Teil II seines Werkes zurückgegriffen werden, der zeigt, welche Auswirkungen die gefundenen Grundsätze der
Gerechtigkeit auf das System von Institutionen haben.465
a) Institutionenbegriff
Rawls unterscheidet streng zwischen Gerechtigkeitsgrundsätzen für Institutionen
und für Einzelmenschen. Er beschäftigt sich in seinem Grundwerk primär mit der
Frage der sozialen Gerechtigkeit. Bezugspunkt für seine Gerechtigkeitstheorie
sind deshalb die Institutionen innerhalb einer Gesellschaft.466 Eine Institution ist
464 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 6, 50.
465 Vgl. Rawls, TG, Einführung Kapitel 4, 223 ff.
466 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 23 ff.; Abschnitt 10, 74 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.