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Diese Ausführungen zeigen, dass ein gesondertes Maßstäbegesetz vor allem
durch Verweis auf weiterreichende Kontrollmöglichkeiten gerechtfertigt wird.
Auch wenn das Gericht eine inhaltliche Überprüfung einzelner Regeln ablehnt,
so will es in seinem aktuellen Urteil keineswegs seine Kontrolle des Finanzausgleichs aufgeben. Seine Überlegungen enthalten die Schlüsselbegriffe Rechenschaft, rechtsstaatliche Transparenz, Planbarkeit, Voraussehbarkeit. Diese weisen
darauf hin, dass durch ein Maßstäbegesetz der weite Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers empfindlich eingeschränkt werden soll.
Schließlich stützt das Bundesverfassungsgericht den doppelten Gesetzgebungsauftrag auf ein praxisbezogenes Argument. Die Erfahrungen mit der Praxis
des Länderfinanzausgleichs zeigten, dass die Regelungen der Finanzverfassung
in Zukunft mit Hilfe eines Stufenmodells (MaßstäbeG und FAG) konkretisiert
werden sollten.57
Festzuhalten bleibt, dass das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Urteil
eine neue Forderung an den Gesetzgeber aufstellt. Der Länderfinanzausgleich
muss in Zukunft durch zwei Gesetze konkretisiert werden. Hierbei lädt sich das
Gericht eine weitreichende Argumentationslast auf: Wie kann ein solcher neuartiger Stufenbau aus der Verfassung heraus begründet werden? In der vorliegenden
Entscheidung finden sich drei Ansatzpunkte. Im Vordergrund steht eine Argumentation mit dem Wortlaut der Finanzverfassung, genauer mit den spezifischen
Gesetzesvorbehalten der Art. 106, 107 GG. Ergänzend wird auf die negativen
Erfahrungen mit der bisherigen Praxis des Finanzausgleichs hingewiesen. Aus
den Ausführungen in dem vorliegenden Urteil ergibt sich jedoch eher versteckt
ein weiterer entscheidender Argumentationsstrang: Das Bundesverfassungsgericht fordert eine vermehrte Rechenschaftslegung des Gesetzgebers. Seine legislatorische Tätigkeit müsse transparenter werden. Eine gesonderte Maßstäbegesetzgebung kann dazu beitragen, die Kontrollmöglichkeiten gegenüber dem
Gesetzgeber zu verbessern.
3. Besonderer Charakter des Maßstäbe-Gesetzes
In dem Urteil wird nicht nur das Gebot eines eigenständigen Maßstäbegesetzes
aufgestellt. Vielmehr werden diesem Gesetz zugleich besondere Eigenschaften
zugeschrieben. Diese besonderen Qualitäten und ihre Begründung stehen im Mittelpunkt dieses Analyseabschnitts.
In der Entscheidung wird das Maßstäbegesetz durch folgende Beschreibung
charakterisiert: Es soll langfristig angelegte, allgemeine Verteilungskriterien enthalten. Diese Zielvorstellung soll durch zwei »Merkmale« erreicht werden:
57 Vgl. BVerfGE 101, 158 (226).
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Besonderer Zeitpunkt der Entscheidung: Die Maßstäbe werden bereits festgelegt, bevor der Gesetzgeber mögliche spätere Auswirkungen überblicken
kann.
Selbstbindung des Gesetzgebers: Die einmal festgelegten Maßstäbe entfalten
für das Parlament eine Bindungswirkung.
Im Vordergrund der Untersuchung steht das Gesetzgebungsverfahren. Dieses
wird im weiteren Verlauf mit der philosophischen Konzeption von John Rawls
verglichen. Wesentliche Bezugspunkte sind hierbei die Bedingungen, die zu einer
gesetzgeberischen Entscheidung führen und die Entscheidungssituation prägen.
Schwerpunkt der Betrachtung ist folglich der Zeitraum bis zum Gesetzesbeschluss, die Art und Weise der Gesetzgebung. Aus diesem Grund ist Ansatzpunkt
für die folgende Analyse primär das erste Merkmal = die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes. Die Frage einer Selbstbindung des Gesetzgebers wird nur am Rand
gestreift. Sie ist hier nicht Gegenstand einer vertieften Untersuchung.58
Das Bundesverfassungsgericht verlangt in seinen Ausführungen einen zeitlichen Abstand zwischen Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz. Der
Gesetzgeber solle das Maßstäbegesetz beschließen, bevor ihm die Finanzierungsinteressen des Bundes und der einzelnen Länder in den sich kurzfristig verändernden Aufkommen und Finanzbedürfnissen bekannt sind.59 Das Gericht führt eine
Zeitenfolge in das Gesetzgebungsverfahren ein. Es stellt eine zusätzliche Anforderung an die Art und Weise der Gesetzgebung auf. Wie schon oben im Zusammenhang mit dem Mehrheitsprinzip aufgezeigt wurde, hält die vorliegende Entscheidung das »normale« Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes im
58 An dieser Stelle ist Meßerschmidt zuzustimmen, der ausführt, dass die Frage einer Selbstbindung des Gesetzgebers komplexe Probleme auslöst und Gegenstand einer eigenen Diskussion in der Literatur ist. Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 30 ff. Aus
diesem Grund verweist die Verf. zum einen auf die umfassende Kritik einer solchen Selbstbindung im Zusammenhang mit dem Maßstäbe-Urteil, zum anderen auf die allgemeine
Diskussion dieser Problematik. Vgl. im Zusammenhang mit dem Urteil zum Maßstäbegesetz Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
607, 617; Bull/Mehde, Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen, DÖV 2000, 305, 308; Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des
Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, 79, 86 ff.;
Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 1999, 262, 268 ff.; Helbig, Maßstäbe
als Grundsätze, KJ 1999, 433, 443 ff.; Henneke, Länderfinanzausgleich und Maßstäbegesetz, Jura 2001, 767, 770 ff.; Korioth, Maßstabsgesetzgebung im bundesstaatlichen
Finanzausgleich, ZG 2002, 334, 338, Ossenbühl, Das Maßstäbegesetz – dritter Weg oder
Holzweg des Finanzausgleichs, FS Vogel 2002 227, 231.
Vgl. allgemein zur Frage der Selbstbindung des Gesetzgebers Breuer, Selbstbindung des
Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, 101 ff.; Degenhart,
Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976;
Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, in: AöR 124 (1999), 174
ff.; Peine, Systemgerechtigkeit, 1985; Rausch – Gast, Die Selbstbindung des Gesetzgebers, 1983.
59 Vgl. BVerfGE 101, 158 (218).
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Bereich des Finanzausgleichs nicht für ausreichend. Es ergänzt dieses Verfahren
durch eine weitere Anforderung. Diese Forderung wird in dem Urteil durch drei
Argumentationsstränge gestützt:
a) Rechtsstaatlicher Auftrag
In einem ersten Begründungsansatz greift das Bundesverfassungsgericht auf
rechtsphilosophische Gedanken von Husserl zurück. Für den Gesetzgeber bestehe grundsätzlich der rechtsstaatliche Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in
die Zukunft.60 An anderer Stelle des Urteils findet sich die Aussage, dass dem Gesetzgeber mit der Aufgabe der Konkretisierung im Bereich der Finanzverfassung
eine Verantwortung übertragen werde.61 Zusammengefasst können beide Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts dahin gehend verstanden werden, dass der
Gesetzgeber gerade im Bereich der Finanzverfassung besonderen rechtsstaatlichen Anforderungen unterliegt. Diesen Anforderungen wird er nur dann gerecht,
wenn er das Maßstäbegesetz beschließt, bevor mögliche Auswirkungen absehbar
sind. Nur so könnten rein interessenbestimmte Verständigungen über Geldsummen ausgeschlossen oder zumindest erschwert werden.62 Um dem rechtsstaatlichen Auftrag gerecht zu werden, muss folglich eine »Neutralität« gegenüber zukünftigen Entwicklungen bestehen.
b) Gesetzesbegriff
In einem zweiten Begründungsansatz stellt das Bundesverfassungsgericht eine
Verbindung zwischen der rechtsstaatlichen Funktion von Gesetzen und der Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes her. Schon an einem früheren Punkt der Analyse
wurde aufgezeigt, dass das vorliegende Urteil das Handlungsmittel Gesetz betont.
Möglicherweise wird der veränderte Charakter des Maßstäbegesetzes auf einen
veränderten Gesetzesbegriff zurückgeführt werden. Die genaue Argumentation
des Gerichts wird im Folgenden in drei aufeinander aufbauenden Schritten untersucht:
1. Welcher Gesetzesbegriff liegt dem vorliegenden Urteil zugrunde, welche
Merkmale eines idealen Gesetzes stehen im Vordergrund? 2. Welche Konsequenzen hat dieser veränderte Gesetzesbegriff für das Gesetzgebungsverfahren? Welche Verbindung stellt das Bundesverfassungsgericht zwischen Gesetzesbegriff
und Gesetzgebungsverfahren her? 3. In welchem Zusammenhang und aus welchem Grund erfolgt ein Rückgriff auf die Konzeption von John Rawls?
60 Vgl. BVerfGE 101, 158 (217).
61 Vgl. BVerfGE 101, 158 (216), (219).
62 Vgl. BVerfGE 101, 158 (217).
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aa) Veränderter anspruchsvoller Gesetzesbegriff
Ausgangspunkt für die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts sind die
Finanzverfassungsnormen selbst. Der Wortlaut von Art. 106 III 4 Nr. 1 fordere ein
auf Planung aufbauendes Gesetz (»Dabei ist der Umfang der Ausgaben unter Berücksichtigung einer mehrjährigen Finanzplanung zu ermitteln«). Diese Forderung könne dahin gehend verstanden werden, dass sie die Bildung langfristiger
Maßstäbe vorschreibe.63 Das Bundesverfassungsgericht greift folglich bei seinen
Überlegungen auf eine Formulierung innerhalb der Finanzverfassung zurück und
entwickelt aus ihr eine Zielvorgabe: langfristige Maßstabsbildung. In einem weiteren Schritt führt es aus, dass (allein) eine solche Dauerhaftigkeit von Maßstäben
der herkömmlichen rechtsstaatlichen Funktion des Gesetzes gerecht werde:
»Das Gesetz gestaltet in seiner formellen Allgemeinheit rational-planmäßig die Zukunft, setzt eine gewisse Dauerhaftigkeit der Regel voraus, erstreckt ihre Anwendung auf eine unbestimmte Vielzahl künftiger Fälle, wahrt damit Distanz zu den Betroffenen, wendet die Aufmerksamkeit des regelnden Organs dem auch für die Zukunft verpflichtenden Maß zu und verwirklicht die Erstzuständigkeit des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation«.64
Mit diesen Ausführungen scheint sich das Gericht gegen einen formellen Gesetzesbegriff zu wenden. Es zeigt einen engeren, veränderten Gesetzesbegriff auf.
Nicht ausdrücklich dargestellt wird der Grund für diesen Richtungswechsel. Die
aufgezeigte Argumentationskette kann dahin gehend verstanden werden, dass der
Bereich der Finanzverfassung einen besonderen Gesetzesbegriff verlangt. Ein
voraussetzungsreicher Gesetzesbegriff kann den aufgezeigten weiten Konkretisierungsspielraum des Gesetzgebers kompensieren. Hierfür ist genauer zu analysieren, welche Merkmale das veränderte Gesetzesverständnis aufweist.
Die zitierte Beschreibung des Gesetzes betont die Merkmale der formellen Allgemeinheit und Dauerhaftigkeit. Der Begriff der Allgemeinheit wird hierbei so
beschrieben, dass Gesetze eine Offenheit für die Zukunft besitzen müssen. Der
mögliche Anwendungsbereich eines Gesetzes soll möglichst weit gefasst sein. Es
bestehen keine Kenntnisse über einzelne Fallkonstellationen (»unbestimmte
Vielzahl künftiger Fälle«). Diese Zukunftsoffenheit, dieses Nichtwissen über die
konkrete Anwendungssituation führt zu einer unparteilichen Stellung des Gesetzgebers (»wahrt damit Distanz zu den Betroffenen«). Das Merkmal der Allgemeinheit wird demnach im vorliegenden Urteil wie folgt verstanden:
Im Zeitpunkt der Beschlussfassung muss der Gesetzgeber eine Offenheit besitzen. Diese Offenheit ist dann gewährleistet, wenn der Gesetzgeber kein Wissen
über künftige Fälle besitzt. Dadurch erlangt er eine notwendige Distanz gegen-
über Betroffenen. Eine solche Allgemeinheit, verstanden als ein Nichtwissen, ist
Zielvorstellung des Gerichts in der vorliegenden Entscheidung.
63 Vgl. BVerfGE 101, 158 (217).
64 BVerfGE 101, 158 (218).
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bb) Erhöhte Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren
Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass der Gesetzgeber ein Maßstäbegesetz
beschließt, bevor ihm die konkreten Finanzierungsinteressen des Bundes und der
Länder bekannt sind. Eine solche Entscheidungssituation garantiere die Offenheit, die formelle Allgemeinheit des Gesetzes.65 Das Bundesverfassungsgericht
verknüpft folglich seine Überlegungen zum Gesetzesbegriff mit Verfahrensanforderungen. Die Allgemeinheit des Gesetzes wird mit dem »Wie« und vor allem mit
dem »Wann« der Beschlussfassung verbunden. Indem das Gericht seine Argumentation auf einen anspruchsvollen Gesetzesbegriff stützt, erhöht es zugleich
die Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren. Die Interpretation von Allgemeinheit als ein Nichtwissen über Anwendungsfälle wirkt sich auf die Frage
nach dem »Wie« der Entscheidungsfindung aus.
cc) Ergänzender Rückgriff auf John Rawls
An diesem Punkt – Verbindung von verändertem Gesetzesbegriff und Gesetzgebungsverfahren – greift das Bundesverfassungsgericht ergänzend auf die Konzeption von John Rawls zurück:
»Auch wenn sich nicht ein allgemeiner Schleier des Nichtwissens (»Rawls, Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1. Auflage, S. 29 ff., 159 ff.) über die Entscheidungen
der Abgeordneten breiten lässt, kann die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes eine
institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickelt, ohne dabei den konkreten Anwendungsfall schon voraussehen zu können. Die
klassische Zeitwirkung von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes ist auch in den
bundesstaatlichen Gesetzesvorbehalten erneut zur Wirkung zu bringen.«66
In dieser sehr komplexen Ausführung stellt das Bundesverfassungsgericht eine
Verbindung zwischen dem Schleier des Nichtwissens und der gesetzgeberischen
Entscheidung über die Maßstäbe her. Wie soeben erörtert, liegt dem Urteil das
Verständnis von Allgemeinheit als ein Nichtwissen über die Zukunft im weitesten
Sinn zugrunde. Die Interpretation wird durch einen Verweis auf den Schleier des
Nichtwissens ergänzt. Die Argumentation mit der Konzeption von John Rawls
unterstützt die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
c) Verfolgtes Ziel: institutionelle Verfassungsorientierung
In dem angeführten Zitat zu John Rawls findet sich zugleich der dritte Begründungsansatz des Bundesverfassungsgerichts für die Vorherigkeit des Maßstäbe-
65 Vgl. BVerfGE 101, 158 (218).
66 BVerfGE 101, 158 (218).
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gesetzes. Besitze der Gesetzgeber zum Zeitpunkt seiner Entscheidung kein Wissen über einzelne Finanzierungsinteressen, so führe dies zu einer institutionellen
Verfassungsorientierung. Fraglich ist, wie diese Wortschöpfung des Gerichts zu
verstehen ist. Wie ist diese sehr vage Formulierung zu interpretieren?
Der Begriff der Verfassungsorientierung wird in der Literatur im Zusammenhang mit der verfassungskonformen Auslegung verwendet. Die verfassungskonforme Auslegung wird als eine Anweisung verstanden, die Rechtserkenntnis an
den höherrangigen Normen auszurichten. Sie unterstreicht die übergeordnete
Stellung des Grundgesetzes.67 Die Gesetzesauslegung und die einzelnen Auslegungsmethoden haben bei der Rechtsanwendung entscheidende Bedeutung. Sie
bestimmen, wie Normtexte auf Sachverhalte angewendet werden, und gehören
primär zum »Arbeitsbereich« der Judikative.68 Eine verfassungskonforme Auslegung wird von dem Richter dann vorgenommen, wenn Wortlaut und Entstehungsgeschichte mehrere Bedeutungen einer Vorschrift zulassen. Der Richter soll diejenige Bedeutung vorziehen, die den Wertmaßstäben der Verfassung entspricht.69
Verfassungsorientierung bedeutet folglich in diesem Zusammenhang, dass der
Richter bei der Rechtsanwendung die Ranghierarchie Verfassungsrecht – einfaches Gesetz beachten muss. Er darf keine Auslegungsalternative wählen, die zu
dem Grundgesetz als »Prüfstein« in Widerspruch steht.70
Überträgt man diese Überlegungen aus dem Bereich der Judikative auf die
Legislative, so ergibt sich für den Begriff Verfassungsorientierung folgender
möglicher Interpretationsansatz: Das Ziel der Verfassungsorientierung kann auf
das Gesetzgebungsverfahren bezogen werden. Dadurch, dass die Abgeordneten
keine Kenntnisse über den konkreten Anwendungsfall besitzen, entsteht für sie
ein neuer Blickwinkel. Das Bundesverfassungsgericht konstruiert ein Gesetzgebungsverfahren, bei dem sich die Entscheidungsträger stärker an übergeordneten
Prinzipien und damit an den Wertmaßstäben der Finanzverfassung orientieren
sollen. Sie sollen möglicherweise nach Verteilungsmaßstäben suchen, die gerade
nicht nur kurzfristige Interessen abbilden, sondern wie Verfassungsnormen einen
höheren Abstraktionsgrad und damit auch Gerechtigkeitswert besitzen. Die
Ergänzung »institutionelle Verfassungsorientierung« könnte aufzeigen, dass das
Bundesverfassungsgericht seine Forderungen nicht an den einzelnen Abgeordneten, sondern an die Institution Parlament richtet. Die Legislative als Verfassungsorgan soll sich bei der Konkretisierung der Finanzverfassung nicht von Einzelfallüberlegungen leiten lassen.
Insgesamt wird die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes im Rahmen des Urteils
durch drei Überlegungen begründet:
Einführend stellt das Bundesverfassungsgericht auf den besonderen rechtsstaatlichen Auftrag und damit die besondere Verantwortung des Gesetzgebers ab.
67 Vgl. Burmeister, Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, 1966, 3 ff.
68 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2001, § 76, 596 ff., Rüthers, Rechtstheorie, 1999,
Rn.696 ff.
69 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rn.763, BVerfGE 8, 210 (221).
70 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2001, § 76, 610.
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Der Gesetzgeber könne seine Konkretisierungsaufgabe im Bereich der Finanzverfassung nur dann erfüllen, wenn er sich nicht von kurzfristigen Finanzierungsinteressen leiten lasse.
Im Mittelpunkt der Argumentation steht dann ein veränderter Gesetzesbegriff.
Die Allgemeinheit des Gesetzes wird betont und als eine Offenheit verstanden.
Der Gesetzgeber darf kein Wissen über konkrete Anwendungsfälle haben. Er
muss eine unparteiische Stellung gegenüber möglichen Betroffenen besitzen.
Diese Allgemeinheit kann nur durch eine zusätzliche Verfahrensanforderung
gesichert werden. Das Maßstäbegesetz muss in einer zeitlichen Distanz erlassen
werden. In diesem Zusammenhang greift das Bundesverfassungsgericht ergänzend auf die Konzeption von John Rawls zurück. Es stellt eine Verbindung zwischen Allgemeinheit, Gesetzgebungsverfahren und der Gedankenfigur des
Schleiers des Nichtwissens her.
Schließlich zeigt das Bundesverfassungsgericht auf, dass durch die Vorherigkeit des Maßstäbgesetzes eine institutionelle Verfassungsorientierung hergestellt
werden kann. Die Entscheidungsträger sollen gezwungen werden, nach abstrakten Verteilungsmaßstäben für den Finanzausgleich zu suchen. Das Maßstäbegesetz soll in Anlehnung an den Charakter der Finanzverfassung abstrakte Kriterien
und nicht lediglich kurzfristige Kompromisse festschreiben.
II. Rezeption des Urteils in der Literatur
Auch die Stellungnahmen der Literatur werden im Folgenden unter den drei Gesichtpunkten: 1. Charakter der Finanzverfassung, 2. Eigenständiges Maßstäbegesetz, 3. Besonderer Charakter des Maßstäbegesetzes näher betrachtet.
1. Charakter der Finanzverfassung
Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Konkretisierung, Auslegung und Anwendung von Art. 106, 107 GG werden in der Literatur als ein »traditioneller Teil« des Urteils verstanden. Die bisherige Rechtsprechungslinie
werde mit leichten Akzentverschiebungen fortgesetzt und fortentwickelt.71 In den
Urteilsbesprechungen wird es als unstreitig anerkannt, dass die verfassungsrechtlichen Regeln im Bereich der Finanzverfassung eine besondere Offenheit besitzen und deshalb ergänzungs- und ausfüllungsbedürftig seien.72
71 Vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 (97. Lfg November 2001) Rn. 117; Ossenbühl, Das Maßstäbegesetz – dritter Weg oder Holzweg des Finanzausgleichs, FS Vogel
2002, 227, 228.
72 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
607, 614; Link, Das »Maßstäbegesetz« zur Finanzverfassung, DÖV 2000, 325, 325.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.