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einer Gleichbehandlung verwandt, um eine Berechenbarkeit, eine Willkürfreiheit
des Entscheidungsprozesses zu fordern. Die Gleichheitsdogmatik besitzt, in der
grundrechtlichen Terminologie gesprochen, eine »Ausstrahlungswirkung« auf
die Gesetzgebung.
4. Ableitung von Verfahrensregeln aus dem Rechtsstaatsprinzip
Im Maßstäbe-Urteil spricht das Gericht zudem davon, dem Gesetz wieder seine
herkömmliche rechtsstaatliche Funktion zuzuweisen.1320 Das veränderte Gesetzgebungsverfahren solle die rechtsstaatliche Transparenz der Mittelverteilung sichern.1321 Basis für die neuen Überlegungen des Gerichts ist folglich das Rechtsstaatsprinzip. Auch die Figur eines inneren Gesetzgebungsverfahrens wird auf
dieses Staatsprinzip zurückgeführt. Die Idee einer transparenten und damit nachvollziehbaren Entscheidung stellt das »Herzstück« der Argumentation dar. Der
Rechtsstaatscharakter garantiere Grundregeln, wie ein Verfahren innerlich ausgestaltet sein müsse.1322 Der Bürger solle darauf vertrauen können, dass Gesetze, denen er sich zu unterwerfen hat, nach rechtsstaatlich-demokratischen Verfahrensweisen zustande gekommen seien.1323
5. Beschränkte Aussagekraft des Maßstäbe-Urteils
Insgesamt stellt das Bundesverfassungsgericht in dem MaßstäbeUrteil Bezüge zu
Verfassungsgrundsätzen her (Gleichheit, Rechtsstaatsprinzip), die auch bei der
Diskussion um das innere Gesetzgebungsverfahren eine wichtige Rolle spielen.
Der dogmatische Hintergrund, aus dem heraus das Gericht im Maßstäbe-Urteil
zusätzliche Verfahrensanforderungen aufstellt, stimmt folglich in großen Teilen
mit den Ansätzen der Gesetzgebungswissenschaft überein.
Bereits an anderer Stelle wurde jedoch angesprochen, dass die Gesetzgebungslehre eine generalisierte Betrachtungsweise einnimmt. Sie beschäftigt sich mit
der Staatsfunktion Gesetzgebung, losgelöst von einzelnen Entscheidungsmaterien. Das Bundesverfassungsgericht hingegen betrachtet die Gesetzgebung nicht
allgemein, sondern bezogen auf die Spezialmaterie Finanzausgleich. Für diesen
Ausschnitt legislativer Tätigkeit entwickelt es zusätzliche Verfahrensanforderungen. Es finden sich im Urteil keine Hinweise dafür, dass das Gericht seine Aussagen auf den gesamten Bereich der Gesetzgebung erstreckt.
1320 Vgl. BVerfGE 101, 158 (218).
1321 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
1322 Vgl. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, 265.
1323 Vgl. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, 266.
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6. Unparteilichkeit und inneres Gesetzgebungsverfahren
Vielmehr beschäftigt sich das Bundesverfassungsgericht im Maßstäbe-Urteil mit
einer besonderen Gesetzgebungssituation und entwickelt eine hierauf »zugeschnittene« Idealvorstellung. In seinen früheren Urteilen hatte es bereits ausgeführt, dass der Bundesgesetzgeber die Rolle eines »ehrlichen Maklers« hat. Das
Bild eines Maklers erinnert hierbei entfernt an Platons Figur eines einzelnen, weisen Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht scheint in seinen früheren Urteilen betonen zu wollen, dass der Bundesgesetzgeber eine besondere Stellung,
vielleicht auch ein besonderes Wissen, in jedem Fall jedoch eine besondere Verantwortung im Vergleich zu den Ländern innehat.1324
Im Maßstäbe-Urteil scheint den Ausführungen des Gerichts ein »pessimistischeres« beziehungsweise realistischeres Bild zugrunde zu liegen. Eine dauerhafte Regelung des Länderfinanzausgleichs scheitert, weil der Bundesgesetzgeber sich nicht qua Stellung im Verfassungsgefüge automatisch von kurzfristigen
Finanzierungsinteressen distanziert. Deshalb müsse der Bundesgesetzgeber in
ein künstliches Informationsdefizit versetzt werden. Auf diese Weise könne er
neutral agieren.
Ziel der Gesetzgebungslehre ist es hingegen, die Qualität der Gesetzgebung
insgesamt zu verbessern. Sehr vage und unbestimmt wird von der Idee eines rationalen Gesetzgebungsverfahrens gesprochen. Zu überlegen ist, in welchem Verhältnis die spezielle Forderung des Gerichts (»Unparteilichkeit«) zu der Figur des
inneren Gesetzgebungsverfahrens steht.
Innerhalb der Diskussion um eine bessere Gesetzgebung wird vereinzelt auch
der Gedanke einer Distanz aufgegriffen. Er steht jedoch nicht im Mittelpunkt der
Betrachtung. Die Gesetzgebungswissenschaft fordert nicht ausdrücklich einen
unparteiischen Gesetzgeber. So spricht Schultze- Fielitz nur abstrakt davon, dass
zentraler Maßstab für die Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens die Distanz
der Legislativkräfte zur Unmittelbarkeit der Politik und den Zwängen der Öffentlichkeit sei.1325
Auch aus der Struktur des inneren Gesetzgebungsverfahrens selbst ergibt sich
nicht ausdrücklich, dass der Gesetzgeber unparteiisch agieren soll. Es wird nur
ausgeführt, dass der Gesetzgeber eine Methode der Entscheidungsfindung einhalten soll. Die Gesetzgebungswissenschaft beschäftigt sich umfassend mit der
Struktur, mit den verschiedenen Ebenen des Verfahrens. Der Gesetzgeber soll
Informationen sammeln, bewerten und gewichten. Diese Anforderungen setzten
möglicherweise unausgesprochen voraus, dass der Gesetzgeber zu den Einzelinteressen eine Distanz besitzt. Eine mögliche Befangenheit des Gesetzgebers wird
jedoch nicht vertieft thematisiert.
1324 Vgl. im Hinblick auf die Rolle des Bundes im sog. kooperativen Föderalismus, Kesper,
Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 30 ff. mit weiteren Nachweisen.
1325 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, 459.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.