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keitsgrundsätze als ein Gedankenexperiment ein.288 Der von ihm beschriebene
Urzustand hat deshalb einen hypothetischen Charakter. Jeder, der die Gerechtigkeitsgrundsätze überprüfen will, kann sich durch ein bestimmtes Verfahren in
diese fiktive Entscheidungssituation versetzen. Man kann in den Urzustand eintreten, indem man sich vorstellt, selbst teilnehmende Partei zu sein und die Verfahrensbeschränkungen für die Übereinkunft einhalten zu müssen.289 Auch in der
Rawls-Rezeption wird diese Eigenschaft des Urzustandes hervorgehoben. Es
handele sich um eine theoretische Entscheidungssituation, die es faktisch zwar
nicht geben kann, die man jedoch gedanklich rekonstruieren und in die man sich
hineinversetzen könne.290
d) Besondere Perspektive der Entscheidungsträger
Gleichzeitig gewinnt bei Rawls der Gesichtspunkt eines Perspektivwechsels an
Bedeutung. Der Schleier des Nichtwissens versetzt die Parteien im Urzustand in
ein Informationsdefizit. Hierdurch verändern sich die Stellung der Personen zueinander und damit ihr Entscheidungsverhalten grundlegend. Die Konzeption des
Urzustands veranschaulicht durch den Schleier des Nichtwissens die intuitive
Vorstellung eines moralischen Standpunkts.291 Versetzt sich der einzelne Mensch
gedanklich in diese besondere Situation, so gewinnt er eine veränderte, eine distanzierte Sichtweise.292 Rawls entwickelt das Bild eines Urzustandes, in dem fiktive Menschen unter ganz besonderen Bedingungen Entscheidungen treffen. Er
möchte hierdurch ein Modell prozeduraler Fairness abbilden.293
2. Urzustand und Bedingungen
Bei dem Urzustand als Darstellungsmittel handelt es sich also um eine »konstruierte« Entscheidungssituation, in der die Teilnehmer bestimmte Eigenschaften
besitzen und Verfahrensregeln unterliegen. Für Rawls fasst der von ihm beschriebene Urzustand die Gesamtheit der Bedingungen zusammen, die man bei angemessener Überlegung als vernünftig anzuerkennen bereit ist.294 Ehe im Folgenden
genau auf die zentrale Bedingung »Schleier des Nichtwissens« eingegangen wird,
288 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 3, 27.
289 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 36.
290 Vgl. Dworkin, The Original Position, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 16, 25; Koller,
Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 36.
291 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 85.
292 Vgl. Barber, Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit: Probleme der Psychologie, der Politik
und der Messung bei Rawls, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 1977, 224,
225.
293 Vgl. Daniels, Einführung, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, xix.
294 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 87, 637.
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soll als Basis das grundlegende Verhältnis von Urzustand und Bedingungen erörtert werden.
a) Verhältnis von Bedingungen und Ergebnis
Rawls äußert sich zu dem Verhältnis von Bedingungen und Ergebnis wie folgt:
»Wir möchten den Urzustand so bestimmen, dass die gewünschte Lösung herauskommt.«295
Er ist sich folglich bewusst, dass er seine Ausgangssituation auf ein bestimmtes
Ergebnis hin konstruiert. Je nachdem, wie der Urzustand in einer Theorie ausgestaltet wird, verändert sich die Entscheidung der Parteien. Rawls berücksichtigt
bei seinen Überlegungen, dass es viele mögliche Konkretisierungen des Urzustandes gibt. Hinter jeder herkömmlichen Gerechtigkeitsvorstellung stehe ein bestimmtes Bild dieser Ausgangssituation.296 Er sieht demnach eine Eigenart beziehungsweise eine »Schwäche« des klassischen kontraktualistischen Arguments:
Die Beschreibung des Ausgangszustandes determiniert den Inhalt der Übereinstimmung. Der im Urzustand angelegte Konflikt ist entscheidend dafür, welche
Ziele mit dem Gesellschaftsvertrag verfolgt werden sollen.297 Rawls berücksichtigt bei seinen Überlegungen ausdrücklich, dass die Bedingungen des Urzustandes das Ergebnis der Einigung vorherbestimmen.
b) Akzeptanz der Bedingungen
Die Beschreibung des Urzustandes hat demnach eine zentrale Rolle innerhalb der
Konzeption. Dann stellt sich jedoch die Frage, wie die jeweils vorgenommenen
Einschränkungen gerechtfertigt werden können. Hier setzt auch die Kritik der Literatur an: Wenn der Urzustand wirklich als eine rechtfertigende Berufungsinstanz für Gerechtigkeitsgrundsätze dienen soll, so müssen die Bedingungen, aus
denen er sich zusammensetzt, einer kritischen Überprüfung standhalten. Die Annahmen müssen jede für sich genommen so natürlich und einleuchtend sein, dass
sie als allgemein akzeptiert gelten können. 298
Auch Rawls selbst stellt diese Anforderung an seine Konzeption. Bei den
Bedingungen soll es sich um schwache Voraussetzungen handeln, die allgemein
akzeptiert werden. Nur so wird der Urzustand zu einem Gedankenexperiment, in
295 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 165.
296 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 20, 143, prägnant zusammengefasst von Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, 273 – 275.
297 Allgemein zu dieser Eigenart des klassischen Kontraktualismus, Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, 55, 57.
298 Vgl. Alejandro, The Limits of Rawlsian Justice, 1998, 74.
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das sich jedermann problemlos hineinversetzen kann.299 Wir müssen die einzelnen Bedingungen bewusst durchspielen können.300 Erst dadurch erlangen wir
einen neuen Standpunkt. Von diesem aus können wir dann die Frage nach einer
sozialen Gerechtigkeit unabhängig von unserer individuellen Situation »aus der
Ferne« betrachten.301
c) Überlegungsgleichgewicht
Doch warum sollte es sich bei Rawls’ Bedingungen um einfache und allgemein
akzeptierte Voraussetzungen handeln? Er gibt doch zu, dass er seinen Urzustand
auf ein Ergebnis hin konstruiert. Spricht diese Vorgehensweise nicht vielmehr dafür, dass er eigenmächtig und beliebig Anforderungen aufstellt?
Rawls berücksichtigt diesen möglichen Vorwurf in seinen Ausführungen zum
Urzustand. Er geht davon aus, dass die Ausgangssituation von ihm nicht beliebig
modelliert werden kann. Vielmehr sucht er nach einer Konkretisierung der Ausgangssituation, die eine entscheidende Voraussetzung erfüllen muss. Die Bedingungen, die zu dem Bild eines Urzustandes führen, müssen unserem Überlegungsgleichgewicht entsprechen.302
Wie kann der Begriff des Überlegungsgleichgewichts verstanden werden? In
der Literatur wird diese Figur als Schlüssel aufgefasst, um die Rawlssche Methodologie einordnen zu können.303 Rawls verwende ein Kohärenzmodell, um den
Urzustand beziehungsweise die Bedingungen des Urzustandes zu rechtfertigen.304 Das Überlegungsgleichgewicht kann als ein Denkprozess, als ein dynamischer Vorgang verstanden werden.305
Rawls selbst beschreibt diesen Vorgang wie folgt: Das Bild des Urzustandes
wird daran geprüft, wie weit es unseren individuellen Überzeugungen entspricht.
Jeder Mensch besitzt eine Vorstellung darüber, in welcher Situation beziehungsweise unter welchen Bedingungen grundlegende (politische) Entscheidungen
getroffen werden sollten. Er besitzt als Prüfstein ein ganz eigenes Bild einer Ausgangssituation, die zu gerechten Grundsätzen führt. Diese Überzeugungen charakterisiert Rawls als unsere wohl überlegten Gerechtigkeitsvorstellungen.306
Den Begriff »wohl überlegt« versteht er dahin gehend, dass es sich um Urteile
handelt, in denen sich unsere moralischen Fähigkeiten am ehesten unverfälscht
entfalten. Die Überzeugungen von Menschen sind dann wohl abgewogen, wenn
299 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 34.
300 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 20, 142.
301 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 39.
302 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 20, 143.
303 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 58.
304 Vgl. vertieft Hoerster, John Rawls’ Kohärenztheorie der Normbegründung, in: Höffe, John
Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 1977, 57 ff.
305 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 181, 182.
306 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 38.
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der Gerechtigkeitssinn maßgeblichen Einfluss hat.307 Dennoch besteht die Möglichkeit, dass diese individuellen Überzeugungen fehlerhaft sind. Denn sie können Verzerrungen und Unregelmäßigkeiten unterliegen.308 Der Gerechtigkeitssinn allein vermittelt dem einzelnen Menschen folglich nur ein unscharfes Bild
einer idealen Ausgangssituation.
Der Weg von den unscharfen individuellen Vorstellungen zu einem allgemein
akzeptierten Bild des Urzustandes ist ein Rückkopplungsprozess: Auf der Suche
nach einem konsensfähigen Urzustand benötigen die Menschen zwei vorläufige
Fixpunkte: eine erste Urzustandsbeschreibung und ihre gegenwärtigen Urteile.
Es beginnt ein Überlegungsvorgang, bei dem der Blick des Lesers zwischen diesen beiden Ausgangspunkten hin und her wandert.309 Beide Positionen können
abgeändert und revidiert werden und nähern sich hierdurch einander an. Ein
Überlegungsgleichgewicht entsteht dann, wenn wir zu einem Bild des Urzustandes gelangen, das mit unseren wohlüberlegten Urteilen kompatibel ist.310
Mit Hilfe des so verstandenen Überlegungsgleichgewichts rechtfertigt Rawls
seine Konkretisierung des Urzustandes. Er nimmt an, dass die Menschen im Rahmen eines Überlegungsvorgangs genau zu seinem Bild dieser Ausgangssituation
gelangen. Er zeigt allerdings nicht den Denkvorgang, die Prozedur auf, die zu seinem Ergebnis führt.311 Der Leser muss folglich selbst prüfen, ob er nicht nur das
Argument eines Urzustandes an sich akzeptiert, sondern auch, ob er die konkrete
Urzustandsbeschreibung als vernünftig ansieht.
Insgesamt zeigt sich, dass Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit nicht nur auf
logischen Wahrheiten und Definitionen errichten kann und will. Für ihn muss
eine Theorie der Moral die Freiheit haben, nach Belieben kontingente Annahmen
und allgemeine Tatsachen heranzuziehen. Eine Theorie der Gerechtigkeit ist in
ihrem Anfangsstadium eine Theorie der moralischen Gefühle.312 Die Prämissen
des Urzustandes werden insgesamt nicht durch logische Ableitungen legitimiert,
sondern dadurch, dass sie von uns akzeptiert werden.
An dieser Stelle kann nicht vertieft auf die umfangreiche Sekundärliteratur
zum Überlegungsgleichgewicht eingegangen werden.313 Es soll nur ein kurzer
Einblick in die Methodologie von John Rawls erfolgen. Festzuhalten bleibt: Das
Überlegungsgleichgewicht hat eine große Bedeutung für den Urzustand. Moralische Rechtfertigung ist in der Rawlsschen Konzeption ein dynamischer Vorgang,
307 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 9, 67.
308 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 9, 68.
309 Dworkin beschreibt das Überlegungsgleichgewicht in dieser Art und Weise sehr gut nachvollziebar, Dworkin, The Original Position, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 16, 32.
310 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 38.
311 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 38.
312 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 9, 70.
313 Vgl. Vertiefend Daniels, Justice and Justification, 1996; Dworkin, The Original Position,
in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 16, 22; Ebertz, Is Reflective Equilibrium a Coherentist
Model?, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 311 ff.; Hahn, Überlegungsgleichgewicht(e), 2000; Schwartz, Relativism, Reflective Equilibrium, and Justice, Legal Studies
17 (1997), 128 ff.
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der an zwei Ausgangspunkten beginnt. Diese Ausgangspunkte selbst liegen nicht
dauerhaft fest, sondern können sich innerhalb des Prozesses verändern.314
d) Zwischenergebnis
Schon bei der Betrachtung des von Rawls beschriebenen Urzustandes wird deutlich, dass er mit seiner Theorie einer Gerechtigkeit als Fairness möglicherweise
einen neuen Weg in der Philosophiegeschichte aufzeigt. Auf den ersten Blick
scheint er auf die Theorie des Gesellschaftsvertrages zurückzugreifen. Jedoch
setzt er dieses kontraktualistische Argument ein, um ein anderes Ziel zu rechtfertigen. Er will Verteilungskonflikte innerhalb bestehender Gesellschaften auflösen. Mit Hilfe von gerechten Grundsätzen will er auf die Arbeitsweise von bereits
bestehenden gesellschaftlichen Institutionen einwirken. Diese veränderte Zielsetzung bewirkt, dass seine Argumentation inhaltlich von dem klassischen Kontraktualismus abweicht. Sein Urzustand unterscheidet sich von bisherigen Beschreibungen in der Philosophiegeschichte. Eine Distanz zu früheren Vertragstheoretikern entsteht insbesondere dadurch, dass Rawls das konstruktivistische Element
der Argumentationsfigur »Gesellschaftsvertrag« bewusst offen legt. Er zeigt auf,
dass die Bedingungen des Urzustandes auf ein bestimmtes Ergebnis hin konstruiert werden. Gleichzeitig führt er mit dem Begriff des Überlegungsgleichgewichts ein neues Rechtfertigungselement ein. Sein Bild der Ausgangssituation
wird dadurch legitimiert, dass die Menschen in einem dynamischen Denkprozess
ebenfalls zu gerade dieser Urzustandsbeschreibung gelangen würden. Rawls
nimmt folglich in Anspruch, dass seine Beschreibung unseren intuitiven Vorstellungen einer Ausgangssituation nahe kommt.
3. Die Figur des Schleiers des Nichtwissens
Nachdem der Urzustand als ein Kernstück der Theorie von John Rawls aufgezeigt
wurde, stellt sich die Frage, welche Verbindung zwischen dem Schleier des
Nichtwissens und dem Urzustand besteht. Die Antwort fällt zunächst leicht; der
Schleier ist eine der Verfahrensbedingungen, die Rawls aufstellt. Die Aufgabe
dieser Gedankenfigur besteht darin, die Wirkung von Zufälligkeiten zu beseitigen. Mit Hilfe des Schleiers des Nichtwissens will Rawls die Gleichheit der Entscheidungsträger gewährleisten. Die Beteiligten sollen sich bei ihren Überlegungen alle in der gleichen Situation befinden und ihre Wahl allein an allgemeinen
Gesichtspunkten ausrichten. Es soll die Gefahr ausgeschlossen werden, dass sich
die Parteien bei der Entscheidung von individuellen Vorteilen leiten lassen.315
314 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 59; Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, 284 ff.
315 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.