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4. Charakter des inneren Gesetzgebungsverfahrens
Kontrovers diskutiert wurde in der Vergangenheit vor allem, welchen Charakter
das innere Gesetzgebungsverfahren besitzt. Wie diese Figur dogmatisch eingeordnet werden kann, ist innerhalb der öffentlich-rechtlichen Literatur unklar und
wird als problematisch empfunden.918 Kernfrage ist, ob sich derartige Verfahrensanforderungen über Art. 76 ff. GG aus dem Grundgesetz ableiten lassen und
hierdurch den Charakter einer Rechtspflicht erhalten. Drei verschiedene Positionen können in der Literatur unterschieden werden:
a) Politische Ethik
Ein Teil der Literatur ordnet die Überlegungen zu einem inneren Gesetzgebungsverfahren als Teil einer politischen Ethik ein. Es handele sich um bloße »Klugheitsgebote«. Synonym werden auch die Bezeichnungen Tugendgebote919 und
Vernunftgebote verwandt. Eine Methodik der Entscheidungsfindung lasse sich
nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz beziehungsweise aus Verfassungsgrundsätzen ableiten. Die aufgestellten zusätzlichen Verfahrensanforderungen stellten
folglich keine rechtlichen Verpflichtungen für den Gesetzgeber dar.920 Der Gesetzgeber schulde nichts als das »fertige« Gesetz.921
918 Vgl. Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht,
in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, 81, 83; Mengel, Gesetzgebung
und Verfahren, 1997, 331, 335; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 874.
919 Vgl. Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht,
in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, 81, 92; Gusy, Das Grundgesetz
als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291, 298.
920 Vgl. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291 ff.; Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtsetzung, in:
Schäffer Theorie der Rechtsetzung, 1988, 11, 28; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, 6. Auflage, 2004, 364; Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung
zwischen Rationalität, Transparenz und Politik, NVwZ 2000, 841, 844. In diese Richtung
auch Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG Sonderheft 2003, 71, der Gesetzgebungsrichtlinien ausarbeiten will, die ohne sanktionsbewehrte Rechtsverbindlichkeit als Checkliste für
die Anforderungen an gute Gesetzgebung fungieren.
921 Vgl. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291, 298;
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Auflage, 2004, 376.
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b) Verfassungspflicht
Andere Stimmen hingegen sehen in dem inneren Gesetzgebungsverfahren nicht
nur ein rechtspolitisches Postulat, sondern eine Verfassungspflicht.922 Die Verfassung beinhalte auch Anknüpfungspunkte für eine Methode der Entscheidungsfindung.923 Derartige zusätzliche Verfahrensanforderungen könnten durch eine Interpretation des Grundgesetzes legitimiert werden. Der Gesetzgeber sei rechtlich
zu einer »optimalen« Gesetzgebung verpflichtet.924
c) Vermittelnde Ansicht
Eine vermittelnde Position versucht, die Überlegungen der vorherigen Ansichten
zu verbinden. Sie strebt einen Kompromiss zwischen den beiden »extremen Auffassungen« an, indem sie aus der Verfassung nur restriktiv weitere normative Anforderungen an das Verfahren ableiten will.925 Sie fordert keine Maßstäbe für eine
optimale Methodik, sondern nur Mindestanforderungen.926 Jedoch sieht sie die
Minimalgebote einer »guten« Entscheidungsfindung als Verfassungspflicht und
nicht nur als bloße Vernunftgebote an.927
Die Literatur setzt sich folglich intensiv mit der Frage auseinander, ob und wie
ein inneres Gesetzgebungsverfahren aus der Verfassung heraus begründet werden
kann. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nicht, die Diskussion vollständig wiederzugeben. Stattdessen werden allein die Eckpunkte der Argumentation aufgezeigt. Die Kontroverse ähnelt der früheren Auseinandersetzung um den Gesetzesbegriff. Ziel der weiteren Untersuchung ist es, diese Parallelität aufzuzeigen und
damit die Entwicklung innerhalb des Bereichs Gesetzgebung insgesamt zu analysieren.
922 Vgl. Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, 286, 291. Für eine
verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zu intensivem Nachdenken Hoffmann, Das
verfassungsrechtliche Gebot der Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97,
109.
923 Vgl. Mengel, Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, ZRP 1984, 153, 160.
924 Vgl. Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS
Ipsen 1977, 173 ff.
925 Vgl. Mengel, Die verfahrensrechtlichen Pflichten des Gesetzgebers und ihre verfassungsgerichtliche Kontrolle, ZG 1990, 193, 193; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band
III, 1988, § 63 Rn. 7; Schuppert, ZG Sonderheft 2003, 17 ff.
926 Vgl. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, 336.
927 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), 63, 89.
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5. Argumente für eine Einordnung als Verfassungspflicht
a) Rechtsstaatsprinzip
Ein inneres Gesetzgebungsverfahren als Verfassungspflicht könnte aus dem
Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden. Hierfür spricht, dass eine rationale Entscheidungsfindung Grundsatz des Rechtsstaatsgebotes sei, der Weg zur Entscheidung dürfe nicht willkürlich ablaufen.928 Der Rechtsstaatscharakter garantiere
deshalb Grundregeln, wie ein Verfahren innerlich ausgestaltet sein müsse.929 Der
Bürger solle darauf vertrauen können, dass Gesetze, denen er sich zu unterwerfen
hat, nach rechtsstaatlich-demokratischen Verfahrensweisen zustande gekommen
sind.930 Das Rechtsstaatsprinzip werde auch nicht überstrapaziert, wenn aus diesem Gebot ein inneres Gesetzgebungsverfahren entwickelt werde. Kein anderer
Verfassungsgedanke werde in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts so
weit entfaltet wie dieses Grundprinzip. Es enthalte eine große Anzahl unterschiedlicher Schwerpunkte beziehungsweise Facetten. 931
Gegen diese Argumentation wird angeführt, dass aus dem Rechtsstaatsprinzip
im Bereich der Gesetzgebung nur idealtypische Postulate abgeleitet werden können. Es bestehe eine Gefahr, mit Hilfe dieses Verfassungsprinzips Dinge zum Verfassungsrang »hinaufzuargumentieren«.932 Der Gesetzgebungsprozess werde auf
diesem Weg zu sehr verrechtlicht. Es könne zu einer nicht endenden Verrrechtlichungsspirale kommen, bei der die eigentliche Gesetzgebung doch nie erfasst, nie
eingefangen werde.933
Schon die Diskussion um den Gesetzesbegriff hat gezeigt, dass ein Rückgriff
auf das Rechtsstaatsprinzip problematisch ist. Es steht die Frage im Raum: Wie
kann der unbestimmte Verfassungsbegriff »Gesetzgebungsverfahren« mit Hilfe
des weiteren Grundbegriffs »Rechtsstaatsprinzip« konkretisiert werden? Zwar
kann das Rechtsstaatsprinzip als System institutionalisierten Misstrauens gegen
den Gesetzgeber verstanden werden.934 Der Gedanke der Gewaltenteilung bildet
928 Vgl. Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, 286, 292; Jekewitz
in: Alternativkommentar zum GG, Band II, 1984, Art.76 Rn. 6; Schwerdtfeger, Optimale
Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS Ipsen 1977, 173, 177.
929 Vgl. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, 265; Mengel, Empfiehlt es sich, die
Regeln guter Gesetzgebung gesetzlich festzulegen?, in: Hill, Parlamentarische Steuerungsordnung, 2001, 115, 117.
930 Vgl. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, 266; Mengel, Empfiehlt es sich, die
Regeln guter Gesetzgebung gesetzlich festzulegen?, in: Hill, Parlamentarische Steuerungsordnung, 2001, 115, 117.
931 Vgl. Mengel, Empfiehlt es sich, die Regeln guter Gesetzgebung gesetzlich festzulegen?,
in: Hill, Parlamentarische Steuerungsordnung, 2001, 115, 121.
932 Vgl. Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht,
in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, 81, 83, 84.
933 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 838.
934 Vgl. Denninger: Stichwort »Rechtsstaat«, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, 1974,
Band 2, 344, 346.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.