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stigen Interessen und nicht von langfristigen Überlegungen leiten lassen. Genau
in diesem »Gesetz der Nähe« scheint der Grund dafür zu liegen, dass eine dauerhafte und gerechtigkeitsorientierte Gesetzgebung insbesondere im Finanzausgleich unerreichbar ist.
V. Konflikt im Länderfinanzausgleich und in der Gleichheitsdogmatik
Rechtlich kann der Länderfinanzausgleich ebenfalls auf zwei verschiedenen Begriffsebenen dargestellt werden. Wie die Urteilsanalyse zeigen wird, handelt es
sich bei dem Verweis auf Rawls lediglich um einen ergänzenden Hinweis. Primär
entwickelt das Gericht seinen neuen prozeduralen Lösungshinweis aus der Verfassung heraus.
Indem das Bundesverfassungsgericht innerhalb seiner Argumentation auf
Rawls’ Schleier des Nichtwissens zurückgreift, fasst es die Schwierigkeit der
gerechten Finanzverteilung unter den Ländern möglicherweise als eine Gleichheitsfrage auf.22 Denn die Problematik des Länderfinanzausgleichs lässt sich prägnant auf der Begriffsebene von Art. 3 I GG umschreiben. Zwar sind im Rahmen
des Finanzausgleichs als Teil der Staatsorganisation Grundrechte nicht unmittelbar anwendbar. Bereits in den früheren Urteilen zur Finanzverfassung hat jedoch
das Bundesverfassungsgericht den Bundesgesetzgeber auf ein föderales Gleichbehandlungsgebot verpflichtet, das sich an Art. 3 I GG anlehnt. Das Problem des
Länderfinanzausgleichs besteht dann darin, dass die Umverteilung der Finanzen
auf abstrakten Überlegungen basieren müsste. Eine wirkliche Gleichbehandlung
der Länder ist nur dann möglich, wenn Kriterien, nach denen die Ausgleichsleistungen bestimmt werden, längerfristig gleich bleiben.23 Solche Kriterien wurden
jedoch deshalb bislang nicht gefunden, weil kurzfristige Interessen die Verhandlungen beherrschten und einen Konsens über dauerhafte Verteilungsmaßstäbe
verhinderten.
Indem das Gericht ein Nichtwissen der Abgeordneten über konkrete Finanzierungsinteressen fordert, etabliert es, in der Terminologie von Art. 3 GG gesprochen, Anknüpfungsverbote. Das neu zu erlassende Maßstäbegesetz und die in ihm
enthaltenen Verteilungskriterien sollen gerade nicht auf einer momentanen
Finanzsituation und damit einer punktuellen Interessenlage beruhen.
22 Das Maßstäbe – Urteil wurde in der Literatur nur am Rande unter dem Gesichtspunkt der
Gleichheitsdogmatik betrachtet. Hervorzuheben ist hier die Urteilsanmerkung von Becker,
Forderung nach einem Maßstäbegesetz – Neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik,
NJW 2000, 3742 ff. Dieser beschäftigt sich jedoch vornehmlich mit der Problematik einer
Selbstbindung des Gesetzgebers und ordnet diesen Gedanken als eine Forderung nach
»Gleichbehandlung in der Zeit« ein.
23 Vgl. Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz – Neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik, NJW 2000, 3742, 3745.
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VI. Konflikt im Länderfinanzausgleich und in der Gesetzgebungslehre
Wie die Urteilsanalyse aufzeigen wird, entwickelt das Gericht mit dem Maßstäbe-
Urteil eine »prozedurale« Lösung für den Länderfinanzausgleich. Es befasst sich
mit der Frage, unter welchen Verfahrensbedingungen brauchbare Verteilungskriterien erarbeitet werden können.
Die Gesetzgebungsaufträge im Rahmen der Finanzverfassung können hierbei
als ein Spezialfall der »normalen« Gesetzgebung angesehen werden. Im Rahmen
des Länderfinanzausgleichs spitzt sich ein Konflikt zu, der der Gesetzgebung als
Staatsfunktion insgesamt inhärent ist. Sind Gesetze unter dem Grundgesetz
Ergebnis einer Verhandlung und damit interessenbestimmt oder muss der Gesetzgeber im Rahmen seiner Entscheidung eine gerechtigkeitsorientierte und damit
»neutrale« Position einnehmen?
Das Grundgesetz setzt dem Parlament mit den Art. 76 ff. GG einen ersten,
jedoch sehr weiten Rahmen. In der Verfassung ausdrücklich geregelt ist allein der
äußere Ablauf des Entscheidungsprozesses. Es wird zunehmend kontrovers diskutiert, ob das Grundgesetz in diesem Bereich eine planwidrige Regelungslücke
aufweist. Innerhalb der sich etablierenden Gesetzgebungswissenschaft werden
verschiedene Reformansätze aufgeworfen und erörtert.
Diese Suche nach »Wegen besserer Gesetzgebung« gestaltet sich deshalb
schwierig, weil sie der Theorie der Spielräume zu widersprechen scheint. Diese
begreift Gesetzgebung als einen primär politischen Prozess, in dem das Parlament
»frei« entscheidet und bewusst nur einer Minimalkontrolle unterliegt. Andererseits könnte ein solches Vertrauen in die Tätigkeit der Legislative nicht mehr zeitgemäß sein. Gesetzgebung unter dem Grundgesetz stellt keine »mythische«
Tätigkeit dar24 und muss deshalb möglicherweise einer umfassenderen Kontrolle
und Begründungspflicht unterliegen.
Indem das Bundesverfassungsgericht im Maßstäbe – Urteil eine verfahrensorientierte Betrachtungsweise einnimmt und zusätzliche prozedurale Anforderungen an den Finanzgesetzgeber aufstellt, scheint es sich den Stimmen in der Literatur anzuschließen, die eine verstärkte Kontrolle des Entscheidungsprozesses
fordern.
Innerhalb der Gesetzgebungslehre wird zwar nicht die Forderung nach unparteilich agierenden Abgeordneten aufgestellt. Ihr Grundanliegen ähnelt jedoch
dem Ansatz im Maßstäbe-Urteil: Mit Hilfe zusätzlicher Verfahrensanforderungen
soll die Qualität der Gesetzgebung verbessert, der Gesetzgeber diszipliniert werden. Kontrovers diskutiert wurde in der Vergangenheit insbesondere, inwieweit
die Legislative an eine Methode der Entscheidungsfindung gebunden ist. Lässt
sich für das Parlament aus dem Grundgesetz ein Abwägungsgebot ableiten? Handelt es sich bei einer solchen Forderung nach einem inneren Gesetzgebungsverfahren um eine Verfassungspflicht oder ein bloßes Vernunftgebot?
24 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, 9 ff.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.