320
der Gesetzgebungslehre gestützt werden kann. Die Vorstellung eines unparteiischen Gesetzgebers wird dort nicht ausdrücklich diskutiert.
III. Rückgriff auf John Rawls
Möglicherweise greift das Gericht deshalb bewusst auf Rawls’ Schleier des
Nichtwissens zurück. Es stützt seinen Gedanken eines zeitlichen Abstands ergänzend auf dessen Gerechtigkeitstheorie.
Wie bereits an verschiedenen Stellen der vorliegenden Arbeit angesprochen,
wird dieser Rückgriff des Bundesverfassungsgerichts auf eine Gerechtigkeitstheorie in zweierlei Hinsicht kritisiert. Zum einen sehen Stimmen in der öffentlich-rechtlichen Literatur den Hinweis auf den Schleier des Nichtwissens als naiv
und weltfremd an. Das philosophische Gedankengut besitze keine Überzeugungskraft für eine praxisbezogene Diskussion.1327 Zum anderen sei die Wirkungsweise
des Schleiers nicht mit der Konzeption des Grundgesetzes kompatibel.1328 Doch
ist diese ablehnende Haltung im Hinblick auf die Sondermaterie Finanzausgleich
wirklich berechtigt? Oder beinhaltet Rawls’ Konzeption Überlegungen, die für
diese Art von Verteilungskonflikt eine Anstoßfunktion und damit Leitbildwirkung entfalten können?
1. Vereinbarkeit: Gerechtigkeit als Fairness und Finanzausgleich
In einem ersten Schritt ist zu überlegen, ob der Einwand »keine Vereinbarkeit mit
dem Grundgesetz« zutrifft. Hierbei ist zu beachten, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil allein mit der besonderen Verteilungssituation Finanzausgleich beschäftigt. Es verweist lediglich für diesen Bereich der Verfassung auf Rawls’ Schleier des Nichtwissens. Daher stellt sich zunächst die Frage,
ob Rawls’ Überlegungen mit der Systematik des Länderfinanzausgleichs vereinbar sind. Inwieweit ein Schleier des Nichtwissens darüber hinaus in das Grundgesetz integrierbar wäre, ist Untersuchungsgegenstand des nächsten Abschnitts
(7. Teil: Schleier des Nichtwissens und Grundgesetz).
Wie im Verlauf der Untersuchung gezeigt, stellt der Finanzausgleich einen
Spezialfall der Gesetzgebung dar. Es handelt sich um einen Verteilungskonflikt,
in dem die Bundesländer »erbittert« um ihre finanzielle Ausstattung kämpfen.
Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls wiederum beschäftigt sich gerade
mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Ziel seiner Konzeption ist es, eine
1327 Vgl. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, 263, 272; Lindner, Das
BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der »Schleier des Nichtwissens«, NJW 2000,
3757, 3760.
1328 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 440; Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität, Transparenz und Politik, NVwZ 2000,
841, 843.
321
Lösung für Verteilungskonflikte zwischen den Menschen zu entwickeln. Mit
Hilfe der Gerechtigkeitsgrundsätze soll eine Grundstruktur der Gesellschaft entstehen, in der die Grundgüter gerecht verteilt werden.
Sowohl die Überlegungen von Rawls als auch der Länderfinanzausgleich
beschäftigen sich folglich mit der Frage, wie begehrte Güter gerecht verteilt werden können. Insoweit erscheint es nicht ungewöhnlich, dass das Bundesverfassungsgericht auf diese Gerechtigkeitstheorie verweist. Denn eine zusätzliche
Attraktivität von Rawls’ Konzeption besteht darin, dass er ein Institutionendesign
aufzeigt. Wie im dritten Teil der Arbeit deutlich wurde, entwickelt er mit dem
Schleier des Nichtwissens eine Verfahrensbedingung, die auch Leitbild für die
Arbeitsweise der verfassungsgebenden Versammlung und der einfachen Gesetzgebung sein kann.
Zu überlegen ist, ob sich diese Nähe zwischen der Problematik des Länderfinanzausgleichs und Rawls’ Lösungsansatz dann auflöst, wenn man Details
betrachtet. Liegt dem Gedanken einer Gerechtigkeit als Fairness das Bild eines
Verteilungskonflikts zugrunde, unter das auch der Finanzausgleich mit all seinen
Schwierigkeiten subsumierbar ist?
a) Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit durch Gesetz
Im Maßstäbe-Urteil betont das Bundesverfassungsgericht die zentrale Rolle des
Gesetzes im Finanzausgleich. Das Gesetz wird als das einzig geeignete Handlungsmittel angesehen. Weder dürfe der Finanzausgleich dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen werden noch komme eine vertragliche Verständigung
zwischen den Ländern in Betracht.1329 Diese Ausführungen und der Verweis auf
Rawls’ Gerechtigkeitstheorie scheinen in Widerspruch zueinander zu stehen.
Denn Rawls nimmt nach seinen eigenen Worten das Argument des klassischen
Kontraktualismus auf und will es auf eine höhere Abstraktionsebene heben.1330
Wie kann das Gericht eine vertragliche Verständigung ablehnen und dennoch auf
eine modifizierte Vertragstheorie verweisen?
Diesem Einwand kann zweierlei entgegen gehalten werden. Zum einen wurde
bereits im dritten Teil der Arbeit die Frage aufgeworfen, inwieweit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit tatsächlich noch Verbindungen zum Kontraktualismus
besitzt. Rawls übernimmt grundsätzlich die Dreiteilung in Naturzustand – vertragliche Einigung – nachvertraglicher Zustand. Er entwirft jedoch eine Konzeption, die nicht Herrschaft an sich legitimieren, sondern die Arbeitsweise bereits
bestehender Institutionen verändern soll. Die Gerechtigkeitsgrundsätze stellen
Verteilungsregeln dar und zeigen das Bild einer gerechten Grundstruktur auf.
Dieses Bild, diese ideale Theorie soll dem einzelnen Leser helfen, die tatsächlichen Verteilungsvorgänge kritisch zu bewerten. Indem Rawls in seinen Folgewer-
1329 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
1330 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 3, 27.
322
ken den Gedanken der Repräsentation aufnimmt, entfernt er sich noch weiter von
der Theorie des Gesellschaftsvertrages. Seinem Urzustand liegt nicht mehr die
Vorstellung zugrunde, dass alle Menschen gemeinsam die Gerechtigkeitsgrundsätze beschließen, sondern dass Treuhänder eine solche Entscheidung treffen.
Entscheidend ist zum anderen, welcher Teil der Rawlsschen Konzeption mit
dem Finanzausgleich verglichen wird. An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass Rawls einen Stufenbau der Rechtsordnung entwirft. Seine Theorie der
Gerechtigkeit unterteilt sich in zwei Abschnitte. Die Sekundärliteratur beschäftigt sich primär mit dem ersten Teil seines Werkes. Dieser beschreibt die fiktive
Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze. Rawls hat sich jedoch im zweiten Teil seines
Werkes auch mit den weiteren Stufen staatlicher Entscheidungen auseinander
gesetzt. Wie im dritten Teil der Untersuchung aufgezeigt wurde, bilden die
Gerechtigkeitsgrundsätze die Spitze eines Stufenbaus mit den Ebenen:
Grundsätze der Gerechtigkeit
Verfassung
Einfache Gesetzgebung
Anwendung der Regeln auf den Einzelfall
Dieser Vier-Stufen-Gang hat in der Sekundärliteratur nur wenig Beachtung gefunden. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Rawls die untergeordneten Entscheidungen nur knapp darstellt. Der inhaltliche Schwerpunkt seiner
Überlegungen liegt auf der Grundkonzeption und damit der Einigung über die
Gerechtigkeitsgrundsätze. Dennoch nimmt er, wie bereits dargestellt, auf den
Ebenen Verfassungsgebung und einfache Gesetzgebung entscheidende Modifikationen vor.
Aus diesem Grund ist es wichtig, den korrekten Ansatzpunkt für eine Betrachtung des Länderfinanzausgleichs aus Rawlsscher Perspektive zu wählen. Verglichen werden kann die Problematik des Finanzausgleichs direkt nur mit Rawls’
Ausführungen zum Vier-Stufen-Gang. Bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze handelt es sich um eine andere Ebene, die dem staatlichen positiven Recht vorgeordnet ist. Für diese grundlegenden Maßstäbe zieht Rawls den Gedanken des
Gesellschaftsvertrages heran. Er kennt in seiner Theorie aber ebenso das einfache
Gesetz als staatliches Handlungsmittel. Folglich widerspricht sich das Bundesverfassungsgericht nicht, wenn es einerseits eine vertragliche Verständigung
ablehnt, andererseits jedoch auf die Konzeption von Rawls zurückgreift.
Zwischen Rawls und dem Bundesverfassungsgericht besteht eine grundlegende Übereinstimmung. Beide verwenden die Vorstellung einer gestuften
Rechtsordnung. Rawls spricht von mehreren zeitlich geordneten Stufen, mit
deren Hilfe er die Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze verdeutlichen will.
Jede Stufe soll nach seiner Ansicht ein brauchbarer Gesichtspunkt zur Behandlung bestimmter Arten von Fragen sein.1331
1331 Vgl. Rawls, TG Abschnitt 31, 224.
323
Schwierigkeiten bereitet es lediglich, die Entscheidung über das Maßstäbe-
Gesetz in den Rawlschen Vier-Stufen-Gang einzuordnen. Wie in der Urteilsanalyse herausgearbeitet, schreibt das Bundesverfassungsgericht diesem Gesetz
Eigenschaften zu, aufgrund derer es einen besonderen Rang einnimmt. Es steht
zwischen Verfassung und einfachem Gesetz, bildet eine neue Gesetzesform. Eine
solche Zwischenstufe ist jedoch bei Rawls nicht vorgesehen, er kennt allein Verfassung und einfaches Gesetz. Da das Maßstäbe-Gesetz nicht von einer verfassungsgebenden Versammlung sondern von dem einfachen Bundesgesetzgeber
erlassen werden soll, werden im weiteren Verlauf der Untersuchung Rawls’ Ausführungen zur einfachen Gesetzgebung herangezogen. Eine solche Vereinfachung ist deshalb unschädlich, weil vor allem der Grundgedanke des Vier-Stufen-
Gangs im Vordergrund steht: Der Schleier des Nichtwissens findet auch noch
nach der Übereinkunft über Gerechtigkeitsgrundsätze Anwendung, er wird
jedoch zunehmend durchlässiger.
b) Besonderer Interessenkonflikt im Finanzausgleich
In einem nächsten Schritt ist zu überlegen, ob John Rawls’ Überlegungen auf den
besonderen Interessenkonflikt im Finanzausgleich übertragbar sind. Welche Interessen treffen im Rahmen der Verhandlungen über Umverteilungen aufeinander? Handelt es sich um eigene Interessen der Bundestagsabgeordneten oder an
sie herangetragene und damit vermittelte Interessen?
aa) Keine »klassische« Gesetzgebung in eigener Sache
Es könnte sich bei der Materie des Länderfinanzausgleichs um eine Fallkonstellation der Gesetzgebung in eigener Sache handeln. Heinrich Lang stellt jedoch in
seiner aktuellen Monographie zu diesem Themenkreis zu Recht fest, dass die Entscheidung über die Umverteilung der Länderfinanzen keinen klassischen Fall eigeninteressierter Gesetzgebung darstellt.1332 Dieser zeichnet sich dadurch aus,
dass die Parlamentarier selbst unmittelbar betroffen sind. Das zu beschließende
Gesetz wirkt sich auf ihre eigenen Interessen aus. Das parlamentarische System
ist dann deshalb gefährdet, weil sich die Abgeordneten bei der Verfolgung ihrer
Ziele einig sind. Es kommt nicht zu Diskussionen, das Parlament entscheidet ein-
1332 Vgl. Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002, 418.
324
mütig in eigener Sache. Es gibt innerhalb des Bundestages keine entgegengesetzten Positionen, die sich gegenseitig kontrollieren.1333
Der Länderfinanzausgleich unterscheidet sich hingegen schon deshalb von der
Gesetzgebung in eigener Sache, weil es sich um ein Nullsummenspiel handelt.
Die Umverteilungen erfolgen auf Kosten der Geberländer und zu Gunsten der
Nehmerländer. Anders als bei dem klassischen Fall der »Abgeordnetendiäten«
gibt es im Länderfinanzausgleich keine Interessenidentität. Es bestehen vielmehr
entgegengesetzte Positionen.
bb) Bundesgesetzgeber als »Marionette« der Länderinteressen
Die Besonderheit des Finanzausgleichs liegt darin, dass ein Interessenkonflikt
der Länder in das Bundesparlament hineingetragen wird. Der Bundesgesetzgeber
soll im Bereich der Finanzverfassung als »ehrlicher Makler« agieren, ihm wird
eine schiedsrichterliche Funktion zugewiesen. Nicht die einzelnen Länder sollen
über die Umverteilung entscheiden, sondern der nicht unmittelbar betroffene
Bund. In der Realität jedoch setzt der Bundesgesetzgeber die auf Länderebene
ausgehandelten Kompromisse in Bundesrecht um. Die Regelungen des Finanzausgleichs werden überwiegend auf der Ebene der Ministerpräsidentenkonferenzen ausgehandelt.1334
Des Weiteren vermischen sich im Finanzausgleich die eigenen Interessen des
Abgeordneten mit den Länderinteressen. Die Bundestagsabgeordneten gelangen
entweder über Wahlkreise (Erststimme) oder über Landeslisten (Zweitstimme) in
den Bundestag. Es besteht folglich immer eine Verbindung des Abgeordneten zu
seinem Wahlkreis beziehungsweise seinem Bundesland. Insofern besitzt die Entscheidung über den Länderfinanzausgleich doch eine Ähnlichkeit zu Fällen von
Gesetzgebung in eigener Sache. Die Länderinteressen können als vermittelte
eigene Interessen der Abgeordneten verstanden werden.
Zudem verbindet das bundesstaatliche Prinzip Bund und Länder zu einer politischen und verfassungsrechtlichen Einheit.1335 Die Entscheidungen im Finanzwesen werden nicht von einer einzigen, dafür allein zuständigen Gebietskörperschaft getroffen, sondern im Rahmen komplizierter Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse zwischen den verschiedenen Ebenen, die darin ihre unterschied-
1333 Vgl. Isensee, zwischen Amtsethos und Parteibindung – Entscheidungen des Parlaments in
eigener Sache, ZParl 2000, 402 ff.; Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, Typoskript 2002,
418; Rupp, Legitimation der Parlamente zur Entscheidung in eigener Sache, ZG 1992, 285
ff.; Vogel, Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, ZG 1992, 293, 293; für ein
weites Verständnis des Begriffs Gesetzgebung in eigener Sache eintretend Klein, Die Entschädigung des Abgeordneten – eine notwendige Erinnerung, ZParl 2000, 401, 401.
1334 Vgl. Schuppert/Dahrendorf, Verfassungsrechtliche und finanzwissenschaftliche Aspekte
des Länderfinanzausgleichs, 1985, 17.
1335 Vgl. BVerfGE 1, 117 Leitsatz 2.
325
lichen Interessen geltend machen.1336 Die »Durchmischung« von Länder- und
Bundesinteressen ist folglich gewollt und im Grundsystem der Finanzverfassung
angelegt. Der Einfluss der Länderinteressen auf den Bundestag wird schließlich
dadurch verstärkt, dass es sich bei dem FAG um ein zustimmungsbedürftiges
Gesetz handelt. Der Bundestag muss eine »Lösung« erarbeiten, die von dem Bundesrat mitgetragen wird. Insofern ist er gezwungen, die Länderinteressen von
Beginn an in seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Die Ausfüllung
der finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben wird insofern Bundesgesetzgeber
und Ländern gemeinsam übertragen.1337
Insgesamt lassen sich Länderinteressen und Ziele der einzelnen Abgeordneten
im Bundestag nicht voneinander trennen. Auch wenn die Bundestagsabgeordneten formell nicht persönlich betroffen zu sein scheinen, so bestehen doch Verflechtungen zwischen Bundes- und Landesebene.1338 Weil die Regelungen des
Finanzausgleichs auf Länderebene vorbereitet werden, besteht die Gefahr, dass
die Abgeordneten aufgrund ihrer landesrechtlichen »Herkunft« diese Vorschläge
ungefragt übernehmen.
cc) Interesse / Betroffenheit in der Konzeption von Rawls
Auf den ersten Blick scheinen Rawls’ Überlegungen nicht auf diese Art des Verteilungskonflikts zu »passen«. Denn in seinem Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit beschreibt er eine Entscheidungssituation, in der sich die Beschlüsse
der Parteien unmittelbar auf sie selbst auswirken. Er löst mit dem Schleier des
Nichtwissens den Konflikt zwischen dem Eigennutz der Handelnden und der notwendigen Erfüllung der übertragenen Aufgaben auf. Rawls setzt also im Urzustand die Identität von Entscheidungsträger und Betroffenem voraus. Folglich
scheinen seine Ausführungen nur eine Vorbildfunktion für die »klassische« Gesetzgebung in eigener Sache zu besitzen.
In einem späteren Aufsatz führt Rawls jedoch aus, dass er eigene und vermittelte Interessen von Personen als gleichwertig ansieht:
»Daher können wir die Parteien im Urzustand entweder als Repräsentanten (oder
Treuhänder) von Personen mit bestimmten Interessen oder als selbst durch diese Interessen bewegt beschreiben. Es macht keinen Unterschied, welche Beschreibung
wir wählen, obwohl letztere einfacher ist und ich mich gewöhnlich in dieser Weise
ausdrücken werde.«1339
1336 Ottnad/Linnartz, Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsgerechtigkeit. Vorschläge zu
einer Neugliederung der Bundesländer und zur Reform des Finanzausgleichs, 1997, 126.
1337 Vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, 328.
1338 Vgl. Hidien: in Bonner Kommentar Art. 106 (97. Lfg November 2001) Rn. 177.
1339 Vgl. Rawls, Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: Die Idee des politischen
Liberalismus, 80, 93.
326
Diese bereits an anderer Stelle zitierte Passage zeigt, dass Rawls die eigenen Interessen der Abgeordneten nicht trennscharf von äußeren Einflüssen abgrenzt. Er
will mit dem Schleier des Nichtwissens ausschließen, dass Menschen einseitige
Entscheidungen treffen, sei es beeinflusst durch ihre eigenen Ziele oder die Vorstellungen Dritter. Aus diesem Grund sind Rawls’ Aussagen auf den Länderfinanzausgleich übertragbar. Die Abgeordneten werden hier zu Treuhändern der
Länderinteressen.
Rawls’ Folgewerken liegt ein weites Verständnis von Betroffenheit zugrunde;
er bindet den Repräsentationsgedanken in seine Konzeption ein. Der Schleier des
Nichtwissens schließt nunmehr das Wissen der Personen über die Ziele der von
ihnen vertretenen Menschen aus. Rawls wirkt folglich mit dem »Schleier« auf das
Verhältnis Repräsentant – Repräsentierter ein. Das Wissen über die vertretenen
Bürger, über deren individuelle Konzeptionen wird ausgeschlossen. Der einzelne
Teilnehmer des Urzustandes weiß nicht, ob er Sachwalter von Ärzten, Rechtsanwälten und Lehrern oder von Krankenschwestern, Briefträgern und Bauarbeitern
ist. Der Schleier des Nichtwissens hat nunmehr die Aufgabe, die Perspektive der
Entscheidungsträger bezüglich der von ihnen vertretenen Bürger zu erweitern.
dd) Kritik am Maßstäbe-Urteil: ungenaue Zitierweise
Kritik muss insofern an der falschen beziehungsweise ungenauen Zitierweise des
Bundesverfassungsgerichts geübt werden. In zweierlei Hinsicht kann der Verweis
auf Rawls’ Konzeption nicht überzeugen.
Erstens gibt das Gericht Seitenzahlen an, die sich auf den Schleier des Nichtwissens im Urzustand beziehen. Gegenstand des Maßstäbe-Urteils sind jedoch
die Gesetzgebungsaufträge in den Art. 106, 107 GG. Das Gericht hätte folglich
auf das Kapitel zum Vier-Stufen-Gang verweisen müssen. Denn dort beschäftigt
sich Rawls mit der Wirkungsweise des Schleiers im Rahmen der Gesetzgebung.
Zweitens verweist das Gericht auf das Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit. Hier folgt Rawls jedoch einem engen Betroffenheitsverständnis. Seinen
Ausführungen liegt eine Identität von Entscheider und Betroffenem zugrunde.
Der Schleier des Nichtwissens blendet dort das Wissen der Abgeordneten um ihre
eigenen Interessen aus. Im Rahmen des Länderfinanzausgleichs handeln die
Abgeordneten jedoch als Treuhänder für die Länder. Sie werden von ihren »Heimatländern« beeinflusst. Es handelt sich nicht um einen Fall der »klassischen«
Gesetzgebung in eigener Sache. Aus diesem Grund wäre es vorteilhaft gewesen,
neben dem Grundwerk auch die Folgewerke von Rawls aufzugreifen. Denn in
diesen wird deutlich, dass er den Begriff der Betroffenheit weit versteht. Abgeordnete können sowohl durch ihre eigenen Bedürfnisse als auch durch die Interessen Dritter beeinflusst werden. Der Schleier des Nichtwissens eignet sich, um
beide Formen der »Ablenkung« auszuschließen.
327
c) Bundesländer als Adressaten der Verteilung
Die Entscheidung über den Länderfinanzausgleich könnte jedoch aus einem anderen Grund nicht in den Anwendungsbereich der Rawlsschen Theorie fallen. Im
Rahmen der Auseinandersetzung um finanzielle Umverteilungen stehen sich die
einzelnen Bundesländer als »Konkurrenten« gegenüber. Der Bundesgesetzgeber
soll per Gesetz einen Ausgleich zwischen finanzstarken und finanzschwachen
Ländern festschreiben. Es handelt sich um einen Verteilungskonflikt im Rahmen
des Föderalismus.1340
In der Konzeption von Rawls hingegen scheint eine andere Art von Verteilungskonflikt im Mittelpunkt zu stehen: Ausgangspunkt für seine Überlegungen
ist die Frage, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen die Grundrechte, Grundpflichten und Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit an
die Menschen verteilen sollten.1341 Rawls beschäftigt sich demnach mit dem Verhältnis Staat-Bürger und damit in der öffentlich-rechtlichen Terminologie mit der
Frage der Grundrechte und des Sozialstaatsprinzips.
Rawls’ Konzeption und der Länderfinanzausgleich sind insoweit vergleichbar,
als bei beiden eine gesellschaftliche Institution »verteilende beziehungsweise
umverteilende Instanz« ist. Wie dargestellt, versteht Rawls unter einer Institution
ein öffentliches Regelsystem, das Ämter und Positionen bestimmt, indem es
Rechte, Pflichten und Machtbefugnisse festlegt. Als ein Beispiel für Institutionen
führt er auch das Parlament an.1342
Eine Differenz zwischen Rawlsscher Gerechtigkeitstheorie und Länderfinanzausgleich besteht jedoch im Hinblick auf den Empfänger der zu verteilenden
Güter. Während Rawls den einzelnen Bürger vor Augen hat, richtet sich der Länderfinanzausgleich an die Länder als juristische Personen des öffentlichen
Rechts.
Diese jeweils Betroffenen besitzen eine unterschiedliche verfassungsrechtliche Stellung. Der einzelne Bürger kann sich auf Grundrechte berufen, während
dies den Ländern als Teil des Staates grundsätzlich verwehrt ist. Im Hinblick auf
eine gleichmäßige Verteilung der Einnahmen können sich die einzelnen Bundesländer deshalb nicht unmittelbar auf Art. 3 I GG berufen.1343 Auch kann die Autonomie von Ländern im Bundesstaat grundsätzlich nicht mit der grundrechtlich
gesicherten Freiheit einzelner Menschen verglichen werden. Die Gliedstaaten
1340 Verteilungsprobleme stellen ein typisches Phänomen föderaler Systeme dar, vgl. hierzu
Häde, Finanzausgleich, 1996, 183; Schwarz, Finanzausgleich und föderale Aufgabenstruktur, ZG 2004, 268, 271. Die Finanzverfassung ist das Kernproblem jeder föderativen
Ordnung, vgl. Schwarz: in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 3,
2001, Art. 106 Rn. 1; Vogel/Kirchhof in: Bonner Kommentar, Vorbemerkung zu Art. 104a-
115 (Zweitbearbeitung, Stand Juni 1971) Rn. 60 ff.
1341 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt, 2, 23.
1342 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt, 10, 75, 76.
1343 Vgl. Isensee, in Isensee/Kirchhof, HStR Band IV, 1990, § 98 Rn. 132; Jarass/Pieroth, GG
– Kommentar, 2004, Art. 3 Rn. 7; Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, 113 ff.
328
erhalten Autonomie nur um der Erfüllung ihrer Aufgaben willen, während die
individuelle Freiheit des Einzelnen unter dem Grundgesetz keiner Rechtfertigung
bedarf.1344 Das Bund-Länder-Verhältnis stellt insgesamt keinen Bereich grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit dar, sondern ist ein Ausschnitt der staatlichen
Organisation.1345
Paul Kirchhof weist jedoch in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der
Finanzausgleich nicht allein das Ziel habe, die Finanzkraft der Länder zu garantieren. Vielmehr würden die Umverteilungen letztlich vorgenommen, um einheitliche Lebensverhältnisse für die Bürger zu sichern. Mittelbar sei deshalb der Bundesgesetzgeber gegenüber den Bürgern aus Art. 3 I GG verpflichtet.1346 Auch
Pleyer führt in seiner Untersuchung zur föderativen Gleichheit aus, dass der individualrechtliche Gleichheitsgrundsatz funktional hinter den jeweiligen bundesstaatlichen Organisationsnormen stehe. Wenn der Gesetzgeber diese Verfassungsbegriffe konkretisiere, wirkten sich die von ihm beschlossenen Definitionsvarianten nicht nur auf das Verhältnis der Länder untereinander, sondern letztlich
auch auf deren Bevölkerung aus.1347
Eine Vergleichbarkeit mit Rawls’ Konzeption ist folglich dann zu bejahen,
wenn man auf die Bürger als mittelbar Betroffene abstellt. Insoweit ist es notwendig, den Länderfinanzausgleich auch im Hinblick auf seine Auswirkungen auf die
jeweilige Landesbevölkerung zu betrachten. Es handelt sich um einen Verteilungskonflikt, der zwar im Staatsorganisationsrecht verankert ist, aber dennoch
Bezüge zur individuellen Gleichheit nach Art. 3 I GG aufweist.
Zudem besitzen auch die Länder im Finanzausgleich eine Position, die ihnen
ein Recht auf Gleichbehandlung einräumt. Wie bereits an anderer Stelle angesprochen, entwickelt das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zur
Finanzverfassung ein föderales Gleichbehandlungsgebot. Der Bund muss die
Länder gleichermaßen in seine Überlegungen einbeziehen, darf einzelne Gliedstaaten nicht willkürlich von Verhandlungen ausschließen. Dieses Verhaltensgebot lässt die Länder zwar nicht zu Grundrechtsträgern werden; insoweit dürfen
grundrechtliche Gleichheit und föderative Gleichheit nicht miteinander vermischt werden. Dennoch wird die Position der Länder durch das föderale Gleichbehandlungsgebot gestärkt. Der Gesetzgeber ist gezwungen, sie als gleichberechtigt nebeneinander stehende »Teilnehmer« des Länderfinanzausgleichs zu
betrachten.
1344 Vgl. Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 31.
1345 Vgl. Pleyer, Föderative Gleichheit, 2005, 241.
1346 Vgl. Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich als Ergänzung fehlender und als Garant vorhandener Finanzautonomie, 1982, 23.
1347 Vgl. Pleyer, Föderative Gleichheit, 2005, 285.
329
d) (Neben)Rolle der politischen Parteien im Finanzausgleich
Die Konzeption von Rawls könnte jedoch deshalb kein geeigneter Vergleichspunkt sein, weil sich das Grundgesetz für einen Parteienstaat entschieden hat. Die
Parteien als Vermittler (»Transmissionsriemen«) zwischen Volk und Staat spielen
also im Bereich der Gesetzgebung eine entscheidende Rolle.1348 In der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption hingegen werden sie nur am Rand, zum Beispiel
dem Zuschnitt von Wahlkreisen, erwähnt. Warum greift das Bundesverfassungsgericht auf eine Theorie zurück, die ein wesentliches Merkmal unserer Verfassung vernachlässigt?
Hier muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Finanzverfassung und
dem Finanzausgleich um eine besondere Materie handelt. Die Konfliktlinien verlaufen in diesem Spezialfall der Gesetzgebung quer durch die parteipolitischen
Lager. Die Auseinandersetzungen sind nicht durch den Parteienwettbewerb, sondern durch die divergierenden Länderinteressen geprägt.1349 Den kritischen
Urteilsanmerkungen kann folglich entgegen gehalten werden: Im Bereich des
Finanzausgleichs stehen sich nicht die Parteien, sondern die Länder als Konkurrenten gegenüber. Folglich scheidet ein Rückgriff auf die Rawlssche Konzeption
nicht schon deshalb aus, weil diese sich nicht eingehend mit der Stellung von Parteien in den politischen Institutionen auseinander setzt. Im Hinblick auf den
»Sonderfall« Finanzausgleich ist diese eventuelle »Schwäche« der Rawlsschen
Konzeption nicht von Belang.1350
e) Trennung Recht und Ökonomie – kooperativer Föderalismus
Schließlich greift das Bundesverfassungsgericht möglicherweise auf Rawls’
Konzeption zurück, weil dieser rechtliche und ökonomische Entscheidungsregeln
strikt trennt. Rawls vergleicht die ideale Gesetzgebung mit dem idealen Marktgeschehen und zeigt deren Unterschiede auf. Die ideale Gesetzgebung verfolgt in
seiner Konstruktion das Ziel, die Gerechtigkeitsgrundsätze umzusetzen. Dies
kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die Abgeordneten sich von ihren persönlichen Interessen distanzieren. Im Gegensatz hierzu strebt der ideale Markt
Optimalität an und ist auf das Eigeninteresse der Menschen angewiesen. Das egoistische Handeln der einzelnen Teilnehmer und damit die Konkurrenz beleben die
1348 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 1999, 433, 440.
1349 Vgl. speziell zum gesamtdeutschen Finanzausgleich ab 1995, Renzsch, Föderative Problembewältigung, ZParl. 1994, 117, 131.
1350 Erst im nächsten Abschnitt der vorliegenden Arbeit wird untersucht, inwieweit der
Schleier des Nichtwissens losgelöst vom Länderfinanzausgleich mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Insoweit ist dann die Kompatibilität von Schleier und Parteiensystem vertieft
zu erörtern.
330
Wirtschaft.1351 Aufgrund dieser Unterschiede lehnt es Rawls ab, wirtschaftstheoretische Annahmen in das Gesetzgebungsverfahren zu integrieren.
Zu überlegen ist, ob das Bundesverfassungsgericht auch deshalb auf Rawls
zurückgreift, weil in der Dogmatik zum Finanzausgleich ebenfalls eine solche
»Trennungsthese« vertreten wird.
Innerhalb der Finanzwissenschaft wurde eine ökonomische Theorie des Föderalismus1352 entwickelt. Diese sieht die Nutzensteigerung als vorrangiges Ziel des
Finanzausgleichs an. Ihre Vertreter beschäftigen sich deshalb vor allem mit der
Frage, welche Umverteilung zu einer optimalen Aufgabenerfüllung führt. In die
verfassungsrechtliche Literatur hat dieser Ansatz unter dem Schlagwort »Wettbewerbsföderalismus« beziehungsweise »Konkurrenzföderalismus« Eingang
gefunden. Das Verhältnis von Bund und Ländern sowie der Länder untereinander
soll danach den Mechanismen marktförmiger Rivalität unterworfen werden, um
so die Leistungsfähigkeit und Innovativität des Gesamtsystems zu steigern. Die
Befürworter eines Wettbewerbsföderalismus versuchen insofern, die Grenze zwischen Recht und Ökonomie aufzulösen.1353
Die wohl herrschende Meinung der finanzrechtlichen Literatur hingegen
betont, dass sich aus dem Bundesstaatsprinzip eine Pflicht zur Solidarität
ergebe.1354 Dem Grundgesetz liege die Vorstellung eines kooperativen Föderalismus zugrunde.1355 Die Länder werden nicht als konkurrierende Marktteilnehmer
eingeordnet. Ein funktionierender Wettbewerb setze nach den Axiomen der klassischen Ökonomie ein annährendes Gleichgewicht der Marktteilnehmer voraus,
von dem im Verhältnis der einzelnen Länder zueinander zumal nach der Wiedervereinigung keine Rede sein könne. Finanzwissenschaftliche Ansätze dürften
1351 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 396 ff.
1352 Vgl. Kirsch, in: Kirsch. (Hrsg.), Föderalismus, 1977, 1 ff; Kirsch, Neue politische Ökonomie, 5. Auflage, 2004; Nowotny, Der öffentliche Sektor. Einführung in die Finanzwissenschaft, 5. Auflage Berlin/Heidelberg 1999; Thöni, Politökonomische Theorie des Föderalismus, Baden Baden 1986.
1353 Vgl. Baretti, Chancen und Grenzen föderalen Wettbewerbs, 2000; Bull, Finanzausgleich
im »Wettbewerbsstaat«: Bemerkungen zur neuen Föderalismustheorie und zu ihrer Bedeutung für den Länderfinanzausgleich, DÖV 1999, 269 ff.; Jun, Reformoptionen der politischen Akteure im deutschen Föderalismus, ZParl 1994, 559 ff.; Schmidt – Jortzig, Herausforderungen für den Föderalismus in Deutschland: Plädoyer für einen neuen Wettbewerbsföderalismus, DÖV 1998, 746 ff.; Volkmann, in: GG- Kommentar v. Mangoldt /
Klein / Starck, 4. Auflage, Art. 91a Rn.4.; Schatz / van Ooyen / Werthes, Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffes, 2000.
1354 Vgl. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, 120.
1355 Vgl. Christmann, Vom Finanzausgleich zum Maßstäbegesetz, DÖV 2000, 315, 320;
Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch Staatsrecht, Band IV, 1990, § 105, Rn. 13 ff.,
Sachs: in: Sachs, GG – Kommentar, Art. 20, 2003, Rn. 58; Seybold, Der Finanzausgleich
im Kontext des deutschen Föderalismus, 2005, 144; Stern, Staatsrecht, Band I, 1984, 748
ff. alle mit weiteren Nachweisen. Vgl. insbesondere auch Scharpf/Reissert/Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976.
331
insgesamt nicht auf das Verfassungsrecht übertragen werden.1356 Korioth zeigt
dieses herrschende Verständnis auf, wenn er in seiner Monographie ausführt, dass
juristischer und ökonomischer Ansatz verschieden seien und nach jeweils eigenen Kriterien Entscheidungsregeln und Entscheidungssysteme konstituierten.1357
Zwischen Verfassungsrechtslehre und Finanzwissenschaft stehe eine Trennwand,
die beide fast hermetisch voneinander abschließe.1358
Diese Einschätzung stärkt das Bundesverfassungsgericht, wenn es auf die
Rawlssche Konzeption verweist. Denn dessen Ziel ist es, eine Gegenposition zum
Utilitarismus zu entwickeln und der Gerechtigkeit (»dem Rechten«) einen Vorrang vor der Effektivität (»dem Guten«) einzuräumen. Rawls entwickelt ein Bild
idealer Gesetzgebung, das sich nicht an ökonomischen Prinzipien orientiert. Insoweit stimmen die öffentlich-rechtliche Dogmatik und die Rawlssche Konzeption
überein.
f) Zwischenergebnis
Insgesamt überrascht es nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil
zum Finanzausgleich auf die Konzeption von John Rawls verweist. Dieser beschreibt in seiner Theorie eine Gesellschaft, die sowohl von Interessenharmonie
als auch von Interessenkonflikten geprägt ist.1359 Einerseits ermöglicht die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben, andererseits jedoch möchte jeder möglichst viele der knapp vorhandenen Güter haben. Rawls zeigt mit dieser Beschreibung die Wurzeln von Verteilungskonflikten auf. Auch der Streit um
den Länderfinanzausgleich lässt sich mit Hilfe der Rawlsschen Terminologie abbilden. Einerseits sorgt der Finanzausgleich als Ausprägung des Föderalismusgedankens dafür, dass die Lebensverhältnisse in den Bundesländern nicht zu sehr
auseinander fallen. Er garantiert letztlich die Funktionsfähigkeit des gesamten
Systems Bundesstaat. Nur mit Hilfe von Umverteilungen können alle Bundesländer die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Andererseits möchten jedoch die Nehmerländer möglichst viele finanzielle Zuwendungen
erhalten, die Geberländer möglichst wenig von ihren Einnahmen abgeben.
Auch wenn es sich bei der Entscheidung über den Finanzausgleich nicht um
einen »klassischen« Fall der Gesetzgebung in eigener Sache handelt, kann diese
an Rawls’ Vier – Stufen – Gang gemessen werden. Denn in seinen späteren Werken versteht Rawls die »persönliche Betroffenheit« der Abgeordneten weit
gefaßt. Er arbeitet in seiner Konzeption das Entscheidungsproblem heraus, das
1356 Vgl. Volkmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 2001, Art.
91a Rn. 4.
1357 Vgl. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, 253.
1358 Vgl. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, 252. Dieser Ansicht
aus einer mehr sozialwissenschaftlichen Perspektive ebenfalls Seybold, Der Finanzausgleich im Kontext des deutschen Föderalismus, 2005, 23, 59.
1359 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 1, 20.
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auch den Finanzausgleich »unlösbar« werden lässt: Wie kann eine Distanz zu
kurzfristigen individuellen Interessen – seien es eigene, seien es vermittelte – hergestellt werden?
Der Schleier des Nichtwissens ist insbesondere deshalb mit der Finanzverfassung kompatibel, weil der Auftrag nach Art. 107 II GG indirekt eine Unparteilichkeit des Bundesgesetzgebers verlangt. An anderer Stelle wurde bereits die
Dreiecksstruktur des Länderfinanzausgleichs angesprochen. Nicht die Länder
entscheiden durch Vertrag oder Absprache über Umverteilungen. Vielmehr
beauftragt das Grundgesetz eine nicht unmittelbar betroffene Partei – den Bundesgesetzgeber -, einen angemessenen Ausgleich herzustellen. Er wird hierdurch
zu einer übergeordneten Instanz. Dieser in der Finanzverfassung angelegten Stellung wird der Bundesgesetzgeber jedoch nur dann gerecht, wenn er die verschiedenen Länderinteressen aus einer Distanz betrachtet.
Das Bundesverfassungsgericht widerspricht sich auch nicht, wenn es einerseits
eine vertragliche Verständigung ablehnt, andererseits jedoch auf Rawls’ Konzeption verweist. Dessen Ausführungen sind mehr als klassischer Kontraktualismus
in »neuer Verpackung«. Wie im dritten Teil der Arbeit erörtert, besitzt seine Konzeption eine Eigenständigkeit, die sich in seinen späteren Werken noch verstärkt.
2. Praxistauglichkeit: »Schleier« als Teil einer idealen Theorie
In einem zweiten Schritt ist zu überlegen, ob der Einwand der »fehlenden Praxistauglichkeit« überzeugen kann. Rawls unterscheidet innerhalb seiner Konzeption
zwischen idealer und nichtidealer Theorie. Seine Aussagen zur Gesetzgebung
ordnet er ausdrücklich als Bestandteil der idealen Theorie ein. Der Gedanke des
Vier-Stufen- Ganges gehört zur Theorie der Moral und stellt keine Analyse der
Arbeitsweise wirklicher Institutionen dar.1360 Rawls entwickelt eine Staatsutopie,
die Anstoß für eine veränderte Arbeitsweise der Institutionen sein soll.1361 Der gesamte Vier –Stufen – Gang stellt ein Hilfsmittel für den einzelnen Bürger dar, die
tatsächliche Entscheidungsprozesse kritisch zu betrachten und gegebenenfalls
Reformen zu fordern.
Mit seiner Unterscheidung von idealer und nichtidealer Theorie will Rawls
verhindern, dass der »Schleier« für eine reale Verfahrensbedingung gehalten
wird. Er wird von ihm ausdrücklich als eine Gedankenfigur verstanden. Er stellt
1360 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 225.
1361 Ideale Theorien gab es schon immer beziehungsweise wesentlich früher. Hegel und Lorenz
von Stein haben den Staat als »Reich der sittlichen Idee« konzipiert. Staatliche Willensbildung sollte nicht macht-, sondern wertorientiert sein, ihre Aufgabe sei es, gegenüber
der Gesellschaft als dem Reich der Sonderinteressen und des Eigennutzes Freiheit, Gerechtigkeit und die sonstigen Grundwerte möglichst optimal zu wahren. Diese Vorstellungen
werden von v. Arnim ebenfalls als Richtlinien zur Bewertung und nicht als Instrument zur
Erfassung der zumindest auch machtbestimmten Wirklichkeit der Staatswillensbildung
eingeordnet. Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 191.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.