24
IV. Konflikt im Länderfinanzausgleich aus Rawlsscher Perspektive
Legt man die Begrifflichkeiten der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie zugrunde,
so wird die Gesetzgebung im Rahmen des Länderfinanzausgleichs dadurch behindert, dass die Bundesländer allein ihre persönlichen Vorteile berücksichtigen
und sich von ihren Partikularinteressen leiten lassen.
In seinem Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit beschreibt Rawls in
Anlehnung an die klassischen Gesellschaftsvertragstheorien einen fiktiven Urzustand. In diesem treffen die Menschen eine Entscheidung über Gerechtigkeitsgrundsätze. Sie beschließen dann in weiteren Schritten eine Verfassung und agieren als einfache Gesetzgeber. Alle diese Entscheidungen treffen die Menschen
unter einem Schleier des Nichtwissens. Diese Gedankenfigur blendet das persönliche Wissen der Entscheidungsträger aus. Sie kennen nicht ihren Platz in der
Gesellschaft, ihre persönlichen Fähigkeiten und individuellen Interessen. Rawls
konstruiert eine Situation, in der die Menschen nicht auf ihren eigenen Vorteil
bedacht sein können und deshalb unparteiisch entscheiden. Er entwickelt mit dem
Schleier des Nichtwissens eine Verfahrensbedingung, die – in seiner Terminologie gesprochen – Einzeltatsachen ausblendet. Diese sichert die Fairness von Entscheidungsprozessen.
Rawls konstruiert eine Situation, in der Menschen deshalb gerechte Entscheidungen treffen, weil sie ein Defizit an Information besitzen. Er scheint damit eine
unserem Wissensoptimismus entgegengesetzte Forderung aufzustellen. So hat
der »Schleier des Nichtwissens« auch innerhalb der Philosophie eine umfassende
Diskussion hervorgerufen. Sehr schnell ist er zu einer berühmten, jedoch auch
umstrittenen Gedankenfigur geworden.
Die Kritik am Schleier des Nichtwissens richtet sich zudem vornehmlich gegen
dessen Wirkungsweise im Urzustand. In der Literatur wurde vor allem der erste
Teil von Eine Theorie der Gerechtigkeit umfassend rezipiert, während der zweite
und dritte Teil ein geringeres »Echo« gefunden haben. Für die vorliegende Arbeit
sind jedoch vor allem Rawls’ Ausführungen zu einem idealen Gesetzgebungsverfahren von Bedeutung (Vier – Stufen – Gang). Diese finden sich im zweiten Teil
von Rawls’ Grundwerk; auch dort findet der Schleier des Nichtwissens in einer
modifizierten Form Anwendung.
Welche Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aus der Rawlsschen Theorie also
für die Problematik des Finanzausgleichs? Rawls entwickelt mit dem Schleier des
Nichtwissens eine Metapher, die für den Bereich des Rechts an die »Augenbinde
der Justitia« erinnert.17 So fand sich kurz nach seinem Tod im November 2002 in
einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgende Beschreibung
seines Lebenswerkes:
17 Vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 3. Auflage, 2002, 21 ff., der die Justitia als Bild für
politische Gerechtigkeit insgesamt begreift.
25
»Der vor wenigen Tagen verstorbene amerikanische Philosoph John Rawls hat auch
der Justitia der sozialen Gerechtigkeit die Augen verbunden.18
Die »Augenbinde« der Gerechtigkeit wiederum verkörpert die Forderung nach
richterlicher Unparteilichkeit. 19 Wie die »blinde« Justitia, so soll auch der Richter
ohne »Ansehen der Person« entscheiden. Alle Menschen werden dann als gleichberechtigte Individuen wahrgenommen. Vor dem Gesetz und vor dem Richter sollen Standesunterschiede bedeutungslos sein. Um Recht sprechen zu können, muss
die Justitia als Symbol gegenüber »den Reizen der Ausdrucksformen einer trügerischen Welt« blind sein.20 Die Augenbinde garantiert, dass sie nicht von äußeren
Informationen abgelenkt wird. Ihr Urteilsvermögen kann nicht durch das jeweilige Auftreten der Menschen getäuscht werden.
Rawls verändert den Anwendungsbereich der »Augen« – Metapher. Er überträgt die Vorstellung des Nichtwissens auf die Entscheidung über Gerechtigkeitsgrundsätze, über eine Verfassung, über einfache Gesetze. Die Vorstellung eines
distanzierten Entscheidungsträgers prägt innerhalb seiner Konzeption die
Arbeitsweise der wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen. Bezogen auf die
Gesetzgebung heißt dies: Abgeordnete handeln gerecht, wenn sie ohne Wissen
über Partikularinteressen Entscheidungen treffen.
Während sich die Metapher der »blinden Justitia« an die Judikative richtet,
entwickelt Rawls mit dem Schleier des Nichtwissens eine Idealvorstellung für
den Bereich der Gesetzgebung im weitesten Sinn. Dennoch erscheinen beide
Figuren über das übergeordnete Ideal der Unparteilichkeit miteinander verbunden. John Rawls hat möglicherweise eine anspruchsvolle zweite Stufe von Unparteilichkeit in ein Bild gefasst. Der Schleier des Nichtwissens könnte den Gedanken der Unparteilichkeit auf der Ebene der Rechtsetzung abbilden und innerhalb
einer Gerechtigkeitstheorie die Frage beantworten, wie Regeln für eine Güterund Lastenverteilung ohne Ansehen der Person bestimmt werden können.21
Indem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil auf John Rawls verweist, hat es ein philosophisches Argument aufgenommen. Rawls zeigt mit dem
Schleier des Nichtwissens einen prozeduralen Ansatz auf, um die Dominanz
kurzfristiger Interessen in Gesetzgebungsverfahren zu verhindern. Zu überlegen
ist, inwieweit Rawls selber philosophisches »Neuland« betreten hat. Auf welchen
Vorstellungen eines idealen Gesetzgebers innerhalb der Philosophiegeschichte
konnte er aufbauen? Innerhalb der vorliegenden Arbeit werden drei verschiedene
Konzeptionen einer Person des Gesetzgebers erörtert.
Vertieft wird dann an anderer Stelle insbesondere der Frage nachgegangen,
inwieweit sich die Idee einer guten Gesetzgebung auch in einer utilitaristischen
Begrifflichkeit abbilden lässt. So hat insbesondere David Hume die Schwierigkeit
aufgezeigt, dass sich die Menschen bei ihren Entscheidungen von ihren kurzfri-
18 Vgl. FAZ v. 28. 11.02, Seite 1 (Modernes Gottesgnadentum, Autor Stefan Dietrich)
19 Vgl. Ferreira da Cunha, Symbole des Rechts, ARSP 1994, 85, 93; Curtis/Resnik, Images
of Justice, Yale Law Journal 1987, 1727, 1755.
20 Vgl. Ferreira da Cunha, Symbole des Rechts, ARSP 1994, 85, 93.
21 Vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 3. Auflage, 2002, 45.
26
stigen Interessen und nicht von langfristigen Überlegungen leiten lassen. Genau
in diesem »Gesetz der Nähe« scheint der Grund dafür zu liegen, dass eine dauerhafte und gerechtigkeitsorientierte Gesetzgebung insbesondere im Finanzausgleich unerreichbar ist.
V. Konflikt im Länderfinanzausgleich und in der Gleichheitsdogmatik
Rechtlich kann der Länderfinanzausgleich ebenfalls auf zwei verschiedenen Begriffsebenen dargestellt werden. Wie die Urteilsanalyse zeigen wird, handelt es
sich bei dem Verweis auf Rawls lediglich um einen ergänzenden Hinweis. Primär
entwickelt das Gericht seinen neuen prozeduralen Lösungshinweis aus der Verfassung heraus.
Indem das Bundesverfassungsgericht innerhalb seiner Argumentation auf
Rawls’ Schleier des Nichtwissens zurückgreift, fasst es die Schwierigkeit der
gerechten Finanzverteilung unter den Ländern möglicherweise als eine Gleichheitsfrage auf.22 Denn die Problematik des Länderfinanzausgleichs lässt sich prägnant auf der Begriffsebene von Art. 3 I GG umschreiben. Zwar sind im Rahmen
des Finanzausgleichs als Teil der Staatsorganisation Grundrechte nicht unmittelbar anwendbar. Bereits in den früheren Urteilen zur Finanzverfassung hat jedoch
das Bundesverfassungsgericht den Bundesgesetzgeber auf ein föderales Gleichbehandlungsgebot verpflichtet, das sich an Art. 3 I GG anlehnt. Das Problem des
Länderfinanzausgleichs besteht dann darin, dass die Umverteilung der Finanzen
auf abstrakten Überlegungen basieren müsste. Eine wirkliche Gleichbehandlung
der Länder ist nur dann möglich, wenn Kriterien, nach denen die Ausgleichsleistungen bestimmt werden, längerfristig gleich bleiben.23 Solche Kriterien wurden
jedoch deshalb bislang nicht gefunden, weil kurzfristige Interessen die Verhandlungen beherrschten und einen Konsens über dauerhafte Verteilungsmaßstäbe
verhinderten.
Indem das Gericht ein Nichtwissen der Abgeordneten über konkrete Finanzierungsinteressen fordert, etabliert es, in der Terminologie von Art. 3 GG gesprochen, Anknüpfungsverbote. Das neu zu erlassende Maßstäbegesetz und die in ihm
enthaltenen Verteilungskriterien sollen gerade nicht auf einer momentanen
Finanzsituation und damit einer punktuellen Interessenlage beruhen.
22 Das Maßstäbe – Urteil wurde in der Literatur nur am Rande unter dem Gesichtspunkt der
Gleichheitsdogmatik betrachtet. Hervorzuheben ist hier die Urteilsanmerkung von Becker,
Forderung nach einem Maßstäbegesetz – Neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik,
NJW 2000, 3742 ff. Dieser beschäftigt sich jedoch vornehmlich mit der Problematik einer
Selbstbindung des Gesetzgebers und ordnet diesen Gedanken als eine Forderung nach
»Gleichbehandlung in der Zeit« ein.
23 Vgl. Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz – Neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik, NJW 2000, 3742, 3745.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.