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tät wird jedoch bei Rousseau aufgeweicht, die Öffentlichkeit besitzt die Anlage,
das Gute zu erkennen, sieht es nur nicht immer von selbst. Mit dem Verfassungsvorschlag erhält sie eine Rahmenordnung und eine dauerhafte Orientierungsmöglichkeit. Anders als Platon will Rousseau nicht den Philosophenkönig, sondern
das Volk erziehen. Der Legislateur soll derart auf die Menschen einwirken, dass
sie in Zukunft als politische Bürger agieren. Mit der Zustimmung zu der Verfassung jedoch hat der Legislateur sein Erziehungsziel erreicht. Die Menschen
haben sich für eine Ordnung entschieden, die ihre weiteren Entscheidungen einfach gesetzlichen Regeln unterwirft.
f) Zwischenergebnis
Insgesamt greift Rousseau auf Platon dahin gehend zurück, als er einen einzelnen
weisen Gesetzgeber fordert. Jedoch setzt er bei der Beschreibung der Weisheit andere Schwerpunkte. Sein Legislateur verfügt über eine höhere Vernunft, die sowohl abstraktes Wissen als auch moralische Fähigkeiten umfasst. Charakteristisch für den Gesetzgeber ist gerade seine altruistische Haltung.
Festzuhalten ist zudem, dass Rousseau verschiedene Funktionen des Gesetzgebers unterscheidet: Als Erzieher soll er auf das Wollen des Einzelnen einwirken, als Initiator der Öffentlichkeit das für sie Gute vor Augen führen. Schließlich
unterscheidet Rousseau verschiedene Phasen der Gesetzgebung. Er trennt zum
einen zwischen Gesetzesinitiative und Gesetzgebungsbefugnis, zum anderen ist
in seiner Konzeption die Unterscheidung zwischen Verfassungsgebung und einfacher Gesetzgebung angelegt. Die Person des Gesetzgebers wird bei ihm folglich in eine Prozessordnung eingebunden. Sie besitzt anders als bei Platon keine
umfassende Herrschaftsgewalt, sondern einen begrenzten Aufgabenbereich. Das
besondere Wissen und die moralischen Fähigkeiten werden nur in einem begrenzten Bereich benötigt: eine Verfassung zu entwerfen.
II. Gesetzgebung und das vernunftbegabte Individuum
1. Thomas von Aquin
Auf den ersten Blick erscheint es überraschend, dass gerade Thomas von Aquin
(im Folgenden Thomas) zu den Philosophen gehören soll, bei denen das vernunftbegabte Individuum eine gesetzgeberische Entscheidung trifft. Schließlich ist
sein Name mit der Idee eines Stufenbaus des Rechts verbunden. Er beschreibt
eine absolute Werteordnung, an deren Spitze die Lex aeterna steht, gefolgt von
der Lex naturalis und der Lex humana.160
160 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 91. Frage.
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a) Gott als Gesetzgeber
Die Lex aeterna ist Ausdruck der göttlichen Weisheit. Sie ist ein vollkommener
Plan der Weltregierung und damit Zielvorstellung für jedes Geschöpf.161 Gott unterrichtet die Menschen durch das Gesetz und hilft den Menschen durch seine
Gnade.162 Mit dieser Überlegung rückt Thomas in die Nähe der Gedanken von
Platon und Rousseau. Gott wird zu einem übergeordneten und allwissenden Gesetzgeber. Bei dem Verhältnis von Wissen und Wollen folgt Thomas dem griechischen Intellektualismus. Der Wille ist nur das Mittel, mit Hilfe dessen die Vernunft ihre Pläne umsetzen kann. Die Lex aeterna ist Ausdruck der Vernunft, der
ratio Gottes. Aus der Weisheit Gottes ergibt sich abgleitet der Wille Gottes als ein
vollkommener Plan.163 Wie auch die Gottesbeweise von Thomas zeigen, ist Gott
oberster Lenker, Beweger und Urheber der gesamten Ordnung.164
Fraglich ist, welche genaue Qualität das Wissen Gottes besitzt. Für Thomas ist
in Gott das vollkommene Wissen. Gott ist der Schöpfung übergeordnet, er besitzt
jede Form von Wissen, die sich in den von ihm geschaffenen Geschöpfen widerspiegelt. Die verschiedenen Formen der Erkenntnis sind in ihm vereint.165 Bei
dem Wissen Gottes kann unterschieden werden zwischen einem Einsichtswissen
und einem Wirkwissen. Das Einsichtswissen zielt darauf ab, dass Gott eine vollkommene Kenntnis besitzt, während das Wirkwissen sich dadurch zeigt, dass
Gottes Wissen die Ursache aller Dinge ist.166 Schließlich ist das Wissen Gottes
universell und zugleich partikulär.167 Ist folglich bei Thomas nicht die Gesetzgebung einzig auf dieses vollständige Wissen Gottes ausgerichtet?
b) Ebenen der Gesetzgebung
Gegen diese Sichtweise spricht, dass die Vernunft der Menschen bei Thomas an
Bedeutung gewinnt. Die Vernunft unterscheidet den Menschen von allen anderen
Wesen. Sie vermittelt ihm die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Selbstbestimmung
und Selbstbewertung.168 Die Menschen können die Lex aeterna Gottes verstehend
nachvollziehen und dabei die Grundprinzipien des vollkommenen Planes erkennen (= Lex naturalis). Mit Hilfe dieser Grundprinzipien entstehen durch Schluss-
161 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 91,1 Antwort, S.th. I II 93,1 Antwort.
162 Vgl. v. Aquin S. th. I II 90 Einführung.
163 Vgl. v. Aquin S. th. I II 93,1 Antwort; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1980,
57.
164 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 93,3 Antwort; Meyer, Thomas von Aquin, 1961, 295.
165 Vgl. v. Aquin, S. th. I, 14,1.
166 Vgl. v. Aquin, S. th. I 14,8.
167 Vgl. v. Aquin, S. th. I 14, 11.
168 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 91,2 Antwort, S. th I II 93,5 Antwort; Meyer, Thomas von Aquin,
1961, 576.
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folgerung (conclusio) und nähere Bestimmung (determinatio) die menschlichen
Gesetze.169
Nun könnte man hier einwenden, dass der menschliche Gesetzgeber fremdbestimmt handelt. Er trifft keine eigenen Entscheidungen, sondern vollzieht lediglich bereits bestehende »Anweisungen« nach. Jedoch gibt die Lex naturalis den
Menschen nur einen Handlungsrahmen vor, sie enthält keine konkreten Gebote
oder Verbote.170 Der menschliche Gesetzgeber erhält dadurch einen eigenen Freiheits- beziehungsweise Entscheidungsspielraum.171 Er muss mit Hilfe seines Wissens eigene Urteile treffen. Die Lex naturalis legt nur eine Umrissstruktur für das
menschliche Handeln fest. Sie gibt nur allgemeine Ziele vor, die der Mensch
erkennen kann und eigenständig und »erfinderisch« konkretisiert.172 Auf der
Stufe der Lex humana wird er quasi zu einem selbständigen »Mitarbeiter« Gottes.
Soweit er die Aussagen der Lex aeterna erkennen kann, übersetzt er sie eigenständig in die menschliche Welt.173
Demnach besteht bei Thomas von Aquin trotz seiner Ausrichtung an dem Plan
Gottes Raum für einen menschlichen Gesetzgeber. Es können verschiedene Ebenen der Gesetzgebung unterschieden werden. Die Lex naturalis kann als eine
Form der Grundverfassung für die Menschen aufgefasst werden.174 Diese Gesetzesebene entstammt dem Wissen Gottes, sie ist ein Ausschnitt aus seinem vollkommenen Plan für die Weltordnung. Aufgrund seiner Vernunft kann der Mensch
diese »Verfassung« verstehend nachvollziehen. Er kann die Prinzipien der Lex
naturalis ausfüllen und konkretisieren, besitzt folglich einen Handlungsspielraum. Dadurch wird der Mensch auf der untergeordneten Gesetzesebene der Lex
humana zu einem autonomen Gesetzgeber. Sein Wissen wird für die »einfache«
menschliche Gesetzgebung als ausreichend angesehen.
Fraglich ist, ob prinzipiell alle Menschen zu gesetzgeberischen Entscheidungen fähig sind oder ob wie bei Platon und Rousseau nur einzelne Menschen
besonders geeignet erscheinen. Mit dieser Problematik »Ist jedermanns Vernunft
Gesetzgeberin?« hat sich Thomas ausdrücklich beschäftigt.175 Das menschliche
Gesetz ist für ihn auf das Gemeinwohl ausgerichtet. Aus diesem Grund muss
Gesetzgeber entweder die Menge selbst oder ein Stellvertreter der Menge sein.
Thomas spricht in diesem Zusammenhang nicht davon, dass die grundsätzliche
Fähigkeit zur Gesetzgebung nur einzelnen Menschen zusteht. Jedoch kann für ihn
Gesetzgeber nur sein, wer formal autorisiert ist, wer die Kompetenz zum Erlass
besitzt.176 Diese Aussage kann dahin gehend verstanden werden, dass jeder
Mensch als Vernunftwesen die Anlage besitzt, gesetzgeberische Entscheidungen
169 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 95, 2 Antwort.
170 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 91,3 Antwort
171 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 94,4 Antwort
172 Vgl. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 1998, 235.
173 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 91,3 Anwort; Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 1996,
47.
174 Vgl. ähnlich Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 1998, 236.
175 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 90,3.
176 Vgl. v. Aquin, S. th. I II 90,3 Antwort.
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zu treffen. Um jedoch Gesetzgeber zu werden, muss eine formelle Legitimation
hinzutreten. Die Vernunftbegabung der Menschen macht sie zu potentiell geeigneten Entscheidungsträgern. Die menschliche Vernunft kann sich nach Thomas
durch weiteres Wissen an die ewige Vernunft Gottes annähern.177 Thomas sieht
folglich eine mögliche Weiterentwicklung der Menschen; je mehr Wissen die
Menschen besitzen, desto eher stimmen ihre Entscheidungen mit dem Plan Gottes
überein.
2. Immanuel Kant
Bei Kant finden sich keine Ausführungen zu einem einzelnen weisen Gesetzgeber. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre führt er im Bereich
des Staatsrechts knapp aus, dass die gesetzgebende Gewalt nur dem vereinigten
Willen des Volkes zukomme.178 Er überträgt die Gesetzgebung folglich nicht einer bestimmten Person, sondern legt sie in die Hände des übereinstimmenden
Willens aller.179 Kant geht folglich von der Idee einer kollektiv – allgemeinen Gesetzgebungsautonomie des Volkes aus.180 Bleiben die Fragen: Welches Wissen
befähigt die Menschen zur Gesetzgebung? Ist jeder einzelne Mensch ein potentiell geeigneter Entscheidungsträger?
a) Mensch/Gesetzgeber als Vernunftwesen
In der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant drei Aspekte des Menschen: Der
Mensch ist Sinneswesen, vernünftiges Wesen und Vernunftwesen.181 Als Sinneswesen ist der Mensch nur ein Tier, ein physisch-psychisches Wesen, ohne dass
seine Vernunft hierbei eine Rolle spielt.182 Als vernünftiges Wesen (Homo phaenomenon) ist der Mensch ein »animal rationale«. Er kann die Vernunft gebrauchen und mit ihrer Hilfe den besten Weg ermitteln, um seine Zwecke zu erreichen.
Diese Zwecke sind ihm jedoch von seiner tierischen Natur vorgegeben. Als Homo
phaeonomenon wird der Mensch weiterhin durch seine sinnlichen Antriebe und
177 Vgl. v. Aquin, S. th. I 79,8.
178 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Ludwig- Ausgabe, 130.
179 Kant koppelt jedoch die Fähigkeit zur Stimmgebung an den Status der bürgerlichen Selbständigkeit, Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Ludwig- Ausgabe, 131. Diese Klassifizierung der Gesetzgebungsfähigkeit wird in
der neueren Kant – Literatur kritisiert, vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel
Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1993, 384, Ludwig, Kants Rechtslehre, 1988, 161;
Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants, 2005.
180 Vgl. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants, 2005, 121.
181 Vgl. die ausführliche Darstellung von Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP
2002, 463 ff.
182 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Reclam Ausgabe, 298 (418 Akademieausgabe).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.