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verfahrens verschiebt sich nur der Ansatzpunkt für eine inhaltliche Kontrolle:
Nicht mehr das fertige Gesetz wird auf seinen Inhalt überprüft, sondern es werden
inhaltliche (= das Entscheidungsverhalten des Gesetzgebers betreffende) Verfahrensbedingungen aufgestellt.
III. Stellungnahme
Die vorangegangene Untersuchung hat zahlreiche Fragen aufgeworfen und auch
offen gelassen. Das Bild der Gesetzgebung mit den Schlüsselbegriffen Gesetz
und Gesetzgebungsverfahren lässt sich nur schwer fassen. Es handelt sich im
übertragenen Sinn um ein Gemälde, das immer wieder übermalt wurde. Jede einzelne Farbschicht spiegelt eine historische »Station« der Gesetzgebung wider.
Zum anderen ist bei diesem Kunstwerk nicht deutlich, wo der Schwerpunkt der
Betrachtung liegen soll. Verschiedene Bildausschnitte stehen im Wettstreit um
die Gunst des Rezipienten. Ist der Ausschnitt »Verfahren« das Herzstück der Darstellung oder ist doch die Abbildung des Gesetzes als »Ergebnis« vorrangig zu
betrachten?
Das Grundgesetz zeichnet ein »abstraktes« Gemälde der Gesetzgebung; Mittelpunkt der Darstellung ist nicht eine Person. Gesetzgebung unter dem Grundgesetz ist nicht Aufgabe eines einzelnen Herrschers oder einer Elite. Stattdessen
bezeichnet der Begriff »Gesetzgeber« alle diejenigen Instanzen, ohne deren ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung ein rechtlicher Erlass keine formelle Geltung erlangt.1069 Gesetzgebung ist ein Zusammenspiel vieler, nicht die
Entscheidung eines Individuums. Die Allgemeinheit, ein heterogenes Gebilde, ist
Gesetzgeber.1070
Das Demokratieprinzip garantiert, dass der parlamentarische Gesetzgeber
unter dem Grundgesetz kein unveränderliches Gesicht besitzt. Vielmehr wird ihm
durch den Wahlakt des Staatsvolks allein ein Gestaltungsauftrag auf Zeit vermittelt (formelle Legitimation)1071. Die einzelnen Abgeordneten werden durch Wahlen legitimiert und auch durch Wahlen abgestraft. Es besteht unter dem Grundgesetz eine Bindung zwischen dem Staatsvolk und dem Gesetzgeber, die nicht wie
in Hobbes´ Leviathan eine völlige Entäußerung der Macht an den Herrscher darstellt.
Der Gesetzgeber besitzt unter dem Grundgesetz keine originäre Souveränität,
er verfügt über eine abgeleitete Legitimation. Diese Legitimation ist widerruflich
und damit zeitlich begrenzt. Sie gründet sich zudem nicht auf eine besondere
Befähigung. In den Konzeptionen von Platon und Rousseau besitzt der ideale
Gesetzgeber »übermenschliche Talente«. Eine derartige »Genialität« wird unter
dem Grundgesetz nicht gefordert. Die Abgeordneten müssen nicht über ein
1069 Vgl. hierzu auch Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, 44.
1070 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, 294.
1071 Vgl. zu diesem Begriff unter anderem v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen,
1977, 45.
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besonderes Wissen verfügen; grundsätzlich kann jeder Staatsbürger Abgeordneter des Bundestages werden. Faktisch ist zuzugeben, dass Parteizugehörigkeit
und Profil Voraussetzung sind, um gewählt zu werden. Rein rechtlich betrachtet,
beruht jedoch die Zugehörigkeit zum Bundestag allein auf Wahl und nicht auf
besonderem Wissen.
Welches Bild der Gesetzgebung zeichnet also das Grundgesetz? Mit der Entscheidung für eine repräsentative Demokratie sind verschiedene Grundlinien
festgelegt: passives Wahlrecht für jeden Bürger, Legitimation durch Wahl und
damit auf Zeit, Notwendigkeit eines prozeduralen Rahmens. Doch darüber hinaus
besitzt das Gemälde »Gesetzgebung« eine Unschärfe. Das Grundgesetz äußert
sich nicht zu den »Feinabstimmungen« im Bereich legislativen Handelns.
1. Entwicklung zu einer verfahrensorientierten Sichtweise
Wie wir gesehen haben, verzichtet die Verfassung darauf, den Gesetzesbegriff zu
definieren, und legt in den Art. 76 ff. GG nur einen äußeren Rahmen für den Entscheidungsprozess fest. An dieser Stelle setzt die öffentlich-rechtliche Dogmatik
ein. Sie besitzt die Tendenz, viel in die Unschärfen des Grundgesetzes »hineinzulesen«. Hierbei zieht sie vor allem Strukturentscheidungen der Verfassung für
eine »Werkinterpretation« heran: das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip
und die Grundrechte.
Wie dargestellt, hat in der öffentlich-rechtlichen Literatur ein Perspektivenwechsel stattgefunden: Nicht mehr das Gesetz, sondern der Rechtsetzungsprozess
wird vermehrt untersucht. Als Folge haben sich die kontroversen Fragen verlagert. Ursprünglich forderte die Literatur einen inhaltlichen Gesetzesbegriff. Diskutiert wurde, ob die Allgemeinheit ein rechtliches Merkmal darstelle. Diese
Kontroverse hat sich mehr und mehr in den Bereich des Gesetzgebungsverfahrens
verschoben.
a) Gründe für diesen Perspektivenwechsel
Was waren die Gründe dafür, dass das Gesetzgebungsverfahren an Bedeutung gewann? Warum entstand »plötzlich« und quasi unaufhaltsam eine Gesetzgebungswissenschaft?1072 Diese Entwicklung kann auf einen »Paradigmenwechsel« im
gesamten öffentlichen Recht zurückgeführt werden. 1977 trat das Verwaltungsverfahrensgesetz in Kraft, im gleichen Zeitraum entstand die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Grundrechtsschutz durch Verfahren.1073 Insge-
1072 Vgl hierzu vertieft Karpen, in: Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung in
der Bundesrepublik Deutschland, 1998, 374 ff.
1073 Vgl. Denninger, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band V, 2000, § 113, Rn. 2 mit weiteren Nachweisen.
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samt wurde der Verfahrensgedanke stärker beachtet; die Entscheidungsfindung
hatte nicht länger nur eine »dienende« Funktion. Während jedoch im Verwaltungsverfahren mit den Beschleunigungsgesetzen der Verfahrengedanke wieder
geschwächt wurde1074, sind Reformen und Ansätze für ein verbessertes Gesetzgebungsverfahren Bestandteil aktueller Diskussionen.1075
b) Prozedurale Allgemeinheit als neuer Weg
Dennoch wirkt die »alte« Diskussion um den Gesetzesbegriff weiter. So bestehen
beispielsweise Verbindungslinien zwischen dem umstrittenen Merkmal »allgemein« und der Figur des inneren Gesetzgebungsverfahrens.
Wie dargestellt, kann das Merkmal der Allgemeinheit von Gesetzen als formelle oder materielle Allgemeinheit verstanden werden. Die verschiedenen Allgemeinheitsbegriffe können den Kategorien innen/außen zugeordnet werden. Bei
der Forderung nach materieller Allgemeinheit handelt es sich um einen inneren
Anspruch an das Gesetz, während die formelle Allgemeinheit sich auf die äußere
Gestalt des Gesetzes bezieht.
Das innere Gesetzgebungsverfahren weist hierbei eine Nähe zu der Forderung
nach materiell allgemeinen Gesetzen auf. Die »Verwandtschaft« dieser Ansätze
besteht darin, dass sie beide an Abläufe »im Kopf« des Gesetzgebers anknüpfen.
Sie wollen dessen Entscheidungsfindung einmal mit Anforderungen an das
Ergebnis, ein anderes Mal mit Anforderungen an das Verfahren beeinflussen. Die
Figur des inneren Gesetzgebungsverfahrens prozeduralisiert das Merkmal materieller Allgemeinheit.1076
Die Allgemeinheit als Eigenschaft von Gesetzen wird quasi nach vorn in den
Bereich der Entscheidungsfindung gezogen. Damit steht die Figur des inneren
Gesetzgebungsverfahrens in der Mitte zwischen Verfahrens- und Ergebniskontrolle. Sie gibt dem Gesetzgeber mehr als einen bloßen äußeren Ablauf vor, sondern will unmittelbar die Entscheidungsmethode, den gedanklichen Ablauf
beeinflussen.
Kritisch betrachtet, scheint diese Ähnlichkeit der Reformansätze aufzuzeigen,
dass sich die öffentliche Literatur in ihrer Beschäftigung mit der Gesetzgebung
»im Kreis dreht«. Müsste sie nicht endlich die Offenheit des Grundgesetzes
1074 Vgl. für den Bereich der Planung Ronellenfitsch, Rechtsfolgen fehlerhafter Planung,
NVwZ, 1999, 583 ff.; Storost, Fachplanung und Wirtschaftsstandort Deutschland: Rechtsfolgen fehlerhafter Planung, NVwZ 1998, 797 ff.
1075 Vgl. Blum, NJW 2004 Beilage zu Heft 27/2004, 45 ff.; Ennuschat, Wege zu besserer
Gesetzgebung, DVBl. 2004, 986 ff.; Redeker, Wege zu besserer Gesetzgebung, ZRP 2004,
160 ff.; Schulze–Fielitz, Wege, Umwege oder Holzwege zu besserer Gesetzgebung, JZ
2004, 862 ff.
1076 Vgl. in diese Richtung Hofmann, Diskussion, in: Starck, Die Allgemeinheit des Gesetzes,
1987, 76.
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akzeptieren, statt immer wieder Forderungen aufzustellen, sei es an den Gesetzesbegriff, sei es an das Gesetzgebungsverfahren?
Wie schon ausgeführt, wird die Notwendigkeit einer Gesetzgebungslehre unter
anderem damit begründet, dass der Gesetzgeber nicht als unantastbar angesehen
werden darf. Die Gesetzgebungswissenschaft spricht sich dagegen aus, das Parlament als eine unfehlbare Instanz einzuordnen. Hinter der Idee eines inneren
Gesetzgebungsverfahrens steht der Gedanke einer Kontrolle der Legislative. Die
Forderung nach einer guten Gesetzgebung gewinnt an Kraft, wenn ein »Ur-Vertrauen« in den Gesetzgeber schwindet, nicht mehr vorhanden ist.1077 Ein solches
positives Bild des Gesetzgebers besitzen wir jedoch nicht mehr; zu nennen ist hier
allein das Schlagwort der Normenflut.1078 Liegt die Gesetzgebung nicht in den
Händen eines »Philosophenkönigs« oder »genialen Legislateurs«, so fällt es
schwer, der Legislative ohne Bedenken einen umfassenden Gestaltungsspielraum
zuzusprechen. Aus diesem Grund besitzt die Frage nach zusätzlichen Anforderungen an Gesetzesbegriff und Gesetzgebungsverfahren unter dem Grundgesetz
eine dauerhafte Aktualität.
c) Stärkung der Gesetzgebung als Gemeinwohlverfahren
Die Diskussionen um Gesetzesbegriff und Gesetzgebungsverfahren drücken
nicht allein ein Misstrauen, ein Bedürfnis nach Kontrolle aus. Sie transportieren
auch ein sich durch die Geschichte der Gesetzgebung ziehendes Ideal: den
Wunsch nach einer gemeinwohlorientieren Gesetzgebung.
Die Vorstellung eines weisen, eines genialen »Legislateurs« passt nicht mehr
in das System einer modernen Demokratie. Gesetzgeber unter dem Grundgesetz
kann nicht eine einzelne Person sein. Eine gemeinwohlorientierte Gesetzgebung
kann nicht dadurch garantiert werden, dass einzelne Entscheidungsträger über ein
Sonderwissen verfügen. Auch Thomas von Aquins Vorstellung einer auf der Lex
aetarna als Gottes vollkommenem Plan aufbauenden Normenhierarchie kann
unter dem Grundgesetz keine Vorbildwirkung entfalten. Ohne dies hier vertiefen
zu wollen, begründet Art. 4 I GG die religiöse Neutralität des Staates.1079
Die Gesetzgebungswissenschaft scheint gegen jegliche mythische Überhöhungen des Gesetzes und des Gesetzgebers anzukämpfen. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass die Befürworter verschiedener Reformansätze kein Ideal der Gesetzgebung
1077 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 243.
1078 Vgl. aktueller Bezug bei Di Fabio, Referat, Abteilung Gesetzgebung, Verhandlungen des
fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Bonn 2004, Band II / 1, S47, S50; vertiefend
auch Groll, Zu der Flut der Gesetzgebung, 1985, Hotz, Methodische Rechtsetzung, 1983,
121 ff.; Karpen, in: Karpen, Zum gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, 371; Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtsetzung, in: Schäffer, Theorie der Rechtsetzung, 1988, 11, 24.
1079 Vgl. statt vieler Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1999, Rn. 470.
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mehr vor Augen haben. Die Vertreter der Gesetzgebungslehre wollen die »rechtliche Seite« der Entscheidungsfindung stärken; sie wollen Gesetzgebung nicht
nur als politischen Akt, als Interessengesetzgebung begreifen.
Im Rahmen der aktuellen Diskussion um Wege besserer Gesetzgebung wird
der Versuch unternommen, den Gemeinwohlbezug zu institutionalisieren.1080 Wie
bereits angesprochen, liegt dem Grundgesetz kein vorgegebener inhaltlicher
Gemeinwohlbegriff zugrunde. Dennoch bleibt der Topos des Gemeinwohls ein
»Leitstern« für das Handeln des Staates und seiner Organe.1081 Gesetzgebung wird
in der öffentlich-rechtlichen Dogmatik nie als bloßes Interessenverfahren, sondern auch als Gemeinwohlverfahren begriffen.1082 Dauerhaft gestritten wird um
das Verhältnis dieser Elemente zueinander: Inwieweit ist das Parlament zu einer
reflektierten Entscheidung verpflichtet?1083 Inwieweit muss der Charakter des
Gesetzgebungsverfahrens als eines kognitiven Erkenntnisverfahrens gestärkt
werden?1084
Die Forderung nach einem inneren Gesetzgebungsverfahren stellt sich hierbei
als ein Lösungsansatz dar, um das gemeinwohlorientierte Element zu stärken. Das
Abwägungsgebot soll verfahrensrechtlich absichern, dass der Gesetzgeber die
verschiedensten Interessen berücksichtigt. Indem das Parlament an zusätzliche
Verfahrensanforderungen gebunden wird, soll der politische Charakter der
Gesetzgebung zugunsten einer distanzierten Entscheidungsfindung zurückgedrängt werden.1085
Hans Herbert von Arnim unterscheidet in seiner Monographie zum Gemeinwohl zwei Gruppen von Entscheidungsverfahren: 1. das macht- und interessendeterminierte Verfahren, 2. das wert- und erkenntnisorientierte Verfahren. Bei
Entscheidungsverfahren der ersten Gruppe dominiert das politische Element
staatlichen Handelns. Verfahren der zweiten Gruppe hingegen zeichnen sich
1080 Vgl. Ennuschat, Wege zu besserer Gesetzgebung, DVBl. 2004, 986, 987.
1081 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR Band III, 1988, § 57 Rn. 1 ff., der von dem
Gemeinwohl auch als dem Inbegriff aller legitimen Staatsziele spricht und dieses als Fundamentalprinzip der politischen Ethik und jeder möglichen staatsrechtlichen Programmatik auffasst. In neuerer Zeit erfolgt wieder eine vermehrte Auseinandersetzung mit dem
Gemeinwohltopos. Vgl. beispielsweise Anderheiden, Ökonomik, Gemeinwohl und Verfassungsrecht, in: Recht und Ökonomik, 2004, 113 ff., Kreuzbauer, Der Topos vom
Gemeinwohl in der juristischen Argumentation, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische
Ziele und juristische Argumentation, ARSP Beiheft 92 (2003), 9 ff.
1082 Vgl. v. Arnim/Brink, Methodik der Rechtsfortbildung unter dem GG, 2001, 55; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 221.
1083 Vgl. Blum, Gutachten, in: Verhandlungen des fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten), München 2004, I, 6, 15.
1084 Vgl. Blum, Gutachten, in: Verhandlungen des fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten), München 2004, I 6, 16.
1085 Vgl. in diese Richtung Hofmann, Diskussion, in: Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des
Gesetzes, 1987, 76.
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dadurch aus, dass ethische Kategorien in den Bereich des Rechts Eingang finden.1086
Die aktuelle Diskussion um Wege besserer Gesetzgebung kann als ein Streit
darüber verstanden werden, welcher Gruppe das Gesetzgebungsverfahren unter
dem Grundgesetz zugeordnet ist. Im Bereich der Gesetzgebung besteht insgesamt
ein Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik und Ethik. Mit Hilfe von
Konzeptionen normativer Ethik1087 könnten zusätzliche Verfahrensanforderungen
an den Gesetzgeber gerechtfertigt werden, während der Hinweis auf den politischen Charakter der Gesetzgebung für einen Spielraum, eine Dezisionsmacht der
Legislative streitet.
2. Gute Gesetzgebung durch zunehmende Verrechtlichung
Bei der Diskussion um ein inneres Gesetzgebungsverfahren wird besonders deutlich, dass innerhalb der Gesetzgebungslehre eine Tendenz besteht, ethische Anforderungen an das Parlament zu verrechtlichen. Nachdem Schwerdtfeger in seinem grundlegenden Aufsatz von 1977 eine Methode der Entscheidungsfindung
vorgestellt hatte, wurde sein Ansatz intensiv erörtert. Kern der Diskussion war die
Frage, ob es sich bei den von ihm aufgestellten Verfahrensregeln um Verfassungspflichten oder ethische Anforderungen handelte.
1086 Vgl. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 50 ff.
1087 Die Ethik ist die vernunftbestimmte und methodische Reflexion von Moral und Ethos. Die
Moral ist der Untersuchungsgegenstand der Ethik. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird deshalb das Verhältnis von Ethik und Gesetzgebung und nicht von Moral und
Gesetzgebung untersucht. Vgl. Krings: Stichwort »Ethik, in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Band 2,, 1972, 398.
Die normative Ethik versucht Gebote und Verbote sowie sittliche Werturteile in einen
systematischen Zusammenhang zu bringen, der durch ein höchstes Gebot, evtl. auch mehrere solche Gebote konstituiert wird, Vgl. Höffe, Lexikon der Ethik, »normative Ethik«,
6. Auflage, 2002, 192. Sie versteht sich als praktische Philosophie und versucht Prinzipien
zu gewinnen, um nach ihrer Maßgabe konkrete Probleme der zeitgenössischen Lebenswelt
zu beurteilen. Vgl. Pieper, Stichwort »Ethik« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Band 2, 1972, 408.
Der Begriff der Rechtsethik hingegen soll eine Spezialethik beschreiben, der es um die
Qualität und die Bonität des Rechts geht. Die Bezeichnung soll in den 20er und 30er Jahren
des 20. Jahrhunderts geprägt worden sein. Bei der Rechtsethik handele es sich um das
Herzstück einer materiellen Rechtsphilosophie, die sittliche Maßstäbe für das Recht und
seine Normen anerkenne. Als eine normative Theorie stelle die Rechtsethik insbesondere
einen Widerpart gegen Formalismus und Positivismus dar, vgl. Hollerbach, Stichwort
»Rechtsethik« in Staatslexikon, Band 4, 1988, Sp. 692.
Im Folgenden wird der Begriff der normativen Ethik als der ältere und der Rechtsethik
übergeordnete Begriff verwandt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.