49
richt jedoch rechtfertigen beziehungsweise begründen.84 Nach Ansicht der
Rezeption kann demnach das eigenständige Maßstäbegesetz gerade nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Verfassung abgeleitet werden. Die Argumentation
des Gerichts wird als zu pauschal angesehen. Es stelle auf die Gesetzgebungsaufträge ab, ohne sich wirklich eingehend mit den verschiedenen Formulierungen
auseinander zu setzen.
Dieser Zwischenbefund – keine Ableitung unmittelbar aus dem Wortlaut der
Verfassung möglich – führt zu einem nächsten Kritikpunkt: Besitzt das Bundesverfassungsgericht überhaupt die Kompetenz, einen zweistufigen Gesetzgebungsauftrag zu entwickeln?
Ein Teil der Literatur lehnt dies strikt ab; das Bundesverfassungsgericht könne
nicht über den Verfassungswortlaut hinaus neue Gesetzgebungsverfahren oder typen einführen.85 Es müsse vielmehr den Wortlaut der Verfassung ernst nehmen.
Auch wenn ein eigenständiges Maßstäbegesetz politisch wünschenswert sei,
bleibe das Bundesverfassungsgericht an das Verfassungsrecht gebunden. Wenn
das Grundgesetz selbst keine entsprechende Verpflichtung enthalte, könne das
Bundesverfassungsgericht ein solches Gesetz nicht vorschreiben. Ansonsten handele es sich um eine Grenzüberschreibung, die Kompetenzen des Gesetzgebers
würden verletzt.86 Andere Stimmen hingegen bejahen eine solche Kompetenz:
Dem Bundesverfassungsgericht gehe es darum, den Vorrang der Verfassung
durchzusetzen. Das sei seine ureigenste Aufgabe, zu deren Erfüllung ihm auch
das Instrument richterlicher Rechtsfortbildung zur Verfügung stehe.87
Insgesamt kann die Kritik der Rezeption an der Figur eines selbständigen Maßstäbegesetzes wie folgt zusammengefasst werden: Das Bundesverfassungsgericht
wird seiner Argumentationslast aus zwei Gründen nicht gerecht: 1. Die Begründungen innerhalb des Urteils sind schon vom Umfang her zu knapp. 2. Die vorhandenen Ausführungen stellen zu pauschal und oberflächlich auf die Gesetzgebungsaufträge der Art. 106, 107 GG ab. Kann jedoch diese Argumentation mit
dem Wortlaut nicht überzeugen, so stellt sich das Folgeproblem, inwieweit das
Bundesverfassungsgericht eine Kompetenz besitzt, die Verfassung fortzubilden.
3. Besonderer Charakter des Maßstäbe-Gesetzes
Auch an den besonderen Eigenschaften des Maßstäbegesetzes wurde in der Rezeption des Urteils Kritik geübt.
84 Vgl. Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, NJW 2000,
1086, 1086.
85 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
607, 611.
86 Vgl. Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, NJW 2000,
1086, 1086.
87 Vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 3, Art. 107 GG
Rn. 48.
50
a) Veränderter inhaltlicher Gesetzesbegriff als Rückschritt
Die Aussagen zur rechtsstaatlichen Funktion des Gesetzes wurden in Urteilsbesprechungen massiv kritisiert. Das Urteil gehe von einem materiellen Gesetzesbegriff und nicht dem formalen Gesetzesbegriff des Grundgesetzes aus. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts stelle einen Rückschritt in das 19.
Jahrhundert dar. Sie verfolge einen inhaltlichen Gesetzesbegriff, der jedoch nicht
mit der demokratischen Gesetzgebung vereinbar sei.88 Diese ziele nicht primär
auf Wahrheit oder Richtigkeit, sondern auf demokratische Akzeptanz ab.89
b) Beschränkte Allgemeinheit von Gesetzen im Finanzausgleich
Insbesondere wurde beanstandet, dass das Bundesverfassungsgericht die formelle Allgemeinheit des Maßstäbegesetzes betont. In der BRD erfolge keine
strenge Ausrichtung am Idealtypus des abstrakt-generellen Gesetzes. Vielmehr
werden Einzelfall- und Maßnahmegesetze verfassungsrechtlich gebilligt.90 Gerade im Bereich des Finanzausgleichs passe die Forderung nach einem allgemeinen Gesetz nicht. Wenn ein Gesetz nur 16 Adressaten habe, so sei die Allgemeinheit seiner Anwendung aus sich heraus beschränkt.91 Die Besonderheit des Finanzausgleichs müsse berücksichtigt werden. Die Normen seien nicht wie ein im
Verhältnis Staat-Bürger geltendes Gesetz auf eine beliebige und unvorhersehbare
Vielzahl von Fällen anwendbar. Vielmehr würden mit dem Maßstäbegesetz die
konkreten bundesstaatlichen Verteilungsentscheidungen selbst getroffen. Das
Gesetz habe folglich den Charakter einer quasi sich selbst ausführenden Norm.92
c) Ähnlichkeit mit der Figur eines inneren Gesetzgebungsverfahrens
Wie in der Analyse des Urteils dargestellt, verknüpft das Bundesverfassungsgericht seine Überlegungen zu einem veränderten Gesetzesbegriff mit Verfahrensanforderungen. Die Allgemeinheit des Gesetzes soll dadurch sichergestellt
werden, dass das Gesetzgebungsverfahren um einen bestimmten Zeitpunkt der
Entscheidung ergänzt wird. Die Entscheidung soll getroffen werden, bevor konkrete Finanzausgleichsinteressen bekannt sind. Das Urteil beschäftigt sich folg-
88 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
606, 619; Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 440; Linck, Das »Maßstäbegesetz« zur Finanzverfassung, DÖV 2000, 325, 328.
89 Vgl. Linck, Das »Maßstäbegesetz« zur Finanzverfassung, DÖV 2000, 325, 328.
90 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
606, 619.
91 Vgl. Christmann, Vom Finanzausgleich zum Maßstäbegesetz, DÖV 2000, 315, 324.
92 Vgl. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften
Verfahren, ZG 2000, 194, 215.
51
lich mit der Methodik der gesetzlichen Entscheidungsfindung. Ziel ist es, die
Transparenz des Finanzausgleichs zu erhöhen.
In den Urteilsanmerkungen wird dieser neue Ansatz des Gerichts – zusätzliche
Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren – mit dem Schlagwort »inneres
Gesetzgebungsverfahren« in Verbindung gebracht. Es besteht in der Literatur in
diesem Zusammenhang eine kontroverse Diskussion. Erörtert wird, inwieweit der
parlamentarische Gesetzgeber an eine Methodik der Entscheidungsfindung
gebunden ist. Stimmen in der Literatur leiten aus Rechtsstaats-und Demokratieprinzip sowie den Grundrechten ein Abwägungsgebot für die Legislative ab. Der
Begriff des inneren Gesetzgebungsverfahrens steht grob gesehen für die Frage,
inwieweit der innere Prozess der Entscheidungsfindung einer rechtlichen Kontrolle unterliegen sollte.93
Die Entscheidungsanmerkungen sehen einen engen Zusammenhang zwischen
dem vorliegenden Urteil und der Forderung nach einem solchen inneren Gesetzgebungsverfahren. Die Anforderungen an den Zeitpunkt der Entscheidung werden als ein Signal dafür verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht das
»Wie« der Entscheidung stärker gewichtet. Das Gericht scheint sich der Forderung nach weiter reichenden Verfahrenspflichten anzuschließen.94
Wie kontrovers diese Aufwertung von Verfahrensanforderungen diskutiert
wird, zeigt sich in der Rezeption des Urteils. Hierbei vermischen sich Argumente,
die aus der allgemeinen Diskussion über ein inneres Gesetzgebungsverfahren
stammen, mit Ausführungen, die sich speziell auf den Prozess des Finanzausgleichs beziehen.
Ein Teil der Literatur steht zusätzlichen Verfahrensanforderungen ablehnend
gegenüber. Der Gesetzgeber schulde allein ein im Ergebnis verfassungsgemäßes
Gesetz.95 Indem das Bundesverfassungsgericht zusätzliche Verfahrensbedingungen aufstelle, zeige es ein tiefes Misstrauen gegenüber dem politischen Prozess
im Bereich des Finanzausgleichs. Die Rationalität im Verhandlungswege gefundener Lösungen werde abgewertet.96
Andere Stimmen hingegen bewerten den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts positiv. Durch zusätzliche Verfahrensanforderungen könne der Gesetzgebungsprozess optimiert werden. Eine »verfahrensrechtliche Lösung biete die
Chance auf eine bessere Regelung des Finanzausgleichs. Das geforderte Verfah-
93 Vgl. grundlegend Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS Ipsen 1977, 173 ff.
94 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
606, 615; Schneider/Berlit NVWZ 2000, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen
Rationalität, Transparenz und Politik, 841, 844; zur Tendenz der Verrechtlichung Ossenbühl, in: Isenssee/Kirchhof, Band III, 1988, § 63 Rn. 6.
95 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
606, 615; Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität,
Transparenz und Politik, NVWZ 2000, 841, 844.
96 Vgl. Berlit/Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 1999,
606, 611; Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität,
Transparenz und Politik, NVwZ 2000, 841, 843.
52
ren garantiere, dass die Beteiligten ihre konkreten Interessen in vermittelbare allgemeine Aussagen einkleiden müssten. Dadurch entstehe eine transparentere und
besser nachvollziehbare öffentliche Diskussion.97 Das Bundesverfassungsgericht
orientiere sich an der Idee eines Rechtsgüterschutzes durch Verfahren. Diese
Figur aus dem Grundrechtsbereich übertrage es nunmehr überzeugend auf den
Bereich des Staatsorganisationsrechts. 98
d) Weltfremder und verfassungswidriger Rückgriff auf John Rawls
Auch der Rückgriff auf die Konzeption von Rawls wird unterschiedlich eingeschätzt. Überwiegend wird der Schleier des Nichtwissens als Denkfigur für das
Gesetzgebungsverfahren abgelehnt. Hierbei bestehen zwei Hauptkritikpunkte:
aa) Praxistauglichkeit eines »Schleiers des Nichtwissens«
Für einen großen Teil der Rezeption wirkt der Hinweis des Gerichts auf den
Schleier des Nichtwissens naiv und weltfremd.99 In der Wirklichkeit kenne jeder
am Gesetzgebungsprozess Beteiligte seine eigenen Interessen und könne sie
selbst dann nicht aus seinem Bewusstsein verbannen, wenn er wollte.100 Zudem
könne jeder Beteiligte absehen, welche Konsequenzen die jeweilige Entscheidung über das Maßstäbegesetz für den Bund und die Ländergesamtheit letztlich
habe. Auch das Bundesverfassungsgericht könne den Gebrauch von Taschenrechnern nicht unterbinden.101 Die Vorstellung eines Maßstäbegesetzes, das unter
Nichtwissen beschlossen werden soll, wird als wirklichkeitsfremd abgelehnt.102
Der Rückgriff auf Rawls kann nach Ansicht der Rezeption nicht überzeugen. Das
philosophische Gedankengut besitze keine Überzeugungskraft für eine praxisbezogene Diskussion. Vielmehr scheint sich die rechtsphilosophische »Anleihe«
negativ auszuwirken. Dem Bundesverfassungsgericht wird unterstellt, zu »theorielastig« zu argumentieren, statt die Wirklichkeit des Finanzausgleichs zu berücksichtigen.
97 Vgl. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, 262, 271; Waldhoff,
Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG
2000, 194, 217.
98 Vgl. Huber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 2001, Art. 107
Rn. 52.
99 Vgl. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, 263, 272.
100 Vgl. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, DVBl. 2000,
1310, 1311.
101 Vgl. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, DVBl. 2000,
1310, 1312.
102 Vgl. Lindner; Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der »Schleier des Nichtwissens«, NJW 2000, 3757, 3760; Link, Das »Maßstäbegesetz« zur Finanzverfassung, DÖV
2000, 325, 328; Rupp, Länderfinanzausgleich, JZ 2000, 269, 270.
53
Es gibt jedoch auch Stimmen, die den Rückgriff auf Rawls unter einem anderen
Blickpunkt betrachten. So betont Waldhoff, dass die bei Rawls verwendeten Figuren und Bilder hypothetische Gedankenspiele und Idealisierungen darstellten. Er
sieht einen Vergleich zwischen dem Schleier des Nichtwissens und dem Gesetzgebungsverfahren zur Finanzverfassung als hilfreich an. Der Schleier des Nichtwissens zeige einsichtig und nachvollziehbar auf, wie eine Wahl allein unter idealen Bedingungen zu für jedermann akzeptablen Verfassungsprinzipien führt. Der
Blick auf Rawls mache deutlich, dass die Entscheidungen über die Finanzverteilung in ein möglichst abstraktes rationales Entscheidungsverfahren eingebunden
werden müssen.103
bb) Vereinbarkeit dieser Figur mit dem Grundgesetz
Bezweifelt wird auch, ob die Figur des Schleiers des Nichtwissens mit der Konzeption des Grundgesetzes kompatibel ist. Gegen eine solche Vereinbarkeit wird
angeführt, dass der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren zu einem legislativen Ignoranzgebot führe. Es werde dem Gesetzgeber verboten, die
voraussichtlichen finanzwirtschaftlichen Folgen zu ermitteln. Eine solche Situation widerspreche jedoch der verfassungsrechtlichen Verantwortung, die Politiker gegenüber ihrem Wahlvolk und für eine geordnete Haushaltswirtschaft tragen. Ein angeordnetes Nichtwissen im Gesetzgebungsverfahren sei rechtstaatsund demokratiewidrig.104
Gegen eine Vereinbarkeit spreche zudem, dass das Grundgesetz selbst mit der
Interessenbefangenheit von Entscheidern anders umgehe. Partikularinteressen
würden gerade nicht ausgeblendet. Stattdessen würden sie in den Gesetzgebungsprozess eingebunden. Beispielsweise könnten Bürger durch Petitionen oder organisiert als Verbände in Anhörungen ihre Interessen einbringen. Auch die Entscheidung des Grundgesetzes für einen Parteienstaat zeige, dass Interessenkonflikte bewusst zugespitzt und ausgetragen würden. Die bestehenden Interessengegensätze sollen im Idealfall herausgearbeitet und in einem kooperativen Verfahren der Einigung verringert werden.105 Diese Kritik der Rezeption zielt somit
darauf ab, dass die Figur des Schleiers des Nichtwissens nicht mit der Grundausrichtung des GG »verträglich« ist. Das Bundesverfassungsgericht könne nicht
ergänzend auf Rawls zurückgreifen, weil seine Konzeption systematisch nicht in
das Gesetzgebungsverfahren integriert werden könne.
103 Vgl. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften
Verfahren, ZG 2000, 193, 216.
104 Vgl. Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität,
Transparenz und Politik; NVwZ 2000, 841, 843; hieran zweifelnd Blum, Gutachten, in:
Verhandlungen des fünfundsechzigsten Deutschen Juristentages, Ständige Deputation des
Deutschen Juristentages (Hrsg.), Band I (Gutachten), München 2004, I 6, der die kritischen
Hinweise als möglicherweise zu kurz gegriffen einordnet.
105 Vgl. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, 433, 440 mit weiteren Nachweisen.
54
Auch diese Einschätzung wird jedoch nicht ausnahmslos geteilt. So zeigt
Joachim Becker in seiner Urteilsanalyse andere mögliche Betrachtungsweisen
auf. Zwar setzt er sich nicht direkt mit John Rawls und dem Schleier des Nichtwissens auseinander, er entwickelt jedoch einen weiterführenden Denkansatz:
Becker stellt eine Verbindungslinie zwischen dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem Gleichbehandlungsgebot her. Die besonderen
Anforderungen an das Maßstäbegesetz – also der besondere Entscheidungszeitpunkt – könnten aus einem weit verstandenen Gleichbehandlungsgrundsatz abgeleitet werden. Das Bundesverfassungsgericht betrachte bei der Frage der föderativen Gleichbehandlung nicht mehr nur einen bestimmten Zeitpunkt, sondern
einen Zeitraum.106
Warum spricht diese Überlegung für eine Kompatibilität von Schleier des
Nichtwissens und GG? Ohne vorzugreifen: Mit Hilfe des Schleiers des Nichtwissens soll die Zeitpräferenz der einzelnen Menschen ausgeblendet werden. Diese
Gedankenfigur beziehungsweise der Urzustand sollen eine Situation schaffen, bei
der Gerechtigkeitsgrundsätze nicht nur für einen speziellen Zeitpunkt, sondern
für einen nicht näher bekannten Zeitraum festgelegt werden. Der Schleier des
Nichtwissens soll eine Situation völliger Gleichheit auch in zeitlicher Dimension
bewirken. Hier zeigt sich der Bezugspunkt zu dem Interpretationsansatz Beckers
und der Idee eines weit verstandenen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Indirekt
zeigt dieser in seiner Urteilsanmerkung auf, dass mögliche Anknüpfungspunkte
zwischen dem Grundgesetz und der Position von Rawls bestehen.
Insgesamt steht die Rezeption der ergänzenden rechtsphilosophischen Argumentation eher ablehnend gegenüber. Kritisiert wird der Rückgriff auf eine wirklichkeitsferne Theorie, die »Lichtjahre« von dem realen Finanzausgleich entfernt
sei. Es wird angezweifelt, ob eine solche »abgehobene« Gedankenfigur wie der
Schleier des Nichtwissens als Leitbild geeignet sei. Neben dieser eher grundsätzlichen Kritik wird die Frage aufgeworfen, ob der Gedanke eines Nichtwissens im
Gesetzgebungsverfahren überhaupt mit dem System des Grundgesetzes zu vereinbaren sei.
Abschließend bleibt festzuhalten: Bei der Frage des Charakters der Finanzverfassung folgt das Bundesverfassungsgericht wie aufgezeigt seiner früheren
Rechtsprechung. Es spricht sich für ein Konkretisierungsmodell aus. Die Verfassungsnormen der Art. 106, 107 GG geben Grundlinien vor, die durch den Gesetzgeber verfeinert und ausgefeilt werden. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, die
Verfassungsprinzipien mit »Leben« zu füllen und Verteilungskriterien festzuschreiben. Problematisch ist hierbei sein weiter Spielraum. Zentrale Fragen sind
deshalb: Wie kann eine Transparenz der legislatorischen Tätigkeit erreicht werden? Wie kann der Gesetzgeber verfassungsrechtlich kontrolliert werden? Auch
wenn im vorliegenden Urteil ausdrücklich von der Interpretationsmacht und Erstzuständigkeit der Legislative gesprochen wird, so ist entscheidendes Ziel doch
eine verstärkte Kontrolle des Finanzausgleichs.
106 Vgl. Becker, Die Forderung nach einem Maßstäbegesetz, NJW 2000, 3742, 3745.
55
Hier geht das Bundesverfassungsgericht neue Wege: Es verlangt ein eigenständiges Maßstäbegesetz, das zugleich besondere Merkmale aufweist. In Bezug auf
die erste Forderung (eigenständiges Gesetz) kann die Argumentation des Gerichts
nicht überzeugen. Hier ist der Kritik der Rezeption zuzustimmen. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts sind zu knapp gehalten und setzen sich nicht
genügend mit dem Wortlaut der Gesetzesvorbehalte in Art. 106, 107 GG auseinander.
Im Mittelpunkt der weiteren Untersuchung steht der besondere Entscheidungszeitpunkt für das Maßstäbegesetz und damit »der Schleier des Nichtwissens im
Gesetzgebungsverfahren«. Denn der Verweis auf Rawls’ Konzeption ist nach
Auffassung der Verfasserin in der Rezeption noch nicht vertieft genug erörtert
worden. Zuzugeben ist, dass dieses Zitat nicht überbewertet werden darf. Wie die
Urteilsanalyse gezeigt, handelt es sich um einen vagen und lediglich ergänzenden
Hinweis. Dennoch stellt das Gericht hiermit die Frage nach dem Verhältnis von
Rawlsscher Gerechtigkeitskonzeption und Grundgesetz zur Debatte.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.