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keitsgrundsätze einigen, sind im Rahmen der Gesetzgebung ein Wissensaustausch und eine Abstimmung notwendig. Der Urzustand spiegelt das Bild einer
reinen Verfahrensgerechtigkeit wider, während das Gesetzgebungsverfahren nur
eine unvollkommene beziehungsweise fast reine Verfahrensgerechtigkeit abbildet.
2. Wirkungsweise Schleier des Nichtwissens
Dies leitet zur entscheidenden Frage über: Welche Wirkung hat der Schleier des
Nichtwissens? Welches Ziel verfolgt Rawls mit dieser Gedankenfigur? Die vorangegangene Untersuchung hat die Besonderheiten des Schleiers verdeutlicht,
die hier noch einmal zusammengefasst aufgezeigt werden sollen.
a) Negativgebot
Bei dem Schleier des Nichtwissens handelt es sich um ein Negativgebot.700 Rawls
stattet seine Entscheidungsträger nicht mit besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten aus, sondern verringert den Umfang ihres Wissens. Für ihn hängt die Vernünftigkeit einer Entscheidung nicht davon ab, wie viel jemand weiß; stattdessen
ist es für ihn entscheidend, wie gut der Betreffende seine Kenntnisse, auch wenn
sie lückenhaft sind, verwertet.701 Anders als die bisher dargestellten Philosophen
vertritt Rawls keinen »Wissens-Optimismus«; ein Mehr an Wissen führt für ihn
nicht automatisch zur besseren Entscheidung.
b) Ausschluss von persönlichem Wissen
Rawls differenziert vielmehr zwischen personenbezogenem Wissen und Strukturwissen. Bei dem personenbezogenen Wissen vertritt er die Ansicht, dass ein Weniger an Wissen zu einer gerechten, weil nicht durch individuelle Interessen beeinflussten Einigung führt. An dieser Stelle ist es nicht entscheidend, ob der
Schleier des Nichtwissens eine Distanz zu den eigenen Interessen des Abgeordneten oder zu den Interessen der von ihm vertretenen Personen gewährleisten
will. Wichtig ist allein, dass diese Gedankenfigur eine objektive Entscheidungssituation garantiert.
Auch wenn der Schleier im Bereich der Verfassungsgebung und der einfachen
Gesetzgebung durchlässiger wird, so blendet er dennoch auf allen Ebenen das
personenbezogene Wissen aus. Die Figur garantiert auf allen Stufen den Vorrang
700 Vgl. hierzu im Zusammenhang mit Unparteilichkeit, Höffe, Politische Gerechtigkeit,
2002, 43.
701 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 60, 435.
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des Vernünftigen vor dem Rationalen. Rawls’ Konzeption liegt keine Vorstellung
altruistischer Entscheidungsträger zugrunde. Das Element der Rationalität zeigt,
dass Menschen in seiner Konzeption grundsätzlich egoistisch, auf ihren eigenen
Vorteil bedacht sind. Sie wollen ihre Konzeption des Guten verwirklichen. Dieser
Egoismus wird durch den Schleier des Nichtwissens »überlistet«, er ist grundsätzlich angelegt. Im Hinblick auf das Entscheidungsverhalten der Menschen
unterscheiden sich Urzustand und nachfolgende Ebenen nicht. Aus diesem Grund
bleibt der Grundgedanke des Schleiers – kein Wissen über individuelle Ziele und
Fähigkeiten – auf allen Rechtsetzungsebenen erhalten. Dadurch verwandelt sich
die Entscheidung auf den verschiedenen Ebenen in eine Entscheidung unter Unsicherheit.702 Die jeweiligen Entscheidungsträger kennen ihre persönliche Situation
nicht, sie können die Auswirkung von Gesetzen auf sich selbst nicht abschätzen.
c) Prinzip der Verallgemeinerung
Der Schleier des Nichtwissens kann folglich als eine spezielle Form des Prinzips
der Verallgemeinerung703 verstanden werden. Bei dem Verfahren der Verallgemeinerung handelt es sich um ein grundlegendes Prinzip der Ethik. Synonym
werden auch die Begriffe Prinzip der Fairness, Prinzip der Gerechtigkeit oder
Prinzip der Unparteilichkeit verwandt. Mit Hilfe dieses Gedankenexperiments
soll überprüft werden, ob eine Norm von allen Betroffenen akzeptiert werden
kann.
Wie Rawls selber betont, besteht eine Verbindung zwischen dem kategorischen
Imperativ von Kant und der Figur des Schleiers. Dieses Verhältnis wird sogleich
noch genauer erörtert. Festzuhalten ist hier, dass Rawls mit dem Schleier ein Universalisierungsprinzip einführt, das das Entscheidungsverhalten »seiner« Personen grundlegend verändert. Er schafft eine eigene Universalisierungsform, indem
er sich vor allem mit einem Aspekt des Prinzips der Verallgemeinerung auseinander setzt. Singer führt in seiner grundlegenden Monographie aus, dass unausgesprochener, aber entscheidender Bestandteil des Prinzips der Verallgemeinerung die Voraussetzung »alle Personen mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen und unter ähnlichen Umständen« sei.704 Diesen Gleichheitsaspekt greift
Rawls mit dem Schleier des Nichtwissens in besonderem Maße auf. Sein Ziel ist
es gerade, die individuellen Zufälligkeiten, die ungleichen Lebensverhältnisse
der Menschen vollständig auszublenden. Mit dieser Vorgehensweise »radikalisiert« Rawls das Prinzip der Verallgemeinerung, er treibt es »auf die Spitze«. Dies
zeigt eine Aussage aus einem späteren Aufsatz:
702 Vgl. hierzu auch Kersting, John Rawls, 2001, 45.
703 Vgl. grundlegend hierzu Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, 1975; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980.
704 Vgl. Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, 1975, 34 ff.
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»Beträchtlich mehr Informationen wären mit Unparteilichkeit vereinbar, aber eine
kantische Auffassung verlangt mehr als Unparteilichkeit.«705
d) Dichte des Schleiers – Kritik der Literatur
Genau an diesem Punkt setzt eine umfassende Auseinandersetzung in der Literatur ein. Rawls wird vorgeworfen, mit dem Schleier die Individualität der Menschen »auszuschalten«. Es konstruiere eine zu weitgehende, eine künstliche
Gleichheit. Dieser Vorwurf richtet sich primär an die Entscheidungsebene Urzustand. Die Entscheidung über die Gerechtigkeitsgrundsätze würde nicht mehr von
verschiedenen Menschen getroffen. Der Schleier des Nichtwissens führe zu einer
fiktiven Entscheidung eines einzelnen, künstlichen Menschen. Indem Rawls die
individuellen Lebenspläne vollständig zurückdränge, entfallen sowohl Möglichkeit als auch Notwendigkeit einer Kommunikation.706
Fraglich ist jedoch, ob diese Kritik auch auf den Schleier des Nichtwissens im
Bereich der Gesetzgebung zutrifft. Wie wir gesehen haben, geht Rawls in Eine
Theorie der Gerechtigkeit grundsätzlich davon aus, dass auch der repräsentative
Gesetzgeber kein Wissen über sich selbst besitzt.707 Insofern greift der Vorwurf
»fehlende Individualität« auch für die Gesetzgebung. Rawls konstruiert hier
»künstliche« Entscheidungsträger. Der Gleichheitsgedanke besitzt im gesamten
Vier-Stufen-Gang eine entscheidende Bedeutung.
Jedoch weist die Ebene der Gesetzgebung auch Besonderheiten auf, die sie
vom Urzustand unterscheiden. Der Schleier des Nichtwissens führt hier nicht
mehr zu einer konsensualen Entscheidung. Rawls ordnet die Rechtsetzung als
eine komplexe Materie ein. Die Verfahrensbedingung »Schleier« kann dort allein
bewirken, dass der Entscheidungsprozess »versachlicht« wird. Besitzen die
Abgeordneten kein Wissen über Konzeptionen des Guten, so führt dies nicht
automatisch zu einer einstimmigen Entscheidung, vielmehr ändert sich die Struktur der Kommunikation; der persönliche Schlagabtausch wird zu einer sachlichen
Diskussion.
Während die Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand von einer Person gewählt
werden könnten, ist dies bei den vielfältigen Gesetzesmaterien innerhalb einer
Gesellschaft nicht möglich. Zwar entscheidet bei Rawls ein »künstlicher« Abgeordneter, dieser ist jedoch auf den Informationsaustausch angewiesen. Anders als
im Urzustand kann die Gesetzgebung bei Rawls also nicht durch eine Person
erfolgen. Der Vorwurf eines zu dichten Schleiers greift deshalb nur bedingt für
die Ebenen der Verfassungs- und einfachen Gesetzgebung.
705 Vgl. Rawls, Die Grundstruktur als Gegenstand, in: Hinsch, Die Idee des politischen Liberalismus, 1994, 45, 62.
706 Vgl. aktuell hierzu Hauke, Liberalismus-metaphysisch und politisch, ARSP 2005, 49, 55.
707 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 226.
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e) S chleier als Element einer anwendungsorientierten Ethik
Der Schleier des Nichtwissens wird auf der Ebene der Gesetzgebung zu einer Bedingung, die eine Kontrolle staatlichen Handelns ermöglicht. Hier zeigt sich noch
einmal der Anwendungsbereich von Rawls’ Konzeption. Der Vier–Stufen –Gang
ist Bestandteil einer idealen Theorie, mit deren Hilfe der Bürger beurteilen kann,
ob die reale Gesetzgebung und die Gesellschaftspolitik gerecht sind.708 Der
Schleier auf Gesetzgebungsebene ist Bestandteil einer Institutionenlehre. Nicht
das persönliche Handeln des Einzelnen, sondern das Handeln des Staates soll auf
seine Allgemeinverträglichkeit beziehungsweise soziale Gerechtigkeit überprüft
werden.709
Der »Schleier« wird dadurch insgesamt zu einer Figur, die sowohl die übergeordneten Gerechtigkeitsgrundsätze für eine Gesellschaft als auch das konkrete
Handeln des Staates beeinflusst. Bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze ist
der Schleier noch genuin moralische Bedingung, denn der Urzustand ist ein Darstellungsmittel, das der Grundstruktur der Gesellschaft vorangeht. Trifft Rawls
jedoch Ausführungen zur Gesetzgebung, so entwirft er eine anwendungsorientierte Ethik.710 Anders als auf der Ebene des Urzustandes steht seiner idealen
Gesetzgebung eine reale Gesetzgebung gegenüber. Rawls entwickelt ein Gedankenexperiment, das von dem einzelnen Leser nachvollzogen werden kann, das
zugleich aber auch Vorbild für eine rechtliche Verfahrensregelung sein könnte.
Der Schleier des Nichtwissens wird zu einer Bedingung, die mehr als ein individuelles Gedankenexperiment darstellt. Seine Wirkungsweise könnte möglicherweise in abgeschwächter Form verrechtlicht werden.
f) Weiterentwicklung
In den Folgewerken findet zudem der Gedanke der Repräsentation Eingang. Bezugspunkt für den Schleier sind nicht mehr die individuellen Interessen des Entscheidungsträgers selbst, stattdessen blendet Rawls die Lebenspläne der vertretenen Personen aus. Fraglich ist, ob sich hierdurch die Wirkungsweise des Schleiers wesentlich verändert. Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein. Ausgeblendet werden nicht mehr die persönlichen Kenntnisse des Abgeordneten
selbst, sondern das Wissen über die Interessen Dritter. Für Rawls selbst hingegen
handelt es sich allein um eine Formulierungsfrage. Entscheidend ist für ihn, dass
die Abgeordneten ohne einen Schleier des Nichtwissens einseitig von Individualinteressen beeinflusst würden. Unerheblich ist für ihn, ob es sich hierbei um ihre
eigenen Zielvorstellungen oder die Wünsche dritter Personen handelt.
708 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 224.
709 Vgl. Bedau, Social Justice and Social Institutions, in: Richardson/Weithman, 1999,
Volume 1, 91 ff.
710 Vgl. Höffe, Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls. Eine
Theorie der Gerechtigkeit, 1998, 1, 5.
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Mit dem Repräsentationsgedanken erweitert er dennoch den Anwendungsbereich seiner Ausführungen. Der Schleier des Nichtwissens blendet in seinen Folgewerken nicht nur eine unmittelbare Betroffenheit aus. Er verhindert vielmehr
auch, dass die Abgeordneten sich einseitig für an sie herangetragene Partikularinteressen einsetzen.
3. Abgrenzung zu bisherigen Ansätzen in der politischen Philosophie
Bei dem Blick in die Philosophiegeschichte wurde zu Beginn die Frage aufgeworfen: Welches ist die richtige Verbindung zwischen Wissen und Gesetzgebung? Die abschließende Betrachtung hat deshalb auch das Ziel, zu erörtern, inwieweit Rawls ein neues Bild idealer Gesetzgebung entwirft.
In der Literatur wird der Schleier des Nichtwissens häufig mit anderen Postulaten verglichen. Er habe dieselbe Funktion wie die Idee eines idealen Beobachters, das Prinzip des Rollentausches oder die Forderung der Transsubjektivität.711
In der Geschichte der Ethik würden immer wieder Verfahren entworfen, die den
Menschen befähigen sollen, sich von konkreten Interessenkonflikten zu distanzieren. Die Menschen sollen eine weite und objektive Perspektive einnehmen.712
Der Schleier des Nichtwissens sei kompatibel mit jeder moralischen Sichtweise,
die auf einer Unparteilichkeit aufbaut.713
Zu überlegen ist abschließend also, ob Rawls’ Ansatz sich tatsächlich von den
bisherigen Vorstellungen von idealer Gesetzgebung abhebt. Entwickelt er wirklich eine neuartige und höchst überraschende Rekonstruktion des »Moral point of
view«?714 Oder bestehen nicht doch vielfältige Verbindungslinien zwischen seinem Schleier des Nichtwissens und den bereits aufgezeigten Ansätzen in der Philosophiegeschichte?
Die folgende Untersuchung will nicht die gesamte Theorie von Rawls mit
Kant, Rousseau oder dem klassischen Utilitarismus vergleichen. Dies würde den
Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen. Nur der kleine Ausschnitt »ideale
Gesetzgebung / idealer Gesetzgeber« wird betrachtet. Basis der Betrachtung sind
immer der Schleier des Nichtwissens und der Vier –Stufen- Gang.
Wie erörtert, wurden in der Philosophiegeschichte grob betrachtet drei Bilder
von geeigneten Gesetzgebern entwickelt: 1. der einzelne weise Herrscher, 2. die
gesellschaftliche Elite, 3. der vernunftbegabte Mensch. Jede dieser Vorstellungen
ist mit bestimmten Postulaten verbunden. In welchem Verhältnis steht Rawls’
Konzeption zu diesen Ansätzen? Inwieweit ist der Schleier des Nichtwissens mit
den Überlegungen in der Philosophiegeschichte vergleichbar?
711 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 86.
712 Vgl. Ballestrem, Methodologische Probleme in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe 1977, 108, 120.
713 Vgl. Barry, The Liberal Theory of Justice, 1975, 13.
714 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 188; Nida – Rümelin, Die beiden zentralen Intentionen
der Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls, ARSP 1990, 457, 463.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.