378
die Perspektive der Abgeordneten zu formen.1540 Der Fraktionsbeschluss stellt
ähnlich wie der Schleier des Nichtwissens eine Vorbedingung dar, die die Entscheidungssituation in bestimmter Weise gestaltet. Die Parlamentarier werden
durch das Parteiprogramm und den Fraktionsbeschluss in ihrem Entscheidungsspielraum beschränkt. Die Auswirkungen des Parteienstaates bilden insoweit einen Rahmen, innerhalb dessen der Abgeordnete agieren kann (»rahmengebundenes Mandat«1541).
Die Parteizugehörigkeit und die Fraktionsdisziplin bilden gemeinsam ein
»Zwangsinstrument« ab, das mit einem schwachen Schleier des Nichtwissens
vergleichbar ist. Zwar besitzt der Abgeordnete Kenntnisse über seine eigenen
Ziele und die Bedürfnisse seines Wahlkreises (wenn er Direktkandidat ist), allerdings wird er dennoch gezwungen, auch die Linien der Partei zu beachten. Die
Parteiprogramme wiederum sollen sowohl nach dem Ansatz von Rawls als auch
nach dem Willen des Grundgesetzes nicht nur einzelne Partikularinteressen abbilden, sondern die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen in sich aufnehmen
und ausgleichen.1542
Insgesamt schließen sich Parteienstaat und der Gedanke eines distanzierten
Gesetzgebers folglich nicht aus. Hier ist es wiederum entscheidend, den Schleier
des Nichtwissens nicht als eine reale Verfahrensbedingung aufzufassen. Diese
fiktive Figur weist vielmehr auf ein aktuelles Problem der Gesetzgebung hin: Der
Gesetzgeber darf sich nicht einseitig von partikularen Interessen leiten lassen.
Die Parteien haben die Aufgabe, bereits auf einer vorstaatlichen Ebene Interessen
zu sammeln und durch ein Parteiprogramm zu verallgemeinern.1543 Insoweit
haben sie wie der Schleier des Nichtwissens eine Filterfunktion.
7. Entscheidung durch die Mehrheit
Rawls’ Schleier des Nichtwissens könnte jedoch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein, weil dieses dem Gesetzgeber bewusst einen weiten Gestaltungsspielraum knüpft und als Entscheidungsregel auf das Mehrheitsprinzip abstellt.
Die Literatur kritisiert am Maßstäbe-Urteil insbesondere auch, dass das Bundesverfassungsgericht die zentrale Stellung der Mehrheitsregel nicht berücksich-
1540 Vgl. zur Fraktionsdisziplin Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2000, Art. 38 Rn. 41 ff.; Schneider, in: Alternativkommentar
zum GG, 1984, Art. 38 Rn. 37; Trute, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 2, 5.
Auflage, 2001, Art. 38 Rn. 89.
1541 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, 224.
1542 Ähnlich in anderem Zusammenhang Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983,
103, der davon spricht, dass bereits in den Fraktionen und Parteien ein andauernder Gedankenaustausch stattfindet, der Einseitigkeiten und Unstimmigkeiten abschleift. Vgl. auch
v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, 393 der ausführt, dass die Parteien
heute staatstheoretisch als Organisationen anzusehen seien, denen die Wahrung des
Gemeinwohls aufgegeben sei.
1543 Vgl. Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991.
379
tige und stattdessen ein tiefes Misstrauen gegenüber dem politischen Prozess aufzeige.1544 Tatsächlich führt das Gericht aus, dass eine bloße parlamentarische
Mehrheit noch nicht den beschlossenen Finanzausgleich rechtfertigen könne.1545
Es entwickelt dann zusätzliche Verfahrensbedingungen für die Entscheidung über
das Maßstäbe-Gesetz.
An dieser Stelle kann nicht umfassend auf die Bedeutung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie eingegangen werden. Wie Peter Häberle ausführt, handelt
es sich hierbei um eine komplexe Thematik, die eine eigenständige Bearbeitung
verlangt.1546 Daher beschränken sich die weiteren Ausführungen auf die Frage, ob
das Mehrheitsprinzip und der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers einander tatsächlich widersprechen. Die Literatur zum Mehrheitsprinzip wird allein
unter diesem Gesichtspunkt betrachtet.
a) Bedeutung des Mehrheitsprinzips
Auf den ersten Blick scheint dem Mehrheitsprinzip unter dem Grundgesetz eine
herausragende Bedeutung zugesprochen zu werden. Das typische Moment der gesetzgebenden Gewalt liege darin, dass ein demokratisch gebildeter Mehrheitswille sämtliche Entscheidungen steuere.1547 Das Mehrheitsprinzip wird als das
Verfahren herausgestellt, das das größte Potential zur Realisierung der Grundwerte aufweise.1548 Es gehöre ohne Zweifel zu den ganz zentralen Faktoren demokratischer Legitimität.1549
Auch Rawls setzt sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit in einem eigenen
Abschnitt mit dem Stellenwert des Mehrheitsprinzips auseinander. Für ihn hat die
Mehrheitsregel jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung, er sieht sie als bloßes
Instrument an.1550 Seiner Auffassung nach entscheidet man sich für die Mehrheitsregel als die beste praktische Möglichkeit, um bestimmte, vorher durch die
Gerechtigkeitsgrundsätze festgelegte Ziele zu verwirklichen.1551 Sie stellt für ihn
lediglich ein relatives Entscheidungsprinzip dar. Nur wenn sie um weitere Verfahrensanforderungen ergänzt wird, ist Gesetzgebung mehr als eine dezisionistische Tätigkeit.
Rawls erkennt aber dennoch die rechtliche Entscheidungskompetenz der
Mehrheit an. Innerhalb der rechtlichen Wirklichkeit (der nichtidealen Theorie)
1544 Vgl. Berlit/Schneider, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität,
Transparenz und Politik, KJ 1999, 607, 611.
1545 Vgl. BVerfGE 101, 158 (219).
1546 Vgl. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich – demokratischen
Grundordnung, JZ 1977, mit Nachtrag abgedruckt in: Häberle, Verfassung als öffentlicher
Prozess, 3. Auflage, 1998, 564, 566.
1547 Vgl. v. Arnim/Brink, Methodik der Rechtsfortbildung unter dem GG, 2001, 172.
1548 Vgl. v. Arnim/Brink, Methodik der Rechtsfortbildung unter dem GG, 2001, 172.
1549 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 100.
1550 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 392.
1551 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 398.
380
kann nicht auf diese Verfahrensregel verzichtet werden. So verweist Zippelius in
seiner grundlegenden Monographie zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips auf
Abschnitte in Eine Theorie der Gerechtigkeit genauer auf Rawls’ Überlegungen
zum zivilen Ungehorsam. Rawls lege in diesem Zusammenhang die rechtliche
Entscheidung über eine Strafbarkeit in die Hände der Mehrheit und appelliere
allein an deren Gerechtigkeitssinn. Damit zeige er, dass Mehrheitsentscheide
unabhängig von individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen Rechtsverbindlichkeit besäßen.1552
Wenn Rawls das Mehrheitsprinzip dennoch als relative Entscheidungsregel
einordnet, so scheint er sich in Gegensatz zu den oben angeführten Einschätzungen der öffentlich-rechtlichen Literatur zu setzen. Doch wurde deren Position nur
verkürzt dargestellt. Auch innerhalb der Dogmatik besteht Einigkeit darüber, dass
die Mehrheitsregel unter dem Grundgesetz keine unbedingte Stellung besitzt,
sondern Einschränkungen unterliegt. Sie wird ebenfalls nicht als ein absolutes
Prinzip verstanden.1553 Als kollektive Auswahlregel im Sinne der modernen Entscheidungstheorie1554 unterliegt sie formalen und materiellen Grenzen. Insoweit
widerspricht Rawls’ Grundansatz nicht dem Verständnis der Mehrheitsregel unter
dem Grundgesetz. Diese kann um weitere Verfahrensanforderungen ergänzt werden.
Auch hier kann erneut eine Verbindung zu demokratietheoretischen Überlegungen hergestellt werden. In der Politikwissenschaft wird das Mehrheitsprinzip
als kennzeichnend für die Demokratie begriffen. Das Mehrheitsprinzip gehöre
zum »System Demokratie.1555 In kritischen Theorien zur Demokratie1556 wird
jedoch auch diese Entscheidungsregel in Frage gestellt und ihre herausgehobene
Stellung diskutiert.1557 Wie bereits an anderer Stelle kurz angerissen, wird die
Bundesrepublik nicht als reine Konkurrenzdemokratie eingeordnet. Sie stelle
vielmehr eine Mischform dar, deren System nicht nur vom Mehrheitsgedanken
beherrscht werde. So formuliert Peter Graf Kielmansegg pointiert, dass das
Grundgesetz keine mehrheitsfreundliche Verfassung sei.1558
Als »Zwischenbefund« bleibt festzuhalten: Indem Rawls das Mehrheitsprinzip
zwar anerkennt, jedoch gleichzeitig relativiert, widerspricht er nicht dem »herr-
1552 Vgl. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 7, 8.
1553 Vgl. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Auflage, 1992, 340; Hillgruber, Die
Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 ( 2002), 460, 465; Jäger, Stichwort »Mehrheit/Mehrheitsprinzip«, in: Staatslexikon, Band 3, 1987, Sp. 1082.
1554 Vgl. Jäger, Stichwort »Mehrheit/Mehrheitsprinzip«, in: Staatslexikon, Band 3, 1987, Sp.
1082.
1555 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 13.
1556 Vgl. zu dieser Bezeichnung als Sammelbegriff Schmidt, Demokratietheorien, 3. Auflage,
2000, 268.
1557 Vgl. Offe/Guggenberger (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie: Politik und
Soziologie der Mehrheitsregel, 1984.
1558 Vgl. Graf Kielmansegg, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie? In: Graf Kielmansegg,
Das Experiment der Freiheit: Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, 1988, 97, 105.
381
schenden« Verständnis des Grundgesetzes. Zwar ist diese Entscheidungsregel
unter dem Grundgesetz weit mehr als ein technischer Notbehelf1559, besitzt aber
dennoch Grenzen.
Im Hinblick auf die staatsphilosophischen Grundlagen des demokratischen
Mehrheitsprinzips findet sich in der Dogmatik häufig der Verweis auf die »klassischen« Vertragstheoretiker, insbesondere John Locke.1560 Die »Väter« des
Gesellschaftsvertrages stellen bei der Rechtfertigung von Herrschaft auf das Einstimmigkeitsprinzip ab. Gleichzeitig sehen sie jedoch, dass diese Entscheidungsregel den gegründeten Staat auf Dauer entscheidungs- und handlungsunfähig
machen würde. Das Mehrheitsprinzip ist deshalb konsentiertes Gebot praktischer
Vernunft.1561
Zeigt man diese Verbindungslinien zwischen klassischem Kontraktualismus
und Mehrheitsprinzip auf, so kann Rawls’ kritische Position zum Mehrheitsprinzip noch genauer eingeordnet werden. Wie im dritten Teil der Arbeit dargestellt,
baut Rawls zwar auf der Theorie des Gesellschaftsvertrages auf, er will jedoch –
pauschal ausgedrückt – mit seiner Konzeption ein »Mehr« erreichen. Anders als
die klassischen Vertragstheoretiker will er nicht staatliche Herrschaft an sich
rechtfertigen, sondern die Grundstruktur bereits bestehender staatlicher Gesellschaften kritisch hinterfragen. Er will eine Theorie entwickeln, die eine gerechtigkeitsorientierte Arbeitsweise von Institutionen aufzeigt. Sein Ziel ist es, zu
verdeutlichen, wie der Gedanke einer Gerechtigkeit als Fairness in Verteilungsentscheidungen integriert werden kann. Rawls setzt sich nicht allein mit der
Handlungsfähigkeit von Staaten auseinander, die das Mehrheitsprinzip sichert. Er
will eine bestimmte Art und Weise staatlichen Handelns aufzeigen, und deshalb
kann die Mehrheitsregel bei ihm keine absolute Stellung besitzen. Diese Entscheidungsbedingung ist nicht in der Lage, den Gedanken der Fairness abzubilden.
b) Mehrheitsprinzip und Konsens
Zu überlegen ist, ob der Schleier des Nichtwissens eine Verfahrensregel darstellt,
die im Rahmen der Gesetzgebung das Mehrheitsprinzip ergänzen könnte.
Hiergegen könnte auf den ersten Blick sprechen, dass der Schleier im Urzustand zu einer konsensualen Entscheidung über die Gerechtigkeitsgrundsätze
führt. Das Nichtwissen um die jeweils eigene Konzeption des Guten macht dort
das Mehrheitsprinzip überflüssig. Der Schleier des Nichtwissens scheint die
Mehrheitsentscheidung zu verdrängen und damit nicht mit dem Grundgesetz ver-
1559 Vgl. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460, 462.
1560 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 103;
Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460, 461; Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 12.
1561 Vgl. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, AöR 127 (2002), 460, 462 mit Verweis auf
Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 12 ff.
382
einbar zu sein. Wie im dritten Teil der Bearbeitung erörtert, knüpft hieran eine
umfassende Kritik der Literatur an. Rawls wird vorgeworfen, dass er den Wert
von Kommunikation, einem Austausch der Meinungen, in seiner Urzustandsbeschreibung außer Acht lasse1562
Wichtig ist es an dieser Stelle jedoch, die verschiedenen Entscheidungsstufen
in Rawls’ Theorie nicht miteinander zu vermischen. Rawls selbst führt aus, dass
der Schleier des Nichtwissens auf der Ebene der Gesetzgebung nicht zwingend
zu einem Konsens führt. Auch vernunftgeleitete Gesetzgeber kommen oft zu verschiedenen Schlüssen, so dass auch unter idealen Bedingungen eine Abstimmung
erfolgen muss.1563 Auf dieser Ebene stehen folglich Mehrheitsprinzip und
Schleier nicht in einem Konkurrenzverhältnis, sondern ergänzen einander. Rawls
zeichnet ein Bild idealer Gesetzgebung, in dem seine Gedankenfigur eine Vorbedingung für eine faire Anwendung des Mehrheitsprinzips darstellt.
c) Rechtfertigung / Grundlagen des Mehrheitsprinzips
Bislang wurde lediglich herausgearbeitet, dass das Mehrheitsprinzip unter dem
Grundgesetz durch weitere Verfahrensregeln ergänzt werden kann. Insbesondere
können ihm Vorbedingungen vorausgeschickt werden. 1564 Der Schleier des Nichtwissens stellt innerhalb von Rawls’ Konzeption eine solche Vorbedingung dar. Zu
überlegen ist nunmehr, ob diese Gedankenfigur und das Mehrheitsprinzip auch
inhaltlich miteinander vereinbar sind. Dies wäre der Fall, wenn der Gedanke
eines unparteiischen Gesetzgebers mit den Grundlagen des Mehrheitsprinzips
kompatibel ist. Zu untersuchen ist also, ob der Kern des »Schleiers« mit den dem
Mehrheitsprinzip zugrunde liegenden Vorstellungen »verträglich« ist. In der Literatur werden vor allem zwei Argumentationsstränge unterschieden, mit deren
Hilfe die Mehrheitsregel gerechtfertigt wird.1565
aa) Vernunft und Mehrheit
Nach einem älteren Begründungsansatz kommt in der Entscheidung der Mehrzahl
ein materielles Vernunftmoment zum Ausdruck. Die Mehrheit hat dieser Auffassung zufolge die Vermutung der größeren Vernunft auf ihrer Seite; sie garantiere
die verhältnismäßig größere Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit, Gerechtigkeit
1562 Vgl. 3. Teil, I, 3., c), cc).
1563 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 393.
1564 Vgl. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich – demokratischen
Grundordnung, JZ 1977, mit Nachtrag abgedruckt in Verfassung als öffentlicher Prozess,
564, 573, 575.
1565 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 104;
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 84 ff.
383
und Angemessenheit der jeweiligen Entscheidung. Mehrheit stehe in dieser Tradition als Synonym für die Annäherung an die Wahrheit. 1566
Gegen eine solche Sichtweise wird jedoch kritisch angeführt, dass die Vorstellung einer auffindbaren objektiven Wahrheit nicht den modernen Gesellschaften
zugrunde liegenden Wert- und Meinungspluralismus entspreche.1567 Dennoch
besteht weiterhin eine Verbindung zwischen Vernunft und Mehrheitsprinzip. So
führt Zippelius aus, es könne erhofft werden, dass der common sense, der in der
Vielzahl der Menschen gesammelt ist, langfristig und aufs große Ganze gesehen
am ehesten zu vernünftigen Entscheidungen gelange. Voraussetzung sei jedoch,
dass die Ansichten der Mehrheit sich in einem offenen Austausch der Argumente
bilden.1568 Bürge der Vernünftigkeit ist für Zippelius nicht allein die Zufallsmehrheit, sondern der Prozess einer offenen Bildung der öffentlichen Meinung.1569
Eine solche Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips beziehungsweise die Verbindung der Mehrheitsregel mit dem Gedanken einer prozeduralen Vernünftigkeit
ist jedoch in hohem Maße mit Rawls’ Konzeption vereinbar. In seinen späteren
Werken betont Rawls das Faktum des vernünftigen Pluralismus, will aber dennoch eine Gerechtigkeitsvorstellung entwickeln, die die Menschen zu einem
gemeinsamen Grundkonsens führt. Insoweit vermittelt seine Theorie zwischen
der Ansicht, dass es in pluralistischen Gesellschaften keinerlei richtig im Sinne
von für alle akzeptable Entscheidungen mehr geben kann, und dem Gedanken
einer objektiv vorfindlichen Wahrheit. Wie gesehen, soll mit dem Schleier des
Nichtwissens gerade das Element der Vernunft Eingang in die Entscheidungssituation finden. So spricht Rawls auch davon, dass in einem idealen Gesetzgebungsverfahren vernunftgeleitete Abgeordnete Entscheidungen treffen.1570 Eine
weitere Aussage von Zippelius weist ebenfalls auf den Gedanken eines unparteiischen Gesetzgebers hin:
»…Das demokratische Prinzip bedarf einer Ergänzung durch Institutionen und
Grundsätze, die dazu dienen, die Entscheidungen der Vernünftigkeit näher zu bringen. Vor allem gilt es, Distanz gegenüber einem konkreten Interessen – Engagement
zu schaffen, das einem vernünftigen und gerechten Interessenausgleich im Wege
steht. Kurz, um eine größtmögliche Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen zu erreichen, müssen diese nach rechtstaatlichen »Spielregeln« und Grundsätzen gefunden werden, und zwar durch Institutionen, die möglichst unparteiisch
entscheiden und deren Rollen so verteilt sind, dass sie sich gegenseitig kontrollieren.« 1571
Legt man diese Ausführungen zugrunde, so stellt der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers eine Vorbedingung dar, die mit dem Mehrheitsprinzip in
1566 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 104;
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 84 ff.
1567 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 105.
1568 Vgl. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 9.
1569 Vgl. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 10.
1570 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 54, 393.
1571 Vgl. Zippelius, Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987, 28.
384
Einklang steht. Der Schleier des Nichtwissens zeigt ein Bild idealer Gesetzgebung auf, in der die Vernünftigkeit und damit eine Qualität von Gesetzen garantiert sind.
bb) Selbstbestimmung und Mehrheit
Nach einem zweiten »moderneren« Rechtfertigungsstrang beruht die demokratische Mehrheitsregel zentral auf dem Gedanken gleicher Selbstbestimmung aller.1572 Wenn das absolut Wahre und Richtige nicht mit letzter Gewissheit aufgefunden und erkannt werden könne, dann solle wenigstens die Mehrheit in Übereinstimmung mit dem eigenen Willen leben.1573 Fundament einer normativen
Rechtfertigung ist dann der Gedanke der Autonomie des Einzelnen. Das Mehrheitsprinzip wird insgesamt als die größtmögliche Annäherung an die Freiheit
und Gleichheit der Staatsbürger begriffen.1574
Ist der Schleier des Nichtwissens mit einem solchen Verständnis des Mehrheitsprinzips vereinbar? Ist Kern einer Selbstbestimmung nicht die Vertretung der
eigenen Interessen im politischen Prozess? Schließen sich die Begriff Teilhabe
und Unparteilichkeit also aus? In Heuns Monographie zum Mehrheitsprinzip findet sich folgende Aussage:
»Die Anerkennung einer Autonomie des Individuums schließt es jedenfalls ein,
dass ihm in jeder Hinsicht auch eine Vertretung eigener Interessen zugebilligt wird
und er nicht auf die Rolle reduziert wird, als Glied des Gesamtkörpers nur an dessen
Gemeinwohl seine Entscheidungen auszurichten.«1575
An dieser Stelle schließt sich der Kreis zur grundsätzlichen Kritik am Schleier des
Nichtwissens. Wie im dritten Teil der Arbeit dargestellt, wird Rawls’ Verständnis
der Person als problematisch empfunden.
So werfen die Kommunitaristen Rawls vor, dass er einen zu weitgehenden
Individualismus verfolge. Er verkenne den konstitutiven Charakter von Gemeinschaftlichkeit. Bezogen auf die Vereinbarkeit mit der Mehrheitsregel, zeigt diese
Kritik jedoch auf, dass Rawls die Autonomie, die unterschiedlichen Ziele und
Lebenspläne der Menschen umfassend berücksichtigt (aus kommunitaristischer
Sicht zu umfassend).
Indem der Schleier des Nichtwissens die verschiedenen Konzeptionen des
Guten ausblendet (der ideale Abgeordnete kennt die unterschiedlichen Positio-
1572 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 104;
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 79 ff.
1573 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 105.
1574 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 105;
Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, JZ 1977, mit Nachtrag abgedruckt in Verfassung als öffentlicher Prozess,
564, 578; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 100.
1575 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 88 Fussnote 43.
385
nen, weiß jedoch nicht, ob es sich um Mehrheits- oder Minderheitspositionen
handelt), schützt er die Vielfalt der Positionen. Aufgrund ihres Nichtwissens werden die Abgeordneten gezwungen, sich umfassend in verschiedene gesellschaftliche Positionen hineinzuversetzen. Der Schleier des Nichtwissens bewirkt eine
unparteiische Haltung und garantiert damit, dass alle denkbaren Individualinteressen im Rahmen des Entscheidungsprozesses gleichermaßen berücksichtigt
werden, an diesem teilhaben.
Für das Verständnis von Teilhabe ist entscheidend, dass dem Grundgesetz eine
Vorstellung von repräsentativer Demokratie zugrunde liegt. An späterer Stelle
wird noch ausführlicher erörtert, inwieweit ein Schleier des Nichtwissens mit der
Abgeordnetenstellung (Art. 38 I S.2 GG) vereinbar erscheint. Hier wird deshalb
der Gedanke der Repräsentation nur kurz angerissen. Eine Demokratie verlangt
nicht zwingend, dass das Volk unmittelbar am Gesetzgebungsprozess beteiligt ist
und jeder Bürger selbst seine jeweils eigenen Interessen vertritt. Unter dem
Grundgesetz erschöpft sich die unmittelbare Teilhabe im Wahlakt; die Interessen
der Bürger werden dann mittelbar vertreten. Die Abgeordneten sind Vertreter des
ganzen Volkes und damit die Sachwalter verschiedenster Interessen (Gesamtrepräsentation). Eine solche Form der Demokratie schließt jedoch eine Unparteilichkeit der Abgeordneten nicht aus. Wie Rawls betont, führt der Schleier des
Nichtwissens gerade dazu, dass die Abgeordneten unvoreingenommen und damit
für alle entscheiden können.1576
Insoweit bildet der Schleier des Nichtwissens eine Forderung ab, die auch in
der öffentlich-rechtlichen Dogmatik an Verfahrensregeln herangetragen wird:
Verfahrensbedingungen sollen einheitsbildend und integrierend wirken. Rawls’
Vorstellung von idealer Gesetzgebung radikalisiert den Gedanken der Integration. Der Schleier des Nichtwissens als Universalisierungsprinzip stellt ein
Instrument dar, mit dessen Hilfe die Interessen aller Personen berücksichtigt werden. Hier ist noch einmal zu betonen: Der Schleier eliminiert die Interessen nicht,
er blendet allein die Zurechnung von Interessen zu einem bestimmten Abgeordneten aus. Die fiktiven Abgeordneten wissen um die unterschiedlichen Bedürfnisse innerhalb der Bevölkerung. Sie wissen nur nicht, in welchem Verhältnis sie
selber zu diesen verschiedenen Zielen stehen. Der Schleier als Gedankenexperiment hebt insofern die Machtverhältnisse zwischen den Abgeordneten in einer
radikalen Form auf. Er soll dem Leser vor Augen führen, dass der alleinige Blick
auf die eigenen individuellen Interessen den Weg für allgemein verträgliche Entscheidungen versperrt. Insgesamt ist der Gedanke eines unparteiischen Gesetzgebers auch dann mit der Mehrheitsregel zu vereinbaren, wenn diese auf den Gedanken Selbstbestimmung einerseits und Integration andererseits zurückgeführt
wird.
1576 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 226.
386
d) Wechselnde Mehrheiten als Schleier des Nichtwissens
Abschließend ist zu überlegen, ob der mögliche Wechsel von Mehrheiten nicht
ebenfalls zu einer Universalisierung beiträgt. Zum einen ist der parlamentarische
Gesetzgeber nur auf Zeit gewählt; die Zusammensetzung im Parlament und damit
die dominierenden Grundinteressen können sich verändern. Zum anderen wechselt je nach Entscheidungsgegenstand möglicherweise die Zusammensetzung der
Mehrheiten. Wie der Länderfinanzausgleich zeigt, gibt es Materien, in denen die
Parteizugehörigkeit in den Hintergrund tritt. Der Begriff der Mehrheit beschreibt
folglich keine feste Gruppierung. Mehrheiten dürfen in einer Demokratie nicht zu
einem unwandelbaren Block gefrieren.1577
Vorbedingung für das Mehrheitsprinzip ist zwar ein Mindestmaß an Homogenität. Ein möglicher Wechsel von Mehrheiten setzt jedoch voraus, dass verschiedene Auffassungen existieren, und ist damit mit einer pluralistischen Gesellschaft
vereinbar.1578 Von einem solchen faktischen Pluralismus geht auch Rawls aus. Die
Vorstellung von flexiblen Mehrheiten könnte dann der Wirkungsweise des
»Schleiers« ähneln.
Sie garantiert zumindest die Chance von Minderheiten, zu Mehrheiten erstarken zu können, und damit eine »schwache« Form der Chancengleichheit.
Schwach deshalb, weil die Untergliederung des Parlaments in Opposition und
Mehrheit sowie in Fraktionen einen dauernden Wechsel von Mehrheiten
erschwert. Wie bereits erörtert, kann auch die Fraktionsdisziplin als ein schwacher Schleier des Nichtwissens verstanden werden, da sie die Abgeordneten
zwingt, sich von ihren eigenen individuellen Interessen zu distanzieren. Sie
erschwert jedoch die Bildung kurzfristiger Mehrheiten über die Fraktionsgrenzen
hinaus.
Die Flexibilität des Parlaments beruht deshalb vor allem auf Neuwahlen und
der damit verbundenen Chance eines Machtwechsels.1579 Diese Diskontinuität
allein garantiert jedoch keine unparteiische Haltung der Abgeordneten. Der
potentielle Wechsel von Mehrheiten verhindert zwar eine Tyrannei der jeweiligen
Mehrheit1580, verwirklicht damit aber nur ein Minimum dessen, was nach Rawls
eine ideale Gesetzgebung auszeichnet. Positiv formuliert, beinhaltet das demokratische Mehrheitsprinzip zwar nicht eine Chancengleichheit aller Interessen
und damit Unparteilichkeit, aber zumindest eine Chancengleichheit von Regierung und Opposition. Es handelt sich bei dieser »Offenheit in zeitlicher Perspektive« ähnlich wie bei Rawls’ Schleier des Nichtwissens um ein Postulat, um eine
1577 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1982, 194.
1578 Vgl. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, JZ 1977, mit Nachtrag abgedruckt in Verfassung als öffentlicher Prozess,
564, 571.
1579 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1982, 196.
1580 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1982, 196.
387
Idealvorstellung.1581 Rawls’ Gedankenfigur stellt eine radikale Form der Universalisierung dar, die zu dem Bild des Abgeordneten als eines Sachverständigen
führt.1582 Das Postulat der wechselnden Mehrheit zielt hingegen »nur« darauf ab,
der Regierungsmehrheit ihre »Sterblichkeit« vor Augen zu führen.
8. Gleichheit(sgrundsatz) als Quelle für Unparteilichkeit
Bislang wurde vor allem versucht zu verdeutlichen, dass das Ideal der Unparteilichkeit dem Grundgesetz nicht widerspricht. Nunmehr soll der Standpunkt gewechselt und abschließend erörtert werden, ob nicht der Gleichheitsgrundsatz
eine Legitimationsquelle für Rawls’ Schleier des Nichtwissens darstellen kann.
Grundsätzlich wird in der öffentlich-rechtlichen Literatur bejaht, dass Grundrechte als Organisationsmaximen und Verfahrensgarantien Wirkung entfalten
können.1583 In der Literatur wird (wenn auch nur vereinzelt) eine Verwandtschaft
zwischen Gleichheit und Unparteilichkeit angenommen. Unparteilichkeit wird
dann als eine verstärkte, eine grundlegendere Form der Gleichbehandlung verstanden.1584
Das Grundgesetz stellt unbestritten eine Minimalforderung an Gleichheit im
Hinblick auf die Legislative auf.1585 So verlangt der Gleichheitsgrundsatz ein gleiches Stimmrecht für die Staatsbürger (»one man one vote«). Eine solche formale
Gleichheit wird unter dem Grundgesetz mit der Wahlrechtsgleichheit und dem
dort geltenden personalisierten Verhältniswahlrecht garantiert. Innerhalb des Parlaments wiederum wird der Gleichheitsgrundsatz durch das Zusammenwirken
von Repräsentation und Mehrheitsprinzip verwirklicht.
Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren ist dann Sinnbild
für eine umfassendere Form der Gleichheit. Er führt zu einer symmetrischen Entscheidungssituation, die fiktiven Abgeordneten verlieren etwaige Verhandlungsvorteile/Machtpositionen. Ein derart unparteiisches Parlament garantiert eine
Gleichbehandlung aller in der Bevölkerung vertretenen Interessen und damit eine
ethische Gleichheit. Denn die aufeinander treffenden Interessen verlieren ihre
Einstufung als Mehrheits- oder Minderheitspositionen. Sie müssen gleicherma-
ßen geprüft, berücksichtigt, hinterfragt werden.
1581 Vgl. Dreier, Majoritätsprinzip im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 1986, 94, 107;
Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1982, 194, 198.
1582 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt, 54, 394.
1583 Vgl. v. Münch, Staatsrecht II, 5. Auflage, 2002, Rn. 173 mit Verweis auf Bergner, Grundrechtsschutz durch Verfahren, 1998; Betghe, Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, 1 ff.; Huber, Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren als Kompetenzproblem in der Gewaltenteilung
und im Bundesstaat, 1988.
1584 Vgl. Frankfurt, Gleichheit und Achtung, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999),
3, 9; Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, 366, 375.
1585 Vgl. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, 96.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.