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einzelnen Menschen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis und müssen von
dem Gesetzgeber in gleicher Weise berücksichtigt beziehungsweise geschützt
werden. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, neutrale beziehungsweise formale
Gesetze zu schaffen, die Gefahren für die äußere Freiheit abwenden.
3. Zwischenergebnis
Wenngleich bei Thomas von Aquin an der Spitze seiner Gesetzeshierarchie noch
die Vernunft beziehungsweise Weisheit Gottes steht, so gewinnt bei ihm der
Mensch schon die Stellung eines zweiten Gesetzgebers. Die menschliche Gesetzgebung wird nicht mehr an das Sonderwissen einzelner Personen, sondern an die
Vernunftbegabung an sich gekoppelt. Diese Linie wird bei Kant noch deutlicher,
es gibt bei ihm keinen übergeordneten gottähnlichen Gesetzgeber mehr. Mit Hilfe
der Vernunft kann vielmehr jeder Mensch gesetzgeberische Entscheidungen treffen. Folgt man der Auffassung, dass der kategorische Imperativ ein Gebot des
Handelns ist, das sowohl für die Rechts- als auch für die Tugendlehre gilt, so stellt
Kant an den Gesetzgeber sittliche Anforderungen. Das Rechtsgesetz stellt dann
ein Abbild des kategorischen Imperativs dar. Im Gegensatz zum Utilitarismus
lehnt Kant es jedoch ab, den Gesetzgeber bei seiner Aufgabe auf die Glückseligkeit der Menschen zu verpflichten. Ein solcher individueller und erfahrungsabhängiger Zweck kann mit dem Recht für ihn nicht verfolgt werden.202
III. Gesetzgebung und der unparteiische Beobachter
Bei einer Reihe von Philosophen besitzen Menschen die Fähigkeit, im Rahmen
von Entscheidungen eine Beobachterposition einzunehmen. Hier scheinen auf
den ersten Blick die Gedanken von Rousseau aufgegriffen zu werden. Wie gezeigt, ergibt sich die Beobachterposition des Legislateurs aus zwei Gesichtspunkten: Erstens besitzt der Legislateur nur ein Vorschlagsrecht, sein Amt wird auch
nicht Bestandteil der Verfassung. Er kann quasi nur von außen auf die verfassungsgebende Versammlung einwirken. Zweitens zeichnet er sich durch eine altruistische Haltung aus. Er kennt die Bedürfnisse der Menschen, ohne selbst eigene Bedürfnisse zu besitzen. Somit kann er die Interessen aller Menschen von
einem neutralen Standpunkt betrachten.
Das folgende Bild des Gesetzgebers knüpft an die zweite Überlegung Rousseaus an. Ausgangspunkt für die Philosophen ist die Frage, wie Menschen moralische Entscheidungen treffen. Für sie wird das Entscheidungsverhalten grundsätzlich dadurch geprägt, dass jeder Mensch über die Fähigkeit verfügt, eine
202 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Ludwig Ausgabe, 12; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1993, 99.
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.