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3. Die Figur des inneren Gesetzgebungsverfahrens
Die Figur eines inneren Gesetzgebungsverfahrens wurde vor allem von Schwerdtfeger in die öffentlich-rechtliche Diskussion eingeführt.912 In seinem grundlegenden Aufsatz von 1977 definiert er das innere Gesetzgebungsverfahren als die Methodik der Entscheidungsfindung. Er skizziert den Weg zur Entscheidung als einen mehrstufigen Prozess: Der Gesetzgeber habe:
eine Heranziehungspflicht: Er müsse die einschlägigen Fakten, Interessen,
Gesichtspunkte vollständig und mit dem richtigen Inhalt heranziehen.
eine Aufbereitungspflicht: Er müsse dieses Material aufbereiten, indem er den
bisherigen Zustand analysiere und denkbare Ziele entwickele.
eine Abwägungspflicht: Er müsse die verschiedenen Lösungsalternativen in
ihrem Für und Wider politisch wertend gegeneinander abwägen.
Schwerdtfeger entwickelt folglich zusätzliche Verfahrensbindungen für die Art
und Weise der Gesetzgebung. Diese fasst er unter den Oberbegriff des inneren
Gesetzgebungsverfahrens zusammen. Der von ihm dargestellte Entscheidungsprozess ähnelt sichtlich dem Planungsvorgang innerhalb der Bauleitplanung. Auf
dieses Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht ist an anderer
Stelle noch vertieft einzugehen. Festzuhalten bleibt hier, dass Schwerdtfeger auf
Gedanken der Bauleitplanung zurückgreift und Parallelen zwischen der Abwägung auf der Ebene des Verwaltungsrechts und dem Entscheidungsermessen des
Gesetzgebers zieht. 913
Die Gedanken von Schwerdtfeger wurden in der Literatur rezipiert. Hierbei
wurde der Begriff des inneren Gesetzgebungsverfahrens weiter konturiert und
umschrieben. Das innere Gesetzgebungsverfahren versuche, den dynamischen
Prozess der Entscheidungsfindung unter dem Gesichtspunkt der Rationalität neu
zu ordnen.914 Es bilde den Gedanken von materieller Verfahrensgerechtigkeit im
Gesetzgebungsprozess ab.915 Gleichzeitig verdeutliche es die Pflicht des Gesetzgebers zu intensivem Nachdenken.916 Die Vorstellung eines Abwägungsgebots für
die Legislative wird jedoch auch kritisiert; diese Verfahrensanforderung sei zu
vieldeutig, zu wenig scharf eingegrenzt.917
912 Vgl. Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS für
Hans Peter Ipsen 1977, 173 ff.
913 Vgl. Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS für
Hans Peter Ipsen 1977, 173 ff.
914 Vgl. Hill, Einführung in die Gesetzgebung, 1982, 63 ff.
915 Vgl. Bottke, Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit, 1991, 73.
916 Vgl. Hoffmann, Das verfassungsrechtliche Gebot der Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, 97, 109.
917 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 832.
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4. Charakter des inneren Gesetzgebungsverfahrens
Kontrovers diskutiert wurde in der Vergangenheit vor allem, welchen Charakter
das innere Gesetzgebungsverfahren besitzt. Wie diese Figur dogmatisch eingeordnet werden kann, ist innerhalb der öffentlich-rechtlichen Literatur unklar und
wird als problematisch empfunden.918 Kernfrage ist, ob sich derartige Verfahrensanforderungen über Art. 76 ff. GG aus dem Grundgesetz ableiten lassen und
hierdurch den Charakter einer Rechtspflicht erhalten. Drei verschiedene Positionen können in der Literatur unterschieden werden:
a) Politische Ethik
Ein Teil der Literatur ordnet die Überlegungen zu einem inneren Gesetzgebungsverfahren als Teil einer politischen Ethik ein. Es handele sich um bloße »Klugheitsgebote«. Synonym werden auch die Bezeichnungen Tugendgebote919 und
Vernunftgebote verwandt. Eine Methodik der Entscheidungsfindung lasse sich
nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz beziehungsweise aus Verfassungsgrundsätzen ableiten. Die aufgestellten zusätzlichen Verfahrensanforderungen stellten
folglich keine rechtlichen Verpflichtungen für den Gesetzgeber dar.920 Der Gesetzgeber schulde nichts als das »fertige« Gesetz.921
918 Vgl. Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht,
in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, 81, 83; Mengel, Gesetzgebung
und Verfahren, 1997, 331, 335; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, 874.
919 Vgl. Merten, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht,
in: Hill, Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, 1988, 81, 92; Gusy, Das Grundgesetz
als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291, 298.
920 Vgl. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291 ff.; Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtsetzung, in:
Schäffer Theorie der Rechtsetzung, 1988, 11, 28; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, 6. Auflage, 2004, 364; Schneider/Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung
zwischen Rationalität, Transparenz und Politik, NVwZ 2000, 841, 844. In diese Richtung
auch Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG Sonderheft 2003, 71, der Gesetzgebungsrichtlinien ausarbeiten will, die ohne sanktionsbewehrte Rechtsverbindlichkeit als Checkliste für
die Anforderungen an gute Gesetzgebung fungieren.
921 Vgl. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre, ZRP 1985, 291, 298;
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Auflage, 2004, 376.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.