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5. Teil:
Länderfinanzausgleich als Spezialfall der Gesetzgebung
Im vorherigen Kapitel wurden die klassische Kontroverse um den Gesetzesbegriff und die aktuellen Bemühungen um Wege zu besserer Gesetzgebung erörtert.
Die Betrachtung erfolgte hierbei losgelöst von einer bestimmten Gesetzgebungsmaterie. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist jedoch ein Urteil zum Finanzausgleich. Deshalb ist zu überlegen, in welchem Verhältnis Gesetzgebungswissenschaft und Finanzverfassungsrecht zueinander stehen. Die Art. 106, 107
GG enthalten Gesetzgebungsaufträge. Stellt deren Umsetzung möglicherweise
einen Sonderfall dar? Stimmt die Finanzgesetzgebung mit der »normalen Gesetzgebung« überein oder kommt es zu Abweichungen?
Basis der folgenden Ausführungen sind Literatur und Rechtsprechung bis zum
Maßstäbe-Urteil. Ziel ist es, mögliche Besonderheiten des Finanzausgleichs im
Hinblick auf die Gesetzgebung zu diskutieren. Der Aufbau ähnelt bewusst dem
vorangegangenen Kapitel der Untersuchung. Zentrale Unterpunkte sind demnach
Gesetzesbegriff, Gesetzgebungsverfahren und die Vorstellung einer guten
Gesetzgebung.
Im Rahmen des Finanzausgleichs werden die Einnahmen zwischen Bund und
Ländern verteilt. Es soll eine angemessene Finanzausstattung gewährleistet werden, damit die Bundesländer die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen können. Der Finanzausgleich konkretisiert das Bundesstaatsprinzip, er ist eng mit diesem verzahnt. Wie bereits in der Urteilsanalyse angesprochen, teilt sich der Finanzausgleich in vier Stufen auf, die in den Art. 106, 107
GG normiert sind.1165 Die einzelnen Ebenen wiederum enthalten Aufträge an den
einfachen Bundesgesetzgeber.
Im Folgenden wird vor allem die dritte Stufe genauer betrachtet: der sekundäre
horizontale Finanzausgleich. In der Finanzverfassung ist er in Art. 107 II S. 1 GG
zu verorten. Diese Ebene des Länderfinanzausgleichs birgt ein besonders hohes
Konfliktpotential.1166 Dem Bundesgesetzgeber wird die Aufgabe zugewiesen, die
unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen. Bis zum
Maßstäbe-Urteil wurde dieser Gesetzgebungsauftrag durch das Finanzausgleichsgesetz (FAG) umgesetzt.
Der Bundesgesetzgeber hat, wie sich aus der Verfassungsnorm ergibt, Umverteilungen vorzunehmen. Betroffene beziehungsweise direkte Adressaten der
Umverteilung sind nicht die einzelnen Bürger, sondern die Bundesländer. Nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Bund hierbei einen
1165 Vgl. Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 3, 4. Auflage,
2001, Art. 106 Rn. 3; Art. 107 Rn. 20.
1166 Vgl. so auch Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, 79, 81.
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Ausgleich zwischen zwei Extrempositionen herstellen: Einerseits besitzt jedes
Bundesland Souveränität und damit auch Finanzautonomie, andererseits bilden
die Bundesländer dennoch eine Einheit und dadurch auch eine finanzielle
Ertrags- und Gefahrengemeinschaft.1167
Die Entscheidungssituation kann insgesamt wie folgt charakterisiert werden:
Es besteht eine unterschiedliche Finanzkraft der Bundesländer. Durch das Grundgesetz wird dem Bundesgesetzgeber aufgetragen, diese Unterschiede zu verringern, jedoch nicht zu nivellieren1168. Der Finanzausgleich ist Teil des demokratischen Bundesstaates. Die bundesstaatliche Ordnung wiederum sichert auch die
Eigenständigkeit der Bundesländer. Das föderalistische System fordert insoweit
bei der Verteilungsentscheidung über die Finanzen nur ein »begrenzt« solidarisches Verhalten der Länder. Es soll eine Regelung getroffen werden, die allen
Ländern eine finanzielle Mindestausstattung sichert und damit Stabilität gewährleistet.1169
Die Verteilungssituation ist einerseits durch eine Interessenharmonie geprägt.
Wenn die finanzielle Differenz zwischen den Ländern zu groß wird, bricht der
Bundesstaat als Organisationseinheit auseinander. Andererseits besteht jedoch
gleichzeitig ein Interessenkonflikt, da die finanzstarken Länder ihren Ertrag nicht
»verlieren« wollen. Es handelt sich bei der Umverteilung um ein Nullsummenspiel1170; vorteilhafte Regelungen für die finanzschwachen Länder belasten die
finanzstarken Länder und umgekehrt.
I. Gesetz als Handlungsform im Länderfinanzausgleich
In Art. 107 II S. 1 GG wird der Bundesgesetzgeber beauftragt, durch das Gesetz
sicherzustellen, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen
ausgeglichen wird. Hierbei bezieht sich die Formulierung »das Gesetz« auf Art.
107 I S. 4 GG. Der Wortlaut von Art. 107 II GG spricht folglich dafür, dass eine
1167 Vgl. BVerfGE 72, 330 (386); BVerfGE 86, 148 (214).
1168 Vgl. grundlegend BVerfGE 1, 117, (134).
1169 Innerhalb der vorliegenden Arbeit kann nicht vertieft auf die allgemeine bundesstaatstheoretische Auseinandersetzung eingegangen werden, ob der Gedanke des sog. kooperativen
Föderalismus nicht durch die Idee eines Konkurrenzföderalismus abgelöst werden sollte.
Diskutiert wird, ob den Ländern nicht eine möglichst weitgehende finanzielle Autonomie
mit allen damit verbundenen Chancen und Risiken eingeräumt werden sollte. Vgl. hierzu
mit Blick auf eine mögliche Reform der Finanzverfassung Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, 30 ff. mit weiteren Nachweisen. Für eine Reform der Finanzverfassung
spricht sich im Zusammenhang mit dem Maßstäbe – Urteil auch Hanebeck aus, vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, 341 (»Finanzverfassung
als Fehlkonstruktion«).
1170 Vgl. hierzu auch Wendt, in: HStR Band IV, 1990, § 104 Rn. 74, der davon spricht, dass
der horizontale Finanzausgleich die leistungsstarken Länder zu einer »Abgabe aus Eigenem« zwinge. Diese Formulierung findet sich ebenfalls in BVerfGE 72, 330 (386).
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Umverteilung nur auf Basis dieser Handlungsform erfolgen kann. Der Bundesgesetzgeber wird hierzu ausdrücklich angehalten.
1. Zwingender Gesetzgebungsauftrag nach Art. 107 II S.1 GG
Dennoch wird in der älteren Literatur kontrovers diskutiert, ob der Erlass eines
solchen umverteilenden Gesetzes zwingend erforderlich sei. Ein Teil der Literatur ist der Ansicht, dass der Bundesgesetzgeber durch Art. 107 II GG nicht zu einem Finanzausgleichsgesetz, sondern nur auf einen Finanzausgleichserfolg verpflichtet sei.1171 Ein ausgeglichenes Finanzniveau im Verhältnis der Länder könne
sich jedoch bereits nach der zweiten Stufe des Finanzausgleichs ergeben (Art. 107
I GG). Nur wenn auf dieser vorherigen Ebene noch kein solcher Ausgleich erzielt
wurde, müsse der Gesetzgeber ein umverteilendes Gesetz erlassen. Andere Stimmen hingegen halten ein solches Gesetz für zwingend.1172
Innerhalb dieser Kontroverse wird jedoch nicht das Gesetz als Handlungsform
in Frage gestellt. Denn es wird nur diskutiert, ob der Gesetzgeber zwingend handeln muss (übertragen auf das Verwaltungsrecht, könnte man an Opportunitätsund Legalitätsprinzip als verwandte Begriffe denken). Nicht erörtert wird hingegen, ob das Wie der Umverteilung auch in einer anderen Handlungsform erfolgen
könnte. Vielmehr scheint es im Rahmen dieser Auseinandersetzung selbstverständlich zu sein, dass der Länderfinanzausgleich nach Art. 107 II GG allein
durch Gesetz erfolgen kann. Strittig ist nur, ob dieses Gesetz einen obligatorischen oder fakultativen Charakter besitzt.
2. Gesetz als zwingende Handlungsform
Diese Auseinandersetzung wird von anderen Stimmen in der Literatur aufgegriffen und weiterentwickelt. Wenn Art. 107 II GG eine final strukturierte Norm darstelle, könne die Handlungsform Gesetz möglicherweise auch durch einen Finanzausgleichsvertrag ersetzt werden.1173 Aufgegriffen wird hierbei die Überlegung, dass auf der dritten Stufe des Finanzausgleichs der Ausgleichserfolg (angemessene Finanzausstattung) und weniger das Ausgleichsmittel (Gesetz) entscheidend sei. Eine Wahlmöglichkeit im Hinblick auf die Form der Einigung deu-
1171 Vgl. Hanebeck, Der demokratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, 332; Vogel/
Kirchhof, in: Bonner Kommentar, Art. 107 (Zweitbearbeitung, Stand Juni 1971) Rn. 142.
Weitere Nachweise auch bei Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern,
1997, 156 Fussnote.
1172 Vgl. Fischer-Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG – Kommentar, Band 3, 3. Auflage,
1996, Art. 107 Rn. 14 (»obligatorisches Verfahren«); Maunz in: Maunz/Dürig GG Kommentar, 21 Lfg., 1984, Art. 107 Rn. 47.
1173 Vgl. in diese Richtung Stern, Staatsrecht Band II, 1980, 1173; Voss, Der Verfassungsvertrag Finanzaugleich nach Art. 107 II GG, BayVBl. 1986, 326, 329.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.