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Gesetzgeber erkennt, dass es verschiedene Positionen in der Gesellschaft gibt.
Der Gesetzgeber muss sich darüber hinaus in die verschiedenen Positionen hineinversetzen. Er muss sich ganz von sich selbst entfernen können, eine vollständige Distanz zu seiner eigenen Konzeption des Guten einnehmen. Dies geschieht
mit Hilfe des »Schleiers des Nichtwissens«. Der »Schleier« als Verfahrensbedingung garantiert eine unparteiische Gesetzgebung.
Rawls bewirkt folglich mit der Figur des Schleiers eine tiefer gehende Form
der Gleichheit. Er knüpft hierbei zumindest in seinem Grundwerk an den Autonomiebegriff von Kant an.1396 Mit Hilfe des Schleiers zeigen die Menschen ihre
Freiheit, ihre Unabhängigkeit von natürlichen und gesellschaftlichen Zufälligkeiten.1397 Es entsteht eine »ethische Gleichheit« der Menschen.
b) Materielle Allgemeinheit
Insofern besteht eine Ähnlichkeit zu dem Verständnis von Allgemeinheit als materieller Allgemeinheit. Wie dargestellt, definiert Starck ein materiell allgemeines
Gesetz als ein Gesetz, das Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger zum Maßstab
hat und diese Werte aktualisiert.1398 Genau diese Funktion hat der Schleier des
Nichtwissens bei Rawls; er garantiert erst die Freiheit und Gleichheit innerhalb
der Entscheidungssituationen Urzustand, Verfassungsgebung und Gesetzgebung.
Jedoch ist der Schleier des Nichtwissens kein Bestandteil eines Gesetzesbegriffes, sondern eine Verfahrensbedingung. Rawls integriert den Gedanken der
Allgemeinheit in das Entscheidungsverfahren selbst und trägt ihn nicht als ein
Definitionsmerkmal an das Ergebnis heran. Insgesamt liegt dem Schleier des
Nichtwissens eine Form prozeduraler Allgemeinheit1399 zugrunde. Die Idee materieller Allgemeinheit (= Freiheit und Gleichheit als übergeordnete Maßstäbe für
den Gesetzgeber) wird in das Verfahren der Gesetzeserzeugung integriert.
4. Bezugspunkt Vier-Stufen-Gang
Wie an anderer Stelle bereits erörtert, setzen materiell allgemeine Gesetze eine
Vorstellung vom Gemeinwohl voraus. Sie sollen sich an allgemein akzeptierten
Werten orientieren und diese verwirklichen. Eine solche Übereinstimmung
scheint jedoch nicht Ausgangspunkt für Rawls’ Überlegungen zu sein. Insbesondere in seinen Folgewerken wird deutlich, dass er von einem vernünftigen Plura-
1396 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 40, 283.
1397 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 40, 288.
1398 Vgl. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, 314 (Thesen).
1399 Vgl. Ralf Dreier, Diskussion zur Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, 76.
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lismus in der Gesellschaft ausgeht. Seine Gerechtigkeitskonzeption soll erst bewirken, dass die Menschen zu einem übergreifenden Konsens gelangen.1400
Im Hinblick auf die Gesetzgebung könnte jedoch überlegt werden, ob nicht die
Gerechtigkeitsgrundsätze einen übergeordneten Maßstab darstellen. Fordert
Rawls nicht doch materiell allgemeine Gesetze, wenn er die Legislative im Rahmen des Vier – Stufen – Ganges an die Gerechtigkeitsgrundsätze bindet? Hierfür
könnte sprechen, dass Rawls keine rein prozedurale Gerechtigkeitstheorie entwirft. Seine Gerechtigkeitsgrundsätze beinhalten substantielle Werte. Wie an
anderer Stelle schon ausgeführt, beruht die Liste der wählbaren Grundsätze auf
Tradition, auf dem Gedankengut moderner westlicher Demokratien.
Rawls führt jedoch gleichzeitig aus, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze
Unschärfen aufweisen. Insbesondere im Hinblick auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz besteht die Schwierigkeit darin, dass auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik wohlbegründete Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Die genaue Anwendung des Unterschiedsprinzips erfordert gewöhnlich mehr
Kenntnisse, als man sich erhoffen kann.1401 In diesem Bereich ist deshalb oftmals
die Vorstellung einer fast reinen Verfahrensgerechtigkeit entscheidend: Gesetze
und Programme sind gerecht, falls sie in den zulässigen Rahmen fallen und
gemäß einer gerechten Verfassung gesetzgeberisch in Kraft gesetzt worden
sind.1402
Dies bedeutet jedoch, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze zwar auch einen
inhaltlichen Maßstab darstellen, aufgrund ihrer Unbestimmtheit dennoch nur
einen Rahmencharakter besitzen. Rawls spricht deshalb nicht von einem materiell allgemeinen Gesetz, das die Gerechtigkeitsgrundsätze verwirklichen soll.
Stattdessen steht mit dem Schleier des Nichtwissens eine prozedurale und
zugleich ethische Allgemeinheit im Vordergrund. Der Schleier garantiert auch auf
der Ebene der einfachen Gesetzgebung eine Entscheidungsfindung, die zu einem
Gesetz führt, das mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen konform ist.
5. Zwischenergebnis
Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Es besteht ein Bezug der Rawlsschen
Konzeption zum Postulat der Allgemeinheit. Rawls beschäftigt sich jedoch vor
allem mit einer besonderen Schicht der Allgemeinheit1403, der Frage nach Verallgemeinerungsfähigkeit1404. Er setzt sich nicht intensiv mit dem Gesetzesbegriff
oder dessen Merkmalen auseinander.
1400 Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 219 ff.
1401 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 227.
1402 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 229.
1403 Vgl Starck, Stichwort »Gesetz« in: Staatslexikon, Band 2, 1986, Sp. 995.
1404 Vgl. grundlegend Singer, Verallgemeinerung in der Ethik, 1975; Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 1980.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.