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der an zwei Ausgangspunkten beginnt. Diese Ausgangspunkte selbst liegen nicht
dauerhaft fest, sondern können sich innerhalb des Prozesses verändern.314
d) Zwischenergebnis
Schon bei der Betrachtung des von Rawls beschriebenen Urzustandes wird deutlich, dass er mit seiner Theorie einer Gerechtigkeit als Fairness möglicherweise
einen neuen Weg in der Philosophiegeschichte aufzeigt. Auf den ersten Blick
scheint er auf die Theorie des Gesellschaftsvertrages zurückzugreifen. Jedoch
setzt er dieses kontraktualistische Argument ein, um ein anderes Ziel zu rechtfertigen. Er will Verteilungskonflikte innerhalb bestehender Gesellschaften auflösen. Mit Hilfe von gerechten Grundsätzen will er auf die Arbeitsweise von bereits
bestehenden gesellschaftlichen Institutionen einwirken. Diese veränderte Zielsetzung bewirkt, dass seine Argumentation inhaltlich von dem klassischen Kontraktualismus abweicht. Sein Urzustand unterscheidet sich von bisherigen Beschreibungen in der Philosophiegeschichte. Eine Distanz zu früheren Vertragstheoretikern entsteht insbesondere dadurch, dass Rawls das konstruktivistische Element
der Argumentationsfigur »Gesellschaftsvertrag« bewusst offen legt. Er zeigt auf,
dass die Bedingungen des Urzustandes auf ein bestimmtes Ergebnis hin konstruiert werden. Gleichzeitig führt er mit dem Begriff des Überlegungsgleichgewichts ein neues Rechtfertigungselement ein. Sein Bild der Ausgangssituation
wird dadurch legitimiert, dass die Menschen in einem dynamischen Denkprozess
ebenfalls zu gerade dieser Urzustandsbeschreibung gelangen würden. Rawls
nimmt folglich in Anspruch, dass seine Beschreibung unseren intuitiven Vorstellungen einer Ausgangssituation nahe kommt.
3. Die Figur des Schleiers des Nichtwissens
Nachdem der Urzustand als ein Kernstück der Theorie von John Rawls aufgezeigt
wurde, stellt sich die Frage, welche Verbindung zwischen dem Schleier des
Nichtwissens und dem Urzustand besteht. Die Antwort fällt zunächst leicht; der
Schleier ist eine der Verfahrensbedingungen, die Rawls aufstellt. Die Aufgabe
dieser Gedankenfigur besteht darin, die Wirkung von Zufälligkeiten zu beseitigen. Mit Hilfe des Schleiers des Nichtwissens will Rawls die Gleichheit der Entscheidungsträger gewährleisten. Die Beteiligten sollen sich bei ihren Überlegungen alle in der gleichen Situation befinden und ihre Wahl allein an allgemeinen
Gesichtspunkten ausrichten. Es soll die Gefahr ausgeschlossen werden, dass sich
die Parteien bei der Entscheidung von individuellen Vorteilen leiten lassen.315
314 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 59; Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, 284 ff.
315 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
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In Teilen der Literatur wird der Schleier des Nichtwissens als das wichtigste
Element des Urzustandes angesehen.316 Die Fairness der Ausgangssituation
werde gerade durch den Schleier des Nichtwissens garantiert.317 Andere Stimmen
hingegen sind der Ansicht, dass der Stellenwert dieser Figur überschätzt werde.
Der Schleier diene lediglich der Illustration. Die entscheidende Frage sei vielmehr, von welcher Vorstellung der Person bei Problemen gesellschaftlicher
Gerechtigkeit auszugehen sei.318 Der Schleier veranschauliche nur tiefer liegende
moralische Überlegungen.319
Es zeigt sich also, dass die Bedeutung dieser Figur in der Rawls-Rezeption
kontrovers diskutiert wird. Um die unterschiedliche Einordnung nachvollziehen
zu können, ist es notwendig, sich genauer mit dieser faszinierenden Verfahrensbedingung zu beschäftigen. Der Schleier des Nichtwissens hat zahlreiche Stellungnahmen, Anmerkungen und Kritik hervorgerufen. Er ist innerhalb der Philosophie sehr schnell zu einer berühmten, aber auch umstrittenen Figur geworden.
a) Schleier und ausgeblendetes Wissen
Noch nicht beantwortet wurde bislang die zentrale Frage: Wie funktioniert der
Schleier des Nichtwissens bei Rawls? Eine erste und noch sehr pauschale Antwort lautet: Er bewirkt, dass den Menschen im Urzustand bestimmte Arten von
Tatsachen unbekannt sind. Sie müssen Verteilungsgrundsätze wählen, ohne zu
wissen, wie sich die verschiedenen Wahlmöglichkeiten auf ihre Interessen auswirken. Die in Betracht kommenden Grundsätze können sie allein unter allgemeinen Gesichtspunkten beurteilen. Der Schleier beschränkt die Menge an Informationen, die den Menschen im Urzustand zur Verfügung steht. Diese Bedingung
des Urzustandes soll garantieren, dass Gerechtigkeitsprinzipien gewählt werden,
die kein Individuum oder eine Gruppe bevorzugen.320
aa) Differenzierung nach Art des Wissens
Der Schleier senkt sich jedoch nicht willkürlich über die Parteien des Urzustandes. Er schließt vielmehr nur bestimmtes Wissen aus. Es ist nicht die Absicht von
Rawls, die Menschen in einen »vorneuzeitlichen« Wissensstand zurückzuverset-
316 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 42.
317 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 43, 44.
318 Vgl. Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, 1989, 369.
319 Vgl. Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, 1989, 392.
320 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159; Corlett, Does ambiguity lurk behind the veil of ignorance in Rawls’ Original Position?, in: Corlett, Equality and liberty: Analyzing Rawls and
Nozick, 1991, 176.
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zen. Der Schleier des Nichtwissens soll vielmehr Zufälligkeiten ausschalten.321 Er
soll den Einfluss persönlicher Interessen und Bedürfnisse der Vertragsparteien
zurückdrängen und dadurch Universalität sicherstellen.322
Es muss folglich genau differenziert werden, welche Art von Wissen durch den
Schleier verdeckt wird und welche Art von Wissen nicht unter diese »gedankliche
Informationssperre« fällt.323 Rawls unterscheidet drei Arten von Tatsachen: die
ersten Grundsätze sozialwissenschaftlicher Theorien und ihre Folgerungen, die
allgemeinen Tatsachen bezüglich einer Gesellschaft und die Einzeltatsachen über
Menschen.324
aaa) Einzeltatsachen
Durch den Schleier des Nichtwissens kennt im Urzustand niemand sein Alter, seinen Status, seine natürlichen Gaben, seine Psyche. Auch haben die Parteien keine
Kenntnis über ihre jeweilige Konzeption des Guten. Sie haben keine Vorstellung
über ihren eigenen Lebensplan. Sie wissen nur, dass sie später, also nach Einigung
und Wegfall des Schleiers, unterschiedliche Lebenspläne besitzen werden.325
Auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation wird ausgeblendet.326
Die Einzeltatsachen, die die Identität einer Person ausmachen, werden vollständig verdeckt. Es gibt im Urzustand kein persönliches Wissen und damit keine individuelle Sichtweise. Der Schleier lässt kein Wissen über sich selbst zu.
bbb) Tatsachen bezüglich der Gesellschaft
Die Parteien haben ebenfalls kein Wissen über den besonderen Charakter der Gesellschaft, der sie angehören. Der Schleier des Nichtwissens verdeckt die Kenntnisse über die wirtschaftliche und politische Lage, den Entwicklungsstand ihrer
Kultur und ihrer Zivilisation.327 Auch dieses Wissen könnte zu Interessengegensätzen führen und die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze verfälschen. Innerhalb
des Urzustandes soll eine Einigung erzielt werden, die auf jede Form der Gesellschaft anwendbar ist. Auch ist das Wissen über die Zugehörigkeit zu einer be-
321 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
322 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 86.
323 Vgl. Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in: Blocker/Smith, 1980,
42, 54.
324 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 31, 228.
325 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 60, 433 ff, hier setzt sich Rawls umfassend mit der »Theorie
des Guten« auseinander.
326 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160
327 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 160.
99
stimmten Gesellschaft eng mit dem persönlichen Wissen verbunden.328 Hätten die
Parteien Kenntnisse über den Zivilisationsgrad ihrer Gesellschaft, so könnten sie
Rückschlüsse auf ihre eigene Persönlichkeit ziehen. Der Urzustand wäre nicht
länger ein ahistorischer Zustand, sondern könnte nur noch als Argumentationsfigur für bestimmte Gesellschaftsformen herangezogen werden.
ccc) Allgemeine Tatsachen
Nicht ausgeschlossen hingegen wird das Wissen über menschliche Gesellschaften an sich. Die Parteien haben einen Alltagsverstand und Kenntnisse über politische Fragen, Grundzüge der Wirtschaftstheorie, Grundfragen der gesellschaftlichen Organisation und die Gesetze der Psychologie des Menschen. Der Schleier
des Nichtwissens wird nicht auf Strukturwissen, auf abstrakte Gesetze und Theorien angewandt.329
Insgesamt legt sich im Urzustand ein sehr dichter Schleier über die Menschen.
Rawls scheint hohe Anforderungen an die Objektivität der Entscheidungssituation zu stellen.330 Auf den ersten Blick stellt sich die Frage, wie die Parteien sich
innerhalb dieses weitreichenden Informationsdefizits überhaupt für bestimmte
Gerechtigkeitsgrundsätze entscheiden können. Wie soeben dargestellt, besitzen
sie nur allgemeines empirisches Wissen, kennen jedoch ihre individuellen
Lebenspläne nicht. Wie können sie dann beurteilen, welche Gerechtigkeitsgrundsätze für sie in Zukunft vorteilhaft sind?
Diesen möglichen Einwand hat Rawls vorausgesehen. Er kompensiert das fehlende persönliche Wissen dadurch, dass er in seine Konzeption eine Theorie der
Grundgüter einfügt. Auch wenn Parteien ihre individuellen Ziele nicht kennen, so
versuchen sie, eine Vereinbarung zu treffen, die jedem möglichst viele gesellschaftliche Grundgüter sichert.331 Unter den Begriff der gesellschaftlichen
Grundgüter fallen hierbei Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen.332
Rawls rechtfertigt diese Zielsetzung der Menschen im Urzustand mit folgender
Überlegung: Stellt sich nach Aufhebung des Schleiers des Nichtwissens heraus,
dass ich als Individuum kein Interesse an bestimmten Grundgütern habe, kann ich
unproblematisch auf sie verzichten. Wird jedoch im Urzustand eine Vereinbarung
getroffen, die Freiheiten wie zum Beispiel die Versammlungsfreiheit nicht umfassend schützt und bin ich als Individuum später gerade auf diese Freiheit angewiesen, kann ich die »Lücke« für meine eigenen Pläne nicht mehr kompensieren.333
328 Vgl. Rawls – Rezeption bei Katzner, The Original Position and the Veil of Ignorance, in:
Blocker/Smith, 1980, 42, 54.
329 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 161.
330 Vgl. Hare, Rawls’ Theory of Justice in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 81, 91.
331 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 166.
332 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 11, 83.
333 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 25, 166.
100
Auch diese Konstruktion von Rawls wird kontrovers betrachtet. Das fehlende
Wissen über den eigenen Lebensplan kann möglicherweise nicht vollständig
durch die Idee der Grundgüter ersetzt werden.334 Im Rahmen der vorliegenden
Untersuchung soll dennoch nicht vertieft auf den umstrittenen Begriff der Grundgüter eingegangen werden.335 Für die Frage, ob Parteien unter Nichtwissen
gerechtere Entscheidungen treffen, ist er nicht von zentraler Bedeutung. Rawls
kompensiert mit dieser Zusatzannahme »lediglich« eine mögliche Schwäche
eines dichten Schleiers des Nichtwissens. Die Theorie der Grundgüter ist eine
dem Schleier des Nichtwissens nachgeordnete, eine ihn ergänzende Annahme.
Festzuhalten ist nur, dass die Parteien mit Hilfe des Axioms »möglichst viele
Grundgüter« trotz fehlenden individuellen Wissens entscheidungsfähig bleiben.
bb) Kritik an der Unterscheidung
Die Kritik in der Sekundärliteratur setzt jedoch an anderen Punkten an. Zum einen
wird der Umfang des von Rawls zugelassenen Wissens als problematisch empfunden. Darüber hinaus wird bestritten, dass allgemeines ahistorisches Wissen
existiert.
Wie dargestellt, blendet der Schleier gerade nicht das allgemeine Wissen der
Menschen aus. Rawls führt im Gegenteil aus, dass die Parteien eine mehr als
umfassende Allgemeinbildung besitzen.336 Sie sind erheblich besser informiert
als die meisten »normalen« Menschen, eingeschlossen die Experten in den sozialwissenschaftlichen Bereichen.337 Durch diese »Allwissenheit« verliert der
Urzustand möglicherweise seinen Charakter als Gedankenexperiment. Rawls
möchte eine fiktive Entscheidungssituation aufzeigen, in die man sich ohne
Schwierigkeiten hineinversetzen kann. Er selbst führt aus, dass die Bedingungen
des Urzustandes und damit auch der Schleier so beschaffen sein müssen, dass
jedermann dieselben Grundsätze wählen würde.338 Sein eigener Anspruch besteht
334 Vgl. Nagel, Rawls on Justice in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 9, 10. Rawls’ Vorgehen
wird von Nagel als zu einseitig angesehen. Rawls stelle zu stark auf den Menschen als
Einzelnen ab und berücksichtige nicht genügend die Relationen zwischen den Menschen.
Die Idee der Grundgüter spiegele eine liberale individualistische Konzeption wider. Kritisch zur Konzeption der Grundgüter auch Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch, in: Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus, 1997, 169, 174. Rawls
verwische dadurch, dass er Grundfreiheiten nicht von vornherein als Grundrechte konzipiere, sondern zunächst in Grundgüter umdeute, wesentliche Unterschiede zwischen Werten und Normen.
335 Kritisch zum Begriff der Grundgüter Lübbe, Die Auferstehung des Sozialvertrages: John
Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, Rechtstheorie 8 (1977), 185, 195; des Weiteren, Schwartz,
Moral Neutrality and Primary Goods, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 1, 164 ff.
336 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 161.
337 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 25 außerdem Koller, Neue Theorien des
Sozialkontrakts, 1987, 87 mit weiteren Nachweisen.
338 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 162.
101
folglich darin, ein Gedankenexperiment zu entwerfen, in das sich jeder seiner
Leser hineinversetzen kann. In der philosophischen Literatur wird bezweifelt, ob
Rawls’ Urzustandsbeschreibung dieser Anforderung tatsächlich gerecht wird.
Der einzelne Leser von Rawls’ Werk könne sich zwar von seinen persönlichen
Interessen distanzieren, jedoch unter Umständen gerade nicht auf ein umfassendes generelles Wissen zurückgreifen..339 In diesem Zusammenhang wird Rawls
auch vorgeworfen, dass er innerhalb seiner Gerechtigkeitskonzeption den
Umfang und die Art bestimmter Wissensinhalte nicht vertieft genug darlege. Welches Wissen setzt er genau voraus? Handelt es sich um Faktenwissen, so müsste
er das Ausmaß dieses Wissens genauer beschreiben und begründen.340
Zudem sei die von Rawls dargestellte Kombination von Wissen und Nichtwissen nicht denkbar.341 Rawls’ Konzeption von dem Wissen über eine Gesellschaft
sei falsch.342 Die allgemeinen Tatsachen müssten als ein gemeinschaftliches
menschliches Projekt verstanden werden. Es bestehe eine Abhängigkeit zwischen
gesellschaftlichem Wissen und dem Selbstverständnis und der eigenen Veränderung von Menschen.343 Einen objektiven Zugang zu dieser Art von Information
könne es nicht geben. Stimmen in der philosophischen Literatur bestreiten also,
dass die allgemeinen Tatsachen von den Einzeltatsachen getrennt werden können.344 Weitergehend wird die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt ein allgemeines Wissen der Menschen an sich gebe. Möglicherweise könne in einer verworrenen Welt des Zufälligen und Unvorhersehbaren kein solches universales Wissen vorausgesetzt werden.345 Rawls würde den Parteien ein Wissen zugestehen,
das kein Mensch besitze noch besitzen könne.346
Der Kritik ist dahin gehend zuzustimmen, dass Rawls das ausgeblendete Wissen in den Vordergrund stellt und sich nur sehr knapp zu den zugelassenen Kenntnissen äußert. Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang die deutsche
Bezeichnung eines Schleiers des Nichtwissens irreführend. Sie macht nicht hinreichend deutlich, dass allein die Einzeltatsachen ausgeblendet werden. Die Parteien im Urzustand besitzen quasi eine »Allwissenheit mit Ausnahme des persönlichen Wissens«. Andererseits zeigt Rawls ausdrücklich seine Zielsetzung auf. Er
will diejenigen Zufälligkeiten ausblenden, die gerade durch das persönliche Wissen der Menschen hervorgerufen werden.
Die Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Tatsachen
erscheint jedoch möglich. Auch wenn die These zutrifft, dass unser besonderes
339 In diese Richtung zielt auch Lyons, Nature and Soundness of the Contract and Coherence
Arguments, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 157.
340 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 25.
341 Vgl. Wolff, Understanding Rawls, 1977, 122.
342 Vgl. Wolff, Understanding Rawls, 1977, 123.
343 Vgl. Wolff, Understanding Rawls, 1977, 126.
344 Vgl. Wolff, Understanding Rawls, 1977, 125.
345 Vgl. Nowell – Smith, Eine Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit
als Fairness , 1977, 77, 78, 79.
346 Vgl. Nowell – Smith, Eine Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit
als Fairness, 1977, 77, 81.
102
individuelles Wissen grundsätzlich konstitutiv für den Gegenstand allgemeinen
gesellschaftlichen Wissen ist, so kann es dennoch Bestandteile von sozialem Wissen geben, die gesellschaftlich und kulturell invariant sind und daher für alle
möglichen Gesellschaften gelten.347 Eine weitere Vertiefung dieser mehr erkenntnistheoretischen Frage würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Auch darf Rawls’
Gedankenfigur nicht mit einer solchen »Strenge« beurteilt werden. Bei dem
Urzustand und auch bei dem Schleier des Nichtwissens handelt es sich um ein
Gedankenexperiment. Dessen Bedingungen werden mit Hilfe des Überlegungsgleichgewichts überprüft. Der Gedanke, sich von seinen persönlichen Interessen
zu distanzieren, ist primär auf seine Plausibilität zu überprüfen. Nicht entscheidend ist, ob in der Realität eine vollkommene Trennung zwischen allgemeinem
Wissen und persönlichem Wissen möglich ist.
b) Schleier und Personenbild
Wie soeben erörtert, wird durch den Schleier des Nichtwissens jedes Wissen ausgeblendet, das an das Individuum oder eine konkrete Gesellschaftsform anknüpft.
Bestehen bleiben nur abstrakte Kenntnisse.
aa) Parteien des Urzustandes als moralische Subjekte
Rawls wirkt mit der Bedingung »Schleier des Nichtwissens« massiv auf die fiktiven Parteien des Urzustandes ein. Denn sie wissen nicht, wie sich die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten auf ihre eigenen Interessen auswirken würden, und müssen Grundsätze allein unter allgemeinen Gesichtspunkten beurteilen.348 Jegliche Unterschiede zwischen den Parteien entfallen, sie werden zu moralischen Subjekten.349 Durch den Schleier des Nichtwissens soll es den Menschen möglich sein, als noumenale und nicht bloß als phaenomenale Wesen zu
entscheiden.350
Diese Zielsetzung von Rawls wurde in der philosophischen Literatur umfassend rezipiert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen nur einige Stellungnahmen im Hinblick auf die Wirkungsweise des Schleiers wiedergegeben werden351:
Die Gedankenfigur soll den Einfluss zufälliger persönlicher Interessen und
Bedürfnisse der Vertragsparteien ausschalten und dadurch Universalität sicherstellen.352 Sie stelle eine symmetrische Position der Parteien her. Die asymmetrische Verteilung von Machtpositionen und Einflussmöglichkeiten in einer realen
347 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 87.
348 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
349 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 165.
350 Vgl. Wolff, Understanding Rawls, 1977, 112.
351 Vgl. hierzu grundlegend, Pogge, Realizing Rawls, 1989, 94 ff.
352 Vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, 86.
103
Gesellschaft solle ausgeblendet werden.353 Der Grad des Nichtwissens korreliere
positiv mit der Unparteilichkeit und der Konsensfähigkeit der Abstimmungsergebnisse.354 Der Schleier des Nichtwissens könne zugespitzt als ein Schleier der
Barmherzigkeit angesehen werden. Er schütze die Parteien quasi vor sich
selbst.355
Diese »Statements« zeigen, dass in der Konzeption von Rawls eine enge Verbindung zwischen dem Personenbegriff und der Verfahrensbedingung »Schleier
des Nichtwissens« besteht. Das Informationsdefizit, das durch diese Bedingung
hervorgerufen wird, wirkt sich entscheidend auf das Bild der Parteien im Urzustand aus.
Deshalb wird das Verhältnis zwischen dem Entscheidungsträger und dem
Schleier des Nichtwissens im Folgenden genauer untersucht. Dabei wird der Versuch unternommen, einzelne Aspekte jeweils getrennt zu erörtern. Um einen
»Versuch« handelt es sich deshalb, weil es fast unmöglich erscheint, den vielfältigen kritischen Stellungnahmen der Literatur gerecht zu werden. Insoweit stellen
die ausgewählten Gliederungspunkte Menschenbild, Interesse, Individualität
einen Kompromiss dar, der die Komplexität der Diskussion nur unvollkommen
abbilden kann. Die Auseinandersetzung mit der Rawlsschen Konzeption ist in
diesem Punkt enorm vielfältig und vielschichtig. Die Literatur hat sich dem Verhältnis vom Schleier des Nichtwissens und dem Personenbegriff aus ganz verschiedenen Blickrichtungen genähert.
bb) Rawls’ Menschenbild – Kritik der Kommunitaristen
An Rawls’ Personenbegriff setzt vor allem die Kritik der Kommunitaristen an.356
Sein Grundwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit wird zum Ausgangspunkt für die
Kommunitarismusdebatte. Die kommunitaristischen Kritiker sind sich darin einig, dass Rawls’ Personenvorstellung unplausibel ist. Insbesondere Michael Sandel stellt darauf ab, dass die Existenz der Person immer mit einem kulturellen
Kontext, einem sozialen Hintergrund verknüpft ist.357 Rawls verkenne den konstitutiven Charakter von Gemeinschaftlichkeit. Diese sei kein besonderes Gefühl
353 Vgl. Hinsch, Gerechtfertigte Ungleichheiten, 2002, 56.
354 Vgl. Müller, Der »Schleier des Nichtwissens« und der »Schleier der Unsicherheit«, Wirtschaftswissenschaftliches Studium 26 (1997), 245, 245.
355 Vgl. Kelly, Veils: The Poetics of John Rawls, Journal of History of Ideas 57 (1996), 343,
364.
356 Innerhalb der kommunitaristischen Theorien der Gerechtigkeit können wiederum drei verschiedene Richtungen unterschieden werden: eine substantialistische Position (A. McIntyre, M. Sandel), eine republikanisch – partizipatorische Position (Ch. Taylor, B. Barber)
und eine liberal – kommunitaristische Position (M. Walzer). Vgl. hierzu vertiefend Forst,
Kontexte der Gerechtigkeit, 1994, 161 ff. Diese Thematik ebenfalls behandelnd Bell, Communitarianism and its Critics, 1995; Meyer, John Rawls und die Kommunitaristen, 1996.
357 Vgl. Hiebaum, Die Politik des Rechts, 2004, 217 mit Verweis auf Sandel, Liberalism and
the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 179.
104
oder eine Präferenz, sondern im Gegenteil Bedingung für die Ausbildung personaler Identität.358 Durch den Schleier des Nichtwissens verkörpere der Urzustand
ein Menschenbild, das zwischen der Person selbst und ihren Werten, ihren speziellen Charaktereigenschaften differenziert. Die Person bestehe a priori vor den
individuellen Zielen, Ambitionen und Wünschen.359 Die Vorstellung eines solchen Menschen an sich sei jedoch absurd. Sandel betont, dass der Einzelne immer
in bestehende soziale Praktiken eingebettet sei und sich nicht jederzeit von ihnen
unabhängig machen könne. Selbstbestimmung werde innerhalb unserer sozialen
Rollen und Beziehungen und nicht unabhängig von ihnen ausgeübt.360 Ingesamt
betonen die Kommunitaristen im Gegensatz zu Rawls die Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen. Ihre Kritik an der Wirkungsweise des Schleiers hat wiederum heftige Gegenkritik ausgelöst.361
Der kommunitaristischen Kritik ist dahin gehend zuzustimmen, dass Rawls’
Gerechtigkeitstheorie nicht auf einer Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen
aufbaut. Rawls beschreibt die Menschen zu Beginn seiner Ausführungen als
rationale Egoisten; jeder möchte seine Interessen schützen und seiner Vorstellung
vom Guten nachgehen.362 Interessenkonflikte entstehen dadurch, dass jeder
Mensch eine möglichst große Menge der durch gesellschaftliche Zusammenarbeit erzeugten Güter besitzen möchte.363 Nicht das Gemeinschaftsgefühl, sondern
das individuelle Interesse kennzeichnet für Rawls die Menschen. Er sieht die Personen als eigeninteressierte Individuen an.
Gerade weil die Menschen derart eng mit ihrer Konzeption des Guten verbunden sind, entwirft Rawls ein gegenläufiges Gedankenexperiment. Mit dem
Schleier des Nichtwissens zeigt er eine fiktive Situation auf. Insoweit ist kritischen Stimmen in der Literatur Recht zu geben; durch den Schleier des Nichtwissens wird der homo oeconomicus in einen gemeinwohlorientierten homo moralis
verzaubert.364
Wichtig ist jedoch, sich erneut vor Augen zu führen, dass Rawls ausdrücklich
eine fiktive Situation beschreibt. Er unterscheidet innerhalb seiner Konzeption
zwischen dem »normalen«, egoistisch handelnden Menschen und der fiktiven
Partei im Urzustand. Seiner Urzustandsbeschreibung liegt eine Vorstellung der
Person zugrunde, die an ein kantisches Verständnis anknüpft. Dies zeigt sich
358 Vgl. Grundlegend Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 173, Hiebaum, Die Politik des Rechts, 2004, 225; Nickel, Gleichheit in der Differenz? Kommunitarismus und Legitimation des Grundgesetzes, in: Brugger, Legitmation des Grundgesetzes, 1996, 395, 406 ff.
359 Vgl. Sandel, The Procedural Republic and the unencumbered Self, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 4, 217, 222.
360 Vgl. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 176, 179.
361 Vgl. Farrely, Public Reason, Neutrality and Civic Virtues, Ratio Juris 12 (1999), 11 ff.;
25; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 1994, 23, 51.
362 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 3, 31.
363 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 1, 20.
364 Vgl. Müller, Der »Schleier des Nichtwissens« und der »Schleier der Unsicherheit«, Wirtschaftswissenschaftliches Studium 26 (1997), 245, 246.
105
schon daran, dass Rawls den Schleier des Nichtwissens ausdrücklich auf Kants
kategorischen Imperativ zurückführt.365 Er entwickelt mit dem Urzustand ein
Bild, um seinen Lesern eine Vorstellung von Gerechtigkeit als Fairness zu vermitteln.
Insoweit erscheinen Rawls’ Überlegungen nicht unplausibel, sondern sogar
realistischer als der kommunitaristische Ansatz. Denn er geht nicht davon aus,
dass in real existierenden Gesellschaften eine Gemeinschaftsbezogenheit vorhanden ist, mit deren Hilfe Verteilungskonflikte gelöst werden können. Stattdessen
zeigt er einen konträren Weg auf: Nur wenn sich Entscheidungsträger von ihren
individuellen Positionen in der Gesellschaft distanzieren, ihren sozialen Hintergrund ausblenden, können sie faire Entscheidungen treffen. Die Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen ist zum einen nicht stark genug, um ihre individuellen
Ziele zu korrigieren. Zum anderen hindert gerade die gesellschaftliche Einbindung die Menschen daran, einen übergeordneten, objektiven Standpunkt wahrzunehmen.
cc) Zu weitgehender Ausschluss jeglicher Interessen
Die Kritik der Kommunitaristen knüpft zu sehr an der Vorstellung einer Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen an. Dennoch weist sie auf ein mögliches Problem hin, das der Schleier des Nichtwissens aufwirft. Dadurch, dass die Parteien
im Urzustand von ihren Konzeptionen des Guten »isoliert« werden, befinden sie
sich in einer völlig symmetrischen Position. Es bestehen keinerlei Unterschiede
mehr zwischen ihnen. Rawls hebt innerhalb seiner Urzustandsbeschreibung jegliche Partikularität der Personen auf. Wie bereits angesprochen, begegnet er dem
möglichen Einwand, dass seine fiktiven Parteien keinerlei Basis mehr für ihre
Entscheidung besitzen366, dadurch, dass er eine Theorie der Grundgüter zugrunde
legt.
Dennoch wird der Schleier des Nichtwissens von kritischen Stimmen als zu
undurchlässig eingestuft. Er fordere von den Bürgen ein Maß an Entfremdung
von ihren wahren Motivationen, das nicht nur psychologisch unglaubwürdig,
sondern in Bezug auf die Verteilung der primären Güter sogar überflüssig sei.367
Es reiche ein dünner Schleier des Nichtwissens aus, der den Parteien nur die üblichen Quellen von Macht- und Einflussunterschieden entziehe. Nur wenn zumindest Informationen über die jeweilige Gesellschaft zugelassen würden, könne
davon gesprochen werden, dass die Parteien Interessen besitzen. Der Begriff des
365 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159 Fussnote.
366 Vgl. v. Donselaar, Gerechtigkeit, Übereinstimmung und Pluralismus. Der politische Liberalismus von John Rawls, DZPhil 50 (2002), 945, 951; Wolff, Understanding Rawls, 1977,
114.
367 Vgl. v. Donselaar, Gerechtigkeit, Übereinstimmung und Pluralismus. Der politische Liberalismus von John Rawls, DZPhil 50 (2002), 945, 957.
106
Interesses setze ein Minimum an individuellem Wissen voraus.368 Rawls entwickle mit dem Schleier des Nichtwissens eine Figur, die nicht genug auf verschiedene Interessensarten eingehe. Bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze
blende er pauschal jegliches Interesse der Parteien aus. Stattdessen müsse er stärker zwischen individualbezogenen und gemeinschaftsbezogenen Interessen der
Vertragschließenden differenzieren.369
Fraglich ist, ob die fiktiven Parteien von Rawls wirklich keinerlei Interessen
mehr besitzen. Die Menschen im Urzustand haben ein Wissen darüber, dass sie
nach Wegfall des Schleiers verschiedene Konzeptionen des Guten besitzen werden. Sie haben folglich eine abstrakte Vorstellung davon, dass es verschiedene
Lebenspläne und verschiedene partikulare Interessen gibt. Was sie nicht wissen,
ist, wie diese Lebenspläne den einzelnen Menschen zugeordnet sind. Folglich
wird durch den Schleier des Nichtwissens der Begriff des Interesses nur dann
obsolet, wenn er eine feste Zuordnung Person-Interesse verlangt. Der Urzustand
zeichnet sich dadurch aus, dass den Parteien gerade nicht ein bestimmtes Lebensmuster, ein einziges dominantes Interesse zugeordnet ist. Sie haben vielmehr
unendlich viele verschiedene Lebenspläne beziehungsweise Interessen zur Auswahl. Ihre Aufgabe ist es, sich nacheinander in diese verschiedene Rollen hineinzuversetzen. Der Schleier steht deshalb für einen fiktiven Rollentausch der Parteien.370 Rawls entwickelt eine Gedankenfigur, die aktuelle Wünsche ausblendet
und so den Entscheidungsträgern die Möglichkeit einräumt, ihre »wahren Interessen« als Person unabhängig von sozialen Gegebenheiten zu erkennen.371
Ein möglicher Kritikpunkt am Schleier des Nichtwissens ist demnach nicht,
dass die Parteien keinerlei Interessen besitzen. Problematisch könnte vielmehr
sein, dass sie bei ihrer Entscheidung zu viele konkurrierende Lebenspläne
berücksichtigen müssen. Dadurch, dass sie nach Wegfall des Schleiers ganz verschiedene Positionen der Gesellschaft innehaben könnten, müssten sie sich nacheinander in eine Vielzahl von Standpunkten versetzen. Rawls kann deshalb vorgeworfen werden, dass er mit dem Schleier des Nichtwissens in Bezug auf die zu
berücksichtigenden Interessen ein zu anspruchsvolles Gedankenexperiment entwickelt.372
368 Vgl. v. Donselaar, Gerechtigkeit, Übereinstimmung und Pluralismus. Der politische Liberalismus von John Rawls, DZPhil 50 (2002), 945, 957.
369 Vgl. v. der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 407.
370 Vgl. Müller, Brauchen wir einen Schleier der Unkenntnis? ORDO/Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 50, 1999, 207, 208.
371 Vgl. Hiebaum, Die Politik des Rechts, 2004, 257, 260, nach dessen Ansicht Rawls’ Theorie
auf der Idee basaler, eben wahrer Interessen gründet.
372 »Those in the original position cannot think from the position of nobody, as is suggested
by those critics who then conclude that Rawls` theory depends upon a »disembodied« concept of the self. They must rather think from the perspective of everybody, in the sense of
each in turn. To do this requires, at the very least, both strong empathy and a preparedness
to listen carefully to the very different points of view of others« Vgl. Moller Okin, Justice,
Gender and the Family, 1989, 101.
107
dd) Verlust jeglicher Individualität im Urzustand
An die Dichte des Schleiers knüpft eine weitergehende Kritik an.373 Der Schleier
löse die Differenz zwischen allgemeinem und partikularem Willen vollständig
auf. Indem er die Konzeptionen des Guten ausblende, sei keine Klugheitswahl eines Individuums mehr möglich.374 Der Urzustand lege eine einheitliche Betrachtungsweise fest, es entstehe quasi eine einzelne Person. Die Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze könne von einem einzelnen Subjekt durchgeführt werden. Die
Wählenden werden zu einem allgemeinen Gattungssubjekt.375 Die Entscheidungsträger seien ihrem Wesen nach gleich, ein beliebiger Teilnehmer des Urzustandes könne als Vertreter für alle angesehen werden.376 Rawls bewirke mit dem
Schleier des Nichtwissens eine zu weitgehende Gleichheit der Subjekte.377 Die
Vertragsparteien können nicht länger individualisiert werden. Aufgrund des weitreichenden Informationsdefizits seien ihre Charaktere vollkommen identisch.378
Zusammengefasst wird Rawls vorgeworfen, dass die Übereinkunft der Gerechtigkeitsgrundsätze nicht mehr eine Entscheidung von verschiedenen Individuen,
sondern eine Entscheidung einer einzigen fiktiven moralischen Person sei.
Andere Stimmen in der Literatur haben diese Konsequenz des Schleiers hingegen positiv aufgefasst. Die Gleichheit der Menschen im Urzustand wird von
ihnen als eine Chance verstanden.379 Rawls’ Ansatz liege eine egalitaristische
Haltung zugrunde. Dadurch, dass die Parteien im Urzustand nicht wissen, welcher Lebensplan ihnen zugeordnet ist, begegneten sie allen denkbaren Partikularinteressen mit dem gleichen Respekt. Jedes Individualinteresse werde als potentielles eigenes Interesse begriffen.380
Im Hinblick auf diesen Aspekt der Rawls-Kritik fällt eine Stellungnahme
besonders schwer. Rawls entwickelt einen fiktiven Urzustand, in dem die Teilnehmer aufgrund des Schleiers des Nichtwissens sich in einer idealen, weil gleichen Verhandlungssituation befinden. Sein Ziel ist es, einen gedanklichen
Zustand vor Augen zu führen, in dem die Vertragspartner als moralische Subjekte
aufeinander treffen und die gesellschaftlichen und natürlichen Umstände gerade
nicht zu ihrem Vorteil ausnützen können.381. Ist ein solches Vorhaben positiv oder
373 Vgl. zu dem Verhältnis von Interesse und Identität im Bereich des Rechts vertieft Hiebaum,
Politik des Rechts, 2004, 246 ff.
374 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 187, 188.
375 Vgl. Höffe, Ethik und Politik, 1992, 188, 222; Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts,
1987, 85; Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates,
1982, 163.
376 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 33.
377 Vgl. Corlett, Does ambiguity lurk behind the veil of ignorance in Rawls’ Original Position?, in: Corlett, Equality and liberty: Analyzing Rawls and Nozick, 1991, 180.
378 Vgl. Hampton, Contract and Choices: Does Rawls have a Social Contract Theory?, in:
Richardson/Weithman, 1999, Volume 1, 109, 128.
379 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 23, 24.
380 Vgl. Dworkin, The Original Position in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 51.
381 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159.
108
negativ zu bewerten? Diese Streitfrage ist eng mit der allgemeinen Egalitarismus-
Debatte382 verknüpft. Sie kann hier deshalb nur kursorisch diskutiert werden.
Einerseits verliert die Übereinkunft über die Gerechtigkeitsgrundsätze durch
den Schleier möglicherweise an Überzeugungskraft. Den Parteien im Urzustand
wird eine einheitliche Betrachtungsweise fern ihrer eigenen Interessen aufgezwungen. Es entscheidet nicht mehr eine Vielzahl unterschiedlicher Persönlichkeiten. Die Menschen wirken nicht voneinander abgrenzbar, werden zu einer einzigen fiktiven Person.
Andererseits kann gerade diese Einheitlichkeit als ein Vorteil begriffen werden. Rawls führt mit dem Schleier eine Distanz zwischen dem Menschen und seinen individuellen Zielen ein. Diese Unterscheidung bewirkt, dass die verschiedenen partikularen Interessen gleich behandelt werden. Die Parteien des Urzustandes müssen sich mit gleichem Engagement in jede mögliche gesellschaftliche
Position hineindenken. Es besteht nicht die Gefahr, dass Lebenspläne von Minderheiten von vornherein nicht berücksichtigt werden. Die Figur des Schleiers
wird folglich in besonderer Weise dem Pluralismus innerhalb bestehender Gesellschaften gerecht. Gerade dadurch, dass die Einzeltatsachen ausgeblendet werden,
garantiert der Schleier, dass die verschiedenen Lebenspläne in gleichem Maß
Beachtung finden.
Berücksichtigt Rawls also wirklich die Persönlichkeit der Menschen zu wenig?
Entfernt er sich mit der Gedankenfigur des Schleiers von der Idee eines normativen Individualismus, nach dem sich politische Machtausübung auf die Zustimmung aller betroffenen einzelnen Menschen zurückführen lassen soll?383 Rawls
selbst definiert den Begriff der Persönlichkeit auf einer abstrakteren Ebene. Die
Persönlichkeit wird für ihn entscheidend durch die Vorstellung vom Rechten
bestimmt.384 Die Menschen im Urzustand wissen, dass sie nach Wegfall des
Schleiers des Nichtwissens verschiedene besondere Interessen haben werden. Sie
verfolgen im Urzustand das Ziel, sicherzustellen, dass sie diesen späteren Interessen möglichst nachgehen können. Sie wollen eine Ordnung schaffen, in der jedwede berechtigten Interessen, persönlichen Neigungen ausreichend gesichert
werden.385 Die Persönlichkeit der Menschen besteht trotz des Schleiers des Nichtwissens dann darin, dass sie sich als Wesen sehen, die unterschiedliche eigene
Ziele haben können und sollen. Sie haben ein Wissen darüber, dass sie einen Rahmen für unterschiedliche Lebenspläne schaffen müssen.386 Aufgrund dieses Wissens bleiben für Rawls die Vertragsparteien im Urzustand weiterhin voneinander
unabhängige Einzelwesen. Sie werden nicht alle zu einer Person zusammengefasst.387 Der Kritik, dass Rawls die Individualität seiner Parteien aufhebe, kann
382 Vgl. beispielsweise Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit: Texte der neuen Egalitarismuskritik, 2000.
383 Vgl. v. der Pfordten, Rechtsethik, 2001, 293 ff.
384 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 85, 610.
385 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 26, 176.
386 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 85, 608.
387 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 87, 637.
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folglich entgegen gehalten werden, dass die Parteien im Urzustand zumindest
eine potentielle Individualität besitzen. Sie wissen um ihre spätere Unterschiedlichkeit.388
c) Schleier und Form des Beschlusses
Bei der bisherigen Betrachtung stand der Entscheidungsträger im Vordergrund.
Nunmehr soll genauer betrachtet werden, wie sich der Schleier des Nichtwissens
auf die Entscheidungssituation insgesamt auswirkt. Welche Folgen hat er für die
Einigung über die Gerechtigkeitsgrundsätze?
aa) Konsensuale Entscheidung im Urzustand
Rawls selbst sieht den entscheidenden Vorteil des Schleiers darin, dass er die Entscheidungssituation vereinfacht. Die Parteien im Urzustand haben aufgrund der
Wissensbeschränkung keinen Anlass, zu verhandeln. Sie befinden sich alle in einer gleichen Lage, besitzen keinen individuellen Standpunkt, den sie in Verhandlungen verteidigen müssten. Die Beteiligten konzentrieren sich bei ihren Überlegungen vielmehr darauf, eine umfassend akzeptable Lösung zu finden. Sie sind
von den gleichen Argumenten überzeugt. Folglich entscheiden sie sich einstimmig für diejenigen Gerechtigkeitsgrundsätze, die für alle denkbaren individuellen
Lebenspläne vertretbar sind. Der Schleier des Nichtwissens bewirkt, dass die Entscheidung auf Konsens beruht.389
bb) Gedankenexperiment und Praxistauglichkeit
Mit Hilfe des Schleiers möchte Rawls eine fiktive Entscheidungssituation entwickeln, die einen universalen Charakter besitzt. Das vorgestellte Informationsdefizit macht den Urzustand zu einem ahistorischen Ausgangspunkt, den jeder
Mensch zu jeder Zeit einnehmen kann.390 Rawls betont, dass es sich bei seinem
Urzustand nicht um eine Volksversammlung von Menschen handelt, die zu einem
bestimmten Zeitpunkt leben oder jemals leben könnten. Der Schleier des Nichtwissens ist eine vorgestellte Bedingung. Er prägt den Urzustand entscheidend, hat
jedoch genau wie dieser einen hypothetischen Charakter.391 Zwei entscheidende
Merkmale der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption müssen in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden: der Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit
388 Vgl. ebenso Alejandro, The Limits of Rawlsian Justice, 1998, 36.
389 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 163.
390 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 4, 39; Abschnitt 24, 161, 162.
391 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 162.
110
und der Begriff der idealen Theorie. Nur mit Hilfe dieser Aussagen wird deutlich,
worin Rawls die Praxistauglichkeit seiner Gedankenfigur »Schleier« sieht.
aaa) Formen von Verfahrensgerechtigkeit
Rawls erläutert den Begriff der reinen Verfahrensgerechtigkeit, indem er ihn mit
der vollkommenen und unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit vergleicht. Er
grenzt die verschiedenen Formen von Verfahrensgerechtigkeit voneinander ab.
Wie schon zu Beginn dargestellt, zielt Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit darauf
ab, Grundsätze für eine gerechte Güterverteilung festzulegen. Er will eine Grundstruktur und damit gerechte Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft entwickeln. Folglich betrachtet er auch die verschiedenen Formen der Verfahrensgerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Verteilung. Er untersucht, wie der Verteilungsvorgang abläuft und zu welchem Ergebnis er führt.
(1) Vollkommene Verfahrensgerechtigkeit
Die vollkommene Verfahrensgerechtigkeit zeichnet sich durch zwei Merkmale
aus. Erstens wird die konkrete Verteilung von einem unabhängigen Maßstab beeinflusst und gesteuert. Dieser Maßstab besteht schon vor der eigentlichen Verteilungssituation. Er legt abstrakt fest, was eine faire Aufteilung ausmacht. Dieses
Bild von Rawls erinnert an das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht.
Bei der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit existiert ein allgemein gültiger
und zeitloser Standard für Verteilungsfragen. Das Ergebnis jedes möglichen Verfahrens wird an diesem Standard gemessen, wie jede positiv-rechtliche Norm auf
ihre Vereinbarkeit mit dem Naturrecht geprüft wird. Wie im Bereich des Naturrechts wird der übergeordnete Maßstab nicht weiter hinterfragt, sondern als vorhanden gesetzt.
Zweitens lässt sich bei der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit ein Verfahren finden, das diesen Maßstab vollkommen verwirklicht. Es gibt für die jeweilige Verteilungsfrage eine Lösung, die der übergeordneten Richtlinie vollständig
entspricht. Wird dieses »perfekte« Verfahren gefunden, so führt es zwangsläufig
zu dem gewünschten Ergebnis.
Die zwei Charakteristika der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit zeigen,
dass diese Gerechtigkeitsform praktisch nicht erreicht werden kann. Weder steht
uns ein unabhängiger und zeitloser Maßstab für Verteilungsfragen zur Verfügung
noch könnte ein solcher vollständig in einem Verfahren abgebildet werden. Die
vollkommene Verfahrensgerechtigkeit kann nur in Einzelfällen erreicht werden,
für eine Grundstruktur der Gesellschaft ist sie nach Rawls’ Ansicht eine utopische
Vorstellung.392
392 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 14, 106.
111
(2) Unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit
Die unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit stimmt mit der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit dahin gehend überein, dass es einen unabhängigen Maßstab
für das richtige Ergebnis der Verteilung gibt. Jedoch gibt es kein Verfahren, das
diesen Standard vollständig verwirklicht. Anders als bei der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit gibt es keine Sicherheit dafür, dass das gefundene konkrete
Verfahren automatisch zu dem richtigen Ergebnis führt. Rawls gibt als Beispiel
für diese Form der Verfahrensgerechtigkeit das Strafverfahren an. Der übergeordnete Maßstab besteht dort darin, dass ein Angeklagter nur dann schuldig gesprochen werden soll, wenn er die vorgeworfene Straftat wirklich begangen hat. Es
können jedoch keine gesetzlichen Regeln gefunden werden, die diese Richtlinie
vollständig umsetzen. Der unabhängige Maßstab gibt vielmehr nur eine Zielvorstellung vor, er zeigt das Wunschergebnis auf. Das Verfahren in der Wirklichkeit
kann sich nur an diesem Ergebnis orientieren und sich dieser Zielsetzung möglichst weit annähern.393
(3) Reine Verfahrensgerechtigkeit
Die reine Verfahrensgerechtigkeit unterscheidet sich von den bisherigen Gerechtigkeitsformen dadurch, dass es bei ihr keinen unabhängigen Maßstab für das
richtige Ergebnis mehr gibt. Ob eine Verteilung als gerecht eingestuft werden
kann, ist nicht länger davon abhängig, zu welchem konkreten Ergebnis sie geführt
hat. Das jeweilige Ergebnis wird nicht mit einem übergeordneten Standard verglichen. Stattdessen steht das Verfahren, der Weg zum Ergebnis, im Mittelpunkt
der Betrachtung. Ein faires Verfahren führt zu einem fairen Ergebnis. Solange
dieses Verfahren ordnungsgemäß angewandt wird, ist das Ergebnis nicht angreifbar, welcher Art auch immer es ist.394
Bei der reinen Verfahrensgerechtigkeit verschiebt sich folglich der Standpunkt
des Betrachters. Während bei der vollkommenen und unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit mit Hilfe des unabhängigen Maßstabs von außen geurteilt
wurde, befindet sich der Betrachter bei der reinen Verfahrensgerechtigkeit in der
Verfahrenssituation selbst. Ihm steht kein Wissen über ein zu erreichendes Ziel
zur Verfügung. Er kann die verschiedenen möglichen Ergebnisse nicht mit einer
solchen Vorgabe abgleichen und danach entscheiden, welches konkrete Verfahren
am besten geeignet ist. Ein solches Denken vom Ergebnis her liegt bei der reinen
Verfahrensgerechtigkeit nicht vor. Stattdessen liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Entscheidungsprozess selbst. Ziel ist es nicht, ein bestimmtes
Ergebnis zu erreichen, sondern vielmehr das Verfahren so auszugestalten, dass es
nur zu akzeptablen Ergebnissen führen kann. Der reinen Verfahrensgerechtigkeit
393 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 14, 107.
394 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 14, 107 ff.
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liegt folglich der Gedanke zugrunde, dass nicht die einzelnen Verteilungsergebnisse kontrolliert werden sollen, sondern vielmehr die Verfahrensschritte ausgestaltet werden müssen. Ein faires Verfahren zeichnet sich für Rawls wiederum
dadurch aus, dass faire Rahmenbedingungen geschaffen werden. Diese Rahmenbedingungen müssen bei der Verteilung von Gütern eingehalten werden.395
(4) Einordnung von Schleier und Urzustand
Diese Überlegungen zu der reinen Verfahrensgerechtigkeit bilden den Hintergrund für das kontraktualistische Argument von Rawls. Der Gedanke des Urzustandes soll zu einem fairen Verfahren führen. Die Argumentationsfigur Urzustand soll eine Entscheidungssituation widerspiegeln, die durch Fairness geprägt
ist. Entscheidende Bedeutung hat hier der Schleier des Nichtwissens. Er blendet
die persönlichen Interessen aus und verhindert dadurch, dass die Parteien allein
ein für sie günstiges Ergebnis erreichen vollen. Die individuellen Lebenspläne als
übergeordnete Maßstäbe für Entscheidungen sind nicht länger vorhanden. Die
Menschen besitzen keine individuellen Ziele, nach denen sie das Verfahren für
sich vorteilhaft gestalten können. Der Schleier schafft die Grundvoraussetzung
für ein faires Verfahren, indem er eine ideale Zusammenarbeit der Menschen ermöglicht. 396
Durch die Rahmenbedingung »Schleier des Nichtwissens« ist jedes Ergebnis
dieser Einigung gerecht. Rawls entwirft eine Urzustandssituation, bei der die Verfahrensanforderungen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Verfahrensanforderungen lassen nur eine bestimmte Menge möglicher Entscheidungen zu.
Jede Entscheidung, die sich in diesem Rahmen der Fairness hält, ist unabhängig
von ihrem konkreten Inhalt ebenfalls fair.
bbb) Begriff der idealen Theorie
Rawls spaltet seine Theorie der Gerechtigkeit zudem in zwei Teile auf. Den ersten
Teil bezeichnet er als ideale Theorie oder Theorie der vollständigen Konformität.
Hier beschäftigt er sich damit, Gerechtigkeitsgrundsätze für eine wohlgeordnete
Gesellschaft zu entwickeln. Der Begriff der wohlgeordneten Gesellschaft steht
für die Idealvorstellung, dass jeder Mensch gerecht handelt und seinen Teil zur
Erhaltung der gerechten Institutionen beitragen will. Die ideale Theorie führt zu
den Gerechtigkeitsgrundsätzen. Diese Grundsätze liefern eine Zielvorstellung für
gesellschaftliche Reformen. Insgesamt entwirft Rawls in diesem ersten Teil seiner Konzeption ein Leitbild. Er ist sich bewusst, dass die gesellschaftliche Realität hinter dieser Konstruktion zurückbleibt. Den Wert der idealen Theorie sieht
395 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 14, 108 ff.
396 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159 ff.
113
er jedoch darin, dass die Menschen eine Beurteilungshilfe gewinnen. Sie können
einschätzen, wie weit die realen Institutionen von dem Leitbild abweichen.397
Den zweiten Teil seiner Überlegungen zur Gerechtigkeit bezeichnet Rawls als
nichtideale Theorie oder Theorie der unvollständigen Konformität. Ausgangspunkt ist das Spannungsverhältnis zwischen der Leitvorstellung, die sich aus der
idealen Theorie ergibt, und ihrer Umsetzung in die Realität. Die Menschen haben
zu einer idealen Gerechtigkeitsvorstellung gefunden und stehen nun vor der
Schwierigkeit, diese auf eine reale und gerade nicht wohlgeordnete Gesellschaft
zu übertragen. Die nichtideale Theorie beschäftigt sich mit den Problemen innerhalb einer nicht vollkommen gerechten Gesellschaft.398
Der Urzustand und damit auch der Schleier des Nichtwissens sind Teil der idealen Theorie. Mit ihrer Hilfe sollen Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmt werden.
Diese können als Richtschnur dienen, um Missstände in realen Gesellschaften
sichtbar zu machen. Grundlage für die ideale Theorie wiederum ist der Begriff der
reinen Verfahrensgerechtigkeit. Er bildet die Basis für Rawls’ Theorie einer
Gerechtigkeit als Fairness. Der Schleier des Nichtwissens transportiert den
Gedanken dieser Form von Verfahrensgerechtigkeit in den Urzustand. Er stellt
quasi die Verbindung zwischen der abstrakten Grundüberlegung (Verfahrensgerechtigkeit) und ihrer konkreten Ausformung (Urzustand) her. Insgesamt hat der
Schleier des Nichtwissens folglich einen Leitbildcharakter. Er repräsentiert nicht
mehr und nicht weniger als eine Gerechtigkeitsvorstellung.399 Für Rawls hat eine
solche Idee einen Wert an sich. Sie verliert nicht dadurch an Überzeugungskraft,
dass die gefundenen Gerechtigkeitsgrundsätze nicht überall brauchbar sind.400
cc) Kritik am monologischen Charakter der Entscheidung
Auch die Sekundärliteratur ordnet den Schleier des Nichtwissens als eine Metapher für das aus der Ethik bekannte Universalisierungspostulat ein.401 Rawls
wolle einen Archimedischen Punkt konstruieren, jede Form der Unfairness bei
der Wahl solle verhindert werden.402 Der Schleier des Nichtwissens solle einen
originären Standpunkt reiner menschlicher Autonomie schaffen. Es handele sich
um den Versuch, eine Vertragssituation zu definieren, in der alle Entscheidungsträger nach Maßgabe des kategorischen Imperativs entscheiden.403
397 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 24; Abschnitt 39, 277.
398 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 2, 24; Abschnitt 39, 277.
399 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 164.
400 Vgl. in diese Richtung Rawls, TG, Abschnitt 2, 25.
401 Vgl. Müller, Brauchen wir einen Schleier der Unkenntnis?, ORDO/Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 207, 208.
402 Vgl. Nagel, Rawls on Justice in: Daniels, 1975, Reading Rawls, 1, 8.
403 Vgl. Müller, Brauchen wir einen Schleier der Unkenntnis?, ORDO/Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 50, 1999, 207, 207.
114
Der Wegfall von Verhandlungen wird jedoch nicht als Vorteil, sondern als Verlust begriffen. Durch einen Schleier des Nichtwissens gehe der politische Dialog
in seiner Vielfalt verloren.404 Die Entscheidungssituation im Urzustand sei durch
eine fehlende Kommunikationsfähigkeit der Parteien geprägt.405 Hier zeigt sich
eine enge Verbindung zu der Kritik an Rawls’ Personenbegriff. Blendet der
Schleier die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen aus, so werde
gleichzeitig der Austausch untereinander überflüssig. Jede Form von Verhandeln
setze einen Unterschied voraus: unterschiedliche Interessen, unterschiedliche
Macht, unterschiedliches Wissen.406 Der Schleier des Nichtwissens bewirke, dass
keine verschiedenen Vorschläge von den Parteien gemacht werden können, auch
eine Diskussion als Minus zur Verhandlung scheint nicht möglich.407 Ein prozesshaftes Entscheiden im Austausch mit anderen sei bei Rawls nicht vorgesehen.408
Der Schleier des Nichtwissens verändere die Situation vollständig hin zu einer
monologischen Entscheidung.409 Rawls wolle eine Ethik entwerfen, die auf allgemeinem Konsens aufbaut, diese ende jedoch als eine Ethik des Inneren und des
Selbstverständnisses.410
Mit einer solchen Konzeption entferne Rawls sich grundlegend von der Theorie eines Gesellschaftsvertrages. Durch den Schleier des Nichtwissens stehe die
bloße Entscheidung (»Choice«) und nicht der Vertragsgedanke im Vordergrund.411 Seine Parteien schließen keinen fiktiven Vertrag. Wie Rawls selbst
zugebe, lasse sich die Übereinkunft im Urzustand als die eines zufällig ausgewählten Beteiligten sehen.«412 Der Schleier des Nichtwissens mache eine wirkliche »Wahl« unmöglich.413
Dieser Kritik am monologischen Charakter des Rawlsschen Urzustandes
schließt sich insbesondere auch Jürgen Habermas an. Auf den ersten Blick
scheint eine Ähnlichkeit zwischen dem Schleier des Nichtwissens und dessen idealer Sprechtheorie zu bestehen. Da die Parteien einander auf völlig gleicher
Ebene gegenüberstehen, können sie in einer idealen Form miteinander kommunizieren.414 Habermas stimmt Rawls insoweit zu, als ein Universalisierungs-
404 Vgl. Fitts, Can ignorance be bliss?, Michigan Law Review 88 (1990), 917, 969.
405 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 33; Wolff, Understanding Rawls, 1977,
101.
406 Vgl. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 129.
407 Vgl. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 129.
408 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 34.
409 Vgl. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht, 1992, 33.
410 Vgl. Johnson, The Kantian Interpretation, in: Richardson/Weithman, 1999, Volume 2, 210,
211; Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 2. Auflage, 1998, 132.
411 Vgl. Hampton, Contract and Choices: Does Rawls have a Social Contract Theory?, in:
Richardson/Weithman, 1999, Volume 1, 109, 120.
412 Rawls, TG, Abschnitt 24, 162.
413 Vgl. Hampton, Contract and Choices: Does Rawls have a Social Contract Theory?, in:
Richardson/Weithman, 1999, Volume 1, 121; Sandel, Liberalism and the Limits of Justice,
2. Auflage, 1998, 129.
414 Vgl. in diese Richtung Kelly, Veils: The Poetics of John Rawls, Journal of History of Ideas
57 (1996), 343, 364.
115
grundsatz notwendig ist, der einen universellen Rollentausch erzwingen soll.415
Er lehnt jedoch die monologische Anwendung eines solchen Universalisierungsgrundsatzes ab. Rawls operationalisiere den Standpunkt der Unparteilichkeit so,
dass jeder Einzelne den Versuch der Rechtfertigung von Grundnormen für sich
allein unternehmen kann.416 Habermas fordert im Gegensatz hierzu eine kooperative Anstrengung. Er möchte ein Einverständnis erreichen, das einen gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringt. Es kann für ihn nicht ausreichen, dass sich
ein Einzelner überlegt, ob er einer Norm zustimmen könnte. Es genügt für ihn
auch nicht, dass alle Einzelnen, jeder für sich, diese Überlegung durchführen, um
dann ihre Voten registrieren zu lassen. Erforderlich ist seiner Ansicht nach vielmehr eine »reale Argumentation«, an der die Betroffenen kooperativ teilnehmen.
Es muss zu einem intersubjektiven Verständigungsprozess kommen.417
Die Kritik der Literatur überzeugt insofern, als sich Rawls tatsächlich von der
klassischen Vertragstheorie entfernt. Die Übereinkunft über die Gerechtigkeitsgrundsätze stellt eine intrapersonale Einigung dar. Die Menschen können aufgrund des Schleiers gerade nicht ihre persönlichen Interessen zur Geltung bringen
und absichern. Der Austausch zwischen den Personen tritt hierdurch völlig in den
Hintergrund. Es macht für Rawls keinen Unterschied, wer sich in den Urzustand
versetzt. Aufgrund des Schleiers des Nichtwissens wählt jedermann stets dieselben Grundsätze.
Der Wegfall von Verhandlungen muss jedoch dann als entscheidender Vorteil
angesehen werden, wenn zwischen den Menschen unüberbrückbare Interessengegensätze bestehen. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft erscheint es
fern liegend, dass Menschen durch Verhandlungen für alle geltende Verteilungsgrundsätze festlegen könnten. Der Konzeption von Rawls ist weniger der Vorwurf
zu machen, dass sie einen politischen Dialog ausschaltet. Vielmehr ist zu kritisieren, dass der Urzustand kein Gedankenexperiment ist, das für alle denkbaren
bestehenden Gesellschaften gleich überzeugend wirkt. Er stellt keinen wirklichen
ahistorischen Zustand dar. Stattdessen zeigt Rawls primär einen Lösungsansatz
für Verteilungskonflikte innerhalb »moderner« pluralistischer Gesellschaften
auf.
Zudem schließt der Schleier des Nichtwissens nicht notwendig jede Kommunikation zwischen den Menschen aus. Er macht nach Rawls nur Verhandlungen
im üblichen Sinn entbehrlich.418 Möglicherweise entsteht jedoch durch den
Schleier eine neue Form des Austauschs. Rawls macht, wie bereits dargestellt,
nur sehr wenige Ausführungen zu dem allgemeinen Wissen, das den Menschen
zur Verfügung steht. Seine Konzeption könnte derart verstanden werden, dass er
ein unterschiedliches Wissen über allgemeine Tatsachen zulassen würde. Ein solches ungleiches Strukturwissen würde dennoch nicht zu Machtgefällen führen.
Niemand könnte ein »Mehr« an Kenntnissen für seinen noch unbekannten
415 Vgl. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1991, 75.
416 Vgl. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1991, 76.
417 Vgl. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1991, 77.
418 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 163.
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Lebensplan ausnutzen. Stattdessen würde ein Austausch an Wissen in den Vordergrund treten. Die Parteien würden ihre Kenntnisse »sammeln«, um die verschiedenen denkbaren gesellschaftlichen Positionen einnehmen zu können. Fraglich ist, ob hierbei noch von Kommunikation gesprochen werden kann. Der Kritik
der Literatur ist zuzugeben, dass Kommunikation zwischen Menschen in hohem
Maß mit individuellen Bedürfnissen verbunden ist. Ist ein Austausch zwischen
Menschen denkbar, der auf unterschiedlichem abstrakten Wissen basiert? Welchen Anlass sollten die Parteien des Urzustandes besitzen, miteinander in Kontakt zu treten? Ein möglicher Grund könnte ihre potentielle Individualität sein.
Die Menschen wissen, dass sie nach Wegfall des Schleiers unterschiedliche
gesellschaftliche Positionen einnehmen werden. Dann könnten sie jedoch bereits
im Urzustand ein essentielles Interesse daran besitzen, dass ihre Entscheidung auf
den bestmöglichen abstrakten Kenntnissen basiert. Diese umfassenden Kenntnisse könnten dann nur im Austausch mit anderen Menschen zusammengetragen
werden.
Möglicherweise setzt bei Rawls eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen den
Menschen erst auf einer späteren Stufe ein. Der Urzustand hat durch den Schleier
des Nichtwissens einen individualistischen Charakter, die soziale Einheit steht
auf dieser Stufe noch nicht im Mittelpunkt. Der Wert von Gemeinschaft und die
soziale Kooperation würden erst dann wichtig, wenn die Prinzipien mit Hilfe des
Urzustandes festgelegt worden sind.419
dd) Kritik an Praxistauglichkeit und Begründung des Schleiers
Anders als Rawls ordnet die Literatur den Schleier des Nichtwissens zudem als
ein »ungeeignetes« Leitbild ein. Es gebe keinen Weg, diese Verfahrensbedingung
wirklich in die Praxis umzusetzen.420 Auch als Teil einer idealen Theorie sei der
Schleier zu realitätsfern, zu abgehoben. Ein Argument, das sich auf eine hypothetische Situation beruft, sei umso stärker, je ähnlicher uns die Vertragsparteien
sind. Eine hypothetische Situation müsse so konstruiert werden, dass wir uns
wirklich in ihr befinden könnten.421 Statt die Vorstellung einer reinen Verfahrensgerechtigkeit zu verwirklichen, führe der Schleier jedoch ein Element der Willkür
in das Entscheidungsverfahren ein.422 Die Verfahrensbedingung wird als ein sehr
starker Eingriff, als eine hoch begründungsbedürftige Figur verstanden. Soll ein
Einverständnis gerade auf diesem Weg konstruiert werden, so treffe Rawls eine
419 Vgl. Proudfoot, Rawls on the Individual and the Social, in: Richardson/Weithman, 1999,
Volume 4, 195, 205.
420 Vgl. Barry, Theories of Justice, 1989, 333.
421 Vgl. Corlett, Does Ambiguity lurk behind the veil of ignorance in Rawls’ Original Position?, in: Corlett, Equality and liberty: Analyzing Rawls and Nozick, 1991, 181; Levin/
Levin, The Modal Confusion in Rawls’ Original Position, Analysis 1979, 82, 85.
422 Vgl. Ballestrem, Methodologische Probleme in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 1977, 108, 126.
117
hohe Begründungslast. Dieser werde er nicht allein dadurch gerecht, dass er auf
die Vorstellung einer idealen Theorie verweise.423
Dieser Kritikpunkt fasst noch einmal die verschiedenen möglichen Schwächen
des Schleiers des Nichtwissens zusammen. Die überwiegenden Stimmen in der
Literatur sehen den Schleier im Gegensatz zu Rawls als eine stark begründungsbedürftige Verfahrensbedingung an. Auf den ersten Blick verwundert diese kritische Einschätzung. Denn die Figur scheint lediglich eine bekannte Idealvorstellung abzubilden: die Forderung noch unparteilichen Entscheidungen. Warum
wird der Schleier des Nichtwissens dennoch als eine utopische, als eine wirklichkeitsfremde Figur eingeordnet? Dies hat nach Ansicht der Verfasserin verschiedene Gründe:
Im Gegensatz zum Ideal des unparteilichen Beobachters handelt es sich bei
dem Schleier um eine Verfahrensbedingung, die den Parteien »aufgezwungen«
wird. Ihre Distanz zu persönlichen Interessen beruht nicht auf einer »freiwilligen« Entscheidung. Vielmehr gestaltet Rawls einen Urzustand, er verändert die
äußeren Bedingungen. Diese Kritik spiegelt sich in der Rawls-Rezeption wider.
Unwissenheit wird als eine Eigenschaft angesehen, die menschlichen Entscheidungen gewöhnlich die Qualität der Freiheit und Verantwortlichkeit entzieht. Es
erscheine nicht fair, die Menschen an die höchst unterschiedlichen Konsequenzen
einer Entscheidung zu binden, die sie unter extremer Unwissenheit und damit
Unsicherheit getroffen haben.424
Möglicherweise erscheint die Figur auch deshalb problematisch, weil wir uns
einfach nicht vorstellen können, ohne Interessen zu existieren. Die Distanz zu
unseren persönlichen Zielen wird als Verlust, als nur schwer zu rechtfertigendes
Defizit empfunden. Der Leser von Rawls fühlt sich einer Situation ausgeliefert,
die er nicht mehr überblicken kann. Er kann sich nicht vorstellen, grundlegende
Entscheidungen zu treffen, die nicht zumindest mittelbar in Zusammenhang mit
seinen eigenen Interessen stehen. Vielleicht hat die gesteigerte Bedeutung des
Individuums seit der Neuzeit unsere Vorstellungskraft beeinflusst. Der Mensch
wird als ein eigeninteressiertes Wesen verstanden.
Die kritischen Stimmen in der Literatur bestreiten insgesamt, dass sich die
Figur des Schleiers mit unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen in
Einklang bringen lässt. Sie lehnen Rawls’ Annahme ab, dass der Schleier des
Nichtwissens ein Abbild unserer intuitiven Vorstellung von einer fairen Entscheidungssituation darstelle.425 Sie werfen Rawls in diesem Zusammenhang vor allem
vor, dass er die von ihm konstruierte Bedingung nicht genügend rechtfertige.
Gegen eine solche Einschätzung spricht, dass Rawls sich bereits in seinem
Grundwerk mit möglichen Einwänden gegen den Schleier des Nichtwissens auseinander setzt. Rawls scheint also selbst vorausgesehen zu haben, dass diese
Figur auf Ablehnung stoßen könnte. Zuzugeben ist allerdings, dass er den
423 Vgl. Nagel, Rawls on Justice, in: Daniels, Reading Rawls, 1975, 1, 9.
424 Vgl. Ballestrem, Methodologische Probleme in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, in: Höffe, John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 1977, 108, 127.
425 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 162.
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Schleier des Nichtwissens gleichzeitig als eine natürliche Bedingung einordnet,
so dass schon viele auf ähnliche Gedanken gekommen sein müssen.426 Durch
diese Aussage stellt er den Schleier als eine selbstverständliche, eine nahe liegende Verfahrensanforderung dar.
Rawls verdeckt hierdurch, dass er mit dem Schleier des Nichtwissens die Forderung nach Unparteilichkeit auf einen neuen Entscheidungsbereich überträgt.
Bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit wurde auf die Verwandtschaft
von »Augenbinde der Justitia« und »Schleier des Nichtwissens« hingewiesen.
Rawls scheint mit dem Gedanken eines Informationsdefizits an die Vorstellung
einer blinden und dadurch gerecht urteilenden Justitia anzuknüpfen. Die Vorstellung von einer unparteilichen Entscheidung wurde jedoch bislang vor allem an
den Richterstand herangetragen. Seit dem Mittelalter wendet sich das Symbol der
Justitia vor allem an die Judikative. Der Richter soll sein Urteil ohne Ansehen der
Person fällen.
Demgegenüber ist Bezugspunkt des Schleiers die Entscheidung über die
Gerechtigkeitsgrundsätze. Die Parteien im Urzustand fassen einen Beschluss
über die übergeordneten Maßstäbe einer Gesellschaft. Es handelt sich folglich
nicht um eine Form der Rechtsanwendung, sondern um einen Akt der Rechtssetzung im weitesten Sinn. Die Teilnehmer des Urzustandes wählen abstrakte
Grundsätze, die als Prinzipien die Arbeitsweise der Institutionen prägen und sich
damit mittelbar auf jeden Bürger innerhalb der Gesellschaft auswirken. Rawls
kombiniert das Ideal einer unparteiischen Entscheidung mit der Vorstellung eines
Gesellschaftsvertrages. Hierin liegen die Faszination und auch die Herausforderung des Schleiers des Nichtwissens. Rawls fordert eine Unparteilichkeit nicht
nur im individuellen Rechtsstreit, sondern bei den Grundentscheidungen für eine
Gesellschaft.
Wie bereits in der Einleitung kurz angesprochen, nimmt die Zahl der Justitia-
Abbildungen seit dem Mittelalter stark zu. Besonders im Bereich von Rathäusern
und Gerichtsgebäuden wird die Gerechtigkeit »plötzlich« zu einem beliebten
Symbol.
Ein möglicher Erklärungsansatz für diese Entwicklung liegt in der wachsenden
Bedeutung des Individuums.427 Die Menschen begreifen sich zunehmend als einzigartig. Der Einzelne wird nicht länger als ein »politisches Lebewesen« (Aristoteles) begriffen, das schon durch seine Natur eine politische Gemeinschaft
anstrebt. Stattdessen wird er als freies, souveränes und selbst zentriertes Individuum verstanden. Der Mensch löst sich zunehmend aus der Bindung an die Kirche und damit an eine vorgegebene Ordnung und Lebensweise heraus. Als Folge
tritt die eigene (Entscheidungs)freiheit mehr und mehr in den Vordergrund. Diese
Entwicklung birgt jedoch zugleich die Gefahr einer Orientierungslosigkeit: Dem
Individuum werden die Ziele nicht länger verbindlich vorgegeben, es soll eigen-
426 Vgl. Rawls, TG, Abschnitt 24, 159, Fussnote.
427 Vgl. Kissel, Die Justitia. Reflexionen über ein Symbol und seine Darstellung, 1984, 43.
Zum Begriff des Individualismus, Rauscher, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Band 4: I – K, 289 ff.
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verantwortlich für sich entscheiden und handeln. Doch wie kann der Einzelne
diese Entscheidungslast tragen? Die Menschen suchen vermehrt nach Idealen,
nach Vorbildern, nach Symbolen. Gleichzeitig gewinnt das Rechtssystem mit der
Rezeption des römischen Rechts an Bedeutung. Seit dem 13. Jahrhundert werden
in Norditalien und Westeuropa zahlreiche Universitäten gegründet. Hierbei steht
das Corpus Juris im Mittelpunkt des Studiums, gleichzeitig verliert das Kirchenrecht im weltlichen Bereich stetig an Bedeutung.
Zwei Entwicklungsstränge sind demnach für die Verbreitung der Justitia entscheidend: Sowohl der einzelne Mensch als auch das Rechtssystem lösten sich
zunehmend von den kirchlichen Bindungen ab. Die Justitia wurde zu einem Bild
für »Die Tugend der Gerechtigkeit«. Dieser Aussagegehalt füllte damit eine Lükke im Bereich des Rechts, die durch die Säkularisierung zunehmend entstand. Die
Justitia-Darstellungen nehmen in dem Augenblick zu, in dem die Eingliederung
der Menschen in eine religiöse Gemeinschaft an Bedeutung verliert und der
Gedanke der Individualität vermehrt in den Vordergrund rückt.
Die Bedeutung beziehungsweise die Auseinandersetzung mit der Individualität ist auch der Grund für den Schleier des Nichtwissens in Rawls’ Überlegungen.
Seinem Grundwerk liegt implizit das Bild moderner westeuropäischer Demokratien zugrunde, die durch eine pluralistische Gesellschaft geprägt sind. Rawls entwirft mit dem Schleier des Nichtwissens eine Figur, die innerhalb einer fiktiven
Entscheidungssituation die Individualität der Menschen ausblendet, um deren
Unterschiedlichkeit gerade umfassend zu berücksichtigen. Denn die fiktiven
Teilnehmer des Urzustandes werden gezwungen, ihren eigenen Standpunkt zu
verlassen und Gerechtigkeitsgrundsätze zu wählen, die mit den verschiedensten
Lebenskonzeptionen vereinbar sind.
4. Schleier des Nichtwissens und weitere Bedingungen
Der Schleier des Nichtwissens ist Teil einer umfassenden Urzustandsbeschreibung. Er steht in Verbindung mit weiteren Einschränkungen. Auch diese Bedingungen wirken sich auf die Einigung über die Gerechtigkeitsgrundsätze aus. Zusammen mit dem Schleier garantieren sie eine bestimmte Form der Entscheidung.
Die zusätzlichen Merkmale der ursprünglichen Situationen haben zwei unterschiedliche Bezugspunkte. Zum einen definiert Rawls Eigenschaften der Parteien. Zum anderen verlangt er, dass die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsgrundsätze formale Kriterien erfüllen. Er legt damit Bedingungen im Hinblick auf den
Entscheidungsgegenstand fest.
a) Anforderungen an Form und Inhalt der Übereinkunft
Die Wahlmöglichkeiten der Menschen im Urzustand werden von Rawls eingeschränkt. Den Parteien wird eine Liste mit herkömmlichen Gerechtigkeitsvorstel-
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References
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Länderfinanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 auf eine rechtsphilosophische Figur, John Rawls’ berühmten „Schleier des Nichtwissens“, zurückgegriffen. Dieser „Schleier“ ist in Rawls’ Werken Teil eines fiktiven Urzustands und bewirkt, dass die Entscheidungsträger ihre eigenen Interessen nicht kennen. Wenig beachtet wurde jedoch der Umstand, dass Rawls auch im Bereich der idealen Gesetzgebung auf diese Gedankenfigur verweist.
Die Arbeit setzt sich zunächst intensiv mit diesen Textpassagen auseinander, um in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwieweit Gesetzgebung unter dem Grundgesetz mit dem Gedanken eines unparteilichen Abgeordneten vereinbar ist.
Das Werk richtet sich an Verfassungsjuristen und Rechtsphilosophen.