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Kapitel 6 – Das Recht in Deutschland nach Umsetzung der Richtlinie
A. Einleitung
In Kapitel 6 wird die Sachschuldnerhaftung für Beschaffenheitsabweichungen nach
dem geltenden deutschen Recht dargestellt. Einleitend werden das Umsetzungsverfahren, die Systematik und die Reichweite der Richtlinientransformation in sachlicher und persönlicher Hinsicht skizziert. Die Auswirkungen der Richtlinienumsetzung auf den Grenzverlauf der Anwendungsbereiche von Kauf- und Werkvertragsrecht werden ebenfalls umrissen. Anschließend erfolgt die inhaltliche Untersuchung
der Haftung des Sachschuldners.
I. Das Umsetzungsverfahren
Das BGB hatte in der Zeit von seiner Entstehung bis zur Umsetzung der Richtlinie
nur im Bereich des Familienrechts grundlegende Veränderungen erfahren.1102 Doch
bereits seit geraumer Zeit war von vielen deutschen Juristen Bedarf an einer wenigstens partiellen Überarbeitung und Aktualisierung des Schuldrechts gesehen worden.1103 So hatte schon 1978 der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel
die Idee einer Schuldrechtsmodernisierung zunächst im Deutschen Bundestag und
dann auf dem 52. Deutschen Juristentag vorgestellt.1104 Durch das Bundesministerium für Justiz war anschließend die Anfertigung von Gutachten in Auftrag gegeben
worden, die sich jeweils themenbezogen mit der Novellierung auseinandersetzten
und in den Jahren 1981 bis 1983 veröffentlicht wurden.1105 Im Jahre 1984 wurde
durch den seinerzeitigen Bundesjustizminister Hans A. Engelhard eine Schuldrechtsreformkommission gebildet.1106 Die vielfältigen, über Jahre andauernden Bemühungen mündeten 1991 in einen Gesetzesvorschlag, der im Jahre 1992 publiziert
wurde.1107 Nachdem sich zunächst noch der 60. Deutsche Juristentag im Jahre 1994
1102 Wolf, ZRP 1978, 248 (250); Zimmermann, JZ 2001, 171 (175); zu den Entwicklungen im Bereich des Familienrechts, s. Frank, AcP 200 (2000), 401 ff.
1103 Schünemann, NJW 1987, 2027; Wolf, AcP 182 (1982), 81 f.
1104 Wolf, ZRP 1978, 248 f. m. w. N.; Zimmermann, JZ 2001, 171 (176).
1105 Vgl. BMJ Gutachten Bd. 1, 2 u. 3.
1106 Engelhard, NJW 1984, 1201 ff.
1107 BMJ Abschlußbericht, S. 13 ff.; Rolland, NJW 1992, 2377 ff.; zur damals beabsichtigten
Modifikation von Kauf- und Werkvertragsrecht s. Haas, NJW 1992, 2389 ff.
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mit der Thematik beschäftigt hatte1108, verliefen sich die Bestrebungen jedoch in der
Folge.1109
Vor diesem Hintergrund bot die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie den
Reformwilligen einen willkommenen Anlass, das alte Vorhaben einer umfassenden
Gesetzeserneuerung wieder aufzugreifen.1110 Die Transformation musste schon aufgrund des Richtlinieninhalts zentrale Bereiche des Schuldrechts betreffen, so dass
der Gedanke einer ausgedehnten Novellierung nahelag. Den ersten Schritt in diese
Richtung machte die Bundesregierung im Jahre 2000. Ihr „Diskussionsentwurf eines
Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes“ betraf inhaltlich auch eine Vielzahl von Bereichen, welche die Richtlinie selbst nicht erfasste. Doch die darauf folgenden Reaktionen fielen gemischt aus. Bereits der Ansatz des Umsetzungsvorschlags war heftig
umstritten.1111 Die Befürworter einer umfassenden Reform wollten der Zerstückelung des bisher zumindest konzeptionell weitgehend geeinten Schuldvertragsrechts
entgegentreten. Ihre Gegner bestritten den Umfang des Aktualisierungsbedarfs und
fürchteten die Höhe der Umstellungskosten1112, wobei ihnen zusätzlich der relativ
knapp bemessene Zeitrahmen der Umsetzungsfrist für eine große Reform zu kurz
erschien. Eventuelle Vorteile einer umfassenden Reform wähnten sie durch die
Nachteile des Vorhabens relativiert.1113
Den geäußerten Bedenken zum Trotz setzten sich letztlich die Befürworter der
„großen Lösung“ durch. Zunächst wurde ein Regierungsentwurf gemäß Art. 76 II
Satz 1 GG dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet. Im Mai 2001 wurde zur
Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens von den Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen ein identischer Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht.1114 In der Folge wurde der ursprüngliche Regierungsentwurf nach einer umfangreichen Stellungnahme des Bundesrats und den Gegenäußerungen der Bundesregierung am 10. Oktober 2001 einvernehmlich für erledigt erklärt.1115 Die Änderungsvorschläge des Bundesrats fanden Eingang in die Beschlussempfehlung, die
der Rechtsausschuss am 25. September zum Fraktionsentwurf abgab.1116 Der Fraktionsentwurf wurde in der geänderten Fassung der Beschlussempfehlung des Rechts-
1108 S. NJW 1994, 3069; Kramer, ZEuP 1995, 302 f.
1109 Rolland, in: Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/Wendtland, S. 2 f.; Beckmann, in: Staudinger
(2004), Vor §§ 433 ff., Rn. 25.
1110 Hoffmann, ZRP 2001, 347 (348); Schmidt, in: Prütting, Vor § 433, Rn. 6.
1111 S. dazu die Tagungsberichte von Gsell/Rüfner, NJW 2001, 424 ff.; Artz, NJW 2001, 1703 ff.;
Heldrich, NJW 2001, 2521 (2522).
1112 S. dazu Ernst/Gsell ZIP 2000, 1410 ff.; Knütel, NJW 2001, 2519 ff.; Wilhelm, JZ 2001,
861 (862 ff.); W. H. Roth, JZ 2001, 475 (490); Honsell, JZ 2001, 18 (19 f.); Schmidt-Räntsch,
ZIP 2000, 1639; Reich, NJW 1999, 2397 (2401); Heldrich, NJW 2001, 2521 (2522); Ehmann/Rust, JZ 1999, 853; Hucke, IStR 2000, 277 (278 f.); Beckmann, in: Staudinger (2004),
Vor §§ 433 ff., Rn. 33; Lorenz, in: MüKo (2007), Vor § 474, Rn. 2; Kandler, S. 38 f.
1113 Beckmann, in: Staudinger (2004), Vor §§ 433 ff., Rn. 54; ähnlich Canaris, JZ 2001,
499 (523 f.) u. Dauner-Lieb, JZ 2001, 8 (9).
1114 BT-Drucks. 14/6040 vom 14.05.2001.
1115 BT-Drucks. 14/7100 vom 10.10.2001.
1116 BT-Drucks. 14/7052 vom 09.10.2001.
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ausschusses am 11. Oktober 2001 verabschiedet und trat gemäß seines Art. 9 am
1. Januar 2002 in Kraft.1117
II. Die Systematik der Umsetzungsmaßnahme
Der im Rahmen dieser Untersuchung relevante Bereich der Haftung des Sachschuldners für Beschaffenheitsabweichungen hat eine vollständige Umgestaltung
erfahren. Die Umsetzung des Sachleistungsvertragskonzepts der Richtlinie erfolgte
weder durch eine punktuelle Modifikation der Haftungsvoraussetzungen bzw.
-folgen der bisher einschlägigen Vertragstypen noch durch die Schaffung eines zusätzlichen Haftungsregimes. Vielmehr kam es zu einem weitgehenden Austausch
der bisher anzuwendenden Vorschriften des Kaufrechts, der überdies mit einem Systemwechsel verbunden war. Die bisher zweigliedrig strukturierte Haftung des Sachschuldners für Beschaffenheitsabweichungen, die zwischen Nichterfüllungs- und
Gewährleistungshaftung unterschieden hatte1118, musste einem monistisch geprägten
Modell weichen.
Zu diesem radikalen Wandel passend, beschränken sich die im Zuge der Umsetzungsmaßnahme durchgeführten Veränderungen im hier untersuchten Bereich nicht
auf die Personenkonstellation des Verbrauchervertrags. Stattdessen gelten sie im
Grundsatz für alle Kaufverträge.1119 Es verdeutlicht sich das gesetzgeberische Ziel,
ein einheitliches Regelungskonzept zu schaffen, das unabhängig vom Vorliegen bestimmter persönlicher Eigenschaften der Kontrahierenden auf alle Verträge Anwendung findet.1120 Der Anwendungsbereich der neuen Vorschriften der §§ 433 ff. BGB
ist auch nicht auf bewegliche Sachen als Vertragsgegenstände beschränkt.1121 So ist
es in Deutschland in persönlicher und sachlicher Hinsicht zu einer überobligatorischen Umsetzung gekommen.1122
III. Die Auswirkungen auf die bereits zuvor bestehenden Grenzen der Vertragstypen
Im Zuge der Schuldrechtsreform ist die Gemarkung der Anwendungsbereiche von
Kauf- und Werkvertragsrecht erheblich verschoben worden. Als Grenzstein fungiert
1117 Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001, BGBl. I, 3138 ff.
1118 Vgl. Kap. 2 B. I. und unter C. I.
1119 Zum Verbraucherbegriff des deutschen Rechts eingehend v. Vogel, S. 21 ff. m. w. N.
1120 Lediglich in den §§ 474-479 BGB sind Sonderregelungen vorgesehen, die nur auf Verbraucherverträge anwendbar sind.
1121 Anderes gilt wiederum in Bezug auf den herstellungsvertragsrechtlichen Teil der Richtlinie.
Hier beschränkt sich der Einfluss der Umsetzung auf Verträge über bewegliche Sachen,
vgl. § 651 Satz 1 BGB.
1122 Büdenbender, ZEuP 2004, 36 (45 f.); Westermann, in: MüKo (2007), Vor § 433, Rn. 5.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Herstellungs- und Veräußerungsverträge spielen im Wirtschaftsalltag eine überragende Rolle. Mithilfe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber starken Einfluss auf den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen ausgeübt und bisher überwiegend eigenständige Vertragstypen einheitlichen Regelungen unterworfen.
Der Autor setzt sich rechtsvergleichend mit der Frage auseinander, inwiefern die vorgesehene Gleichbehandlung der Verträge rechtlich und wirtschaftlich möglich ist und ob die Umsetzung der Richtlinie einen Gleichlauf des Vertragsrechts tatsächlich bewirkt hat. Dazu untersucht er die Gewährleistung bei Herstellungs- und Veräußerungsverträgen in den Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs vor und nach der Umsetzung der Richtlinie. Abweichungen und Unterschiede hinterfragt er in ihrem wirtschaftlichen Kontext, wobei er sich auch mit Aspekten der ökonomischen Analyse des Zivilrechts auseinandersetzt.