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III. Haftungsfolgen - die Rechtsbehelfe des Sachgläubigers
In der Folge wird geprüft, wie die Folgen der Haftung wegen einer Beschaffenheitsabweichung ausgestaltet sind. Die Rechte des Sachgläubigers wegen einer Beschaffenheitsabweichung ergeben sich aus den neu gestalteten §§ 437 ff. BGB.
1. Das Recht zur Auswahl des Rechtsbehelfs
Das Recht zur Auswahl des Rechtsbehelfs steht gemäß §§ 437, 439, 440 BGB weiterhin dem Sachgläubiger zu.1158 Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Haftungsfolgen vor, sind die Gerichte an die Wahl des Sachgläubigers gebunden.
2. Die Rechtsbehelfe der Nachlieferung und Nachbesserung
Nach dem neuen Recht ist der Sachschuldner gemäß § 433 I Satz 2 BGB in eindeutiger Weise verpflichtet, die Kaufsache seinem Vertragspartner frei von Mängeln zu
verschaffen.1159 Damit übereinstimmend steht bei Vorliegen eines Mangels dem
Sachgläubiger der ursprüngliche Anspruch in modifizierter Gestalt als Nacherfüllungsanspruch zur Seite.1160 Er kann nach §§ 437 Nr. 1, 439 I BGB von seinem Vertragspartner die Beseitigung des Mangels („Reparatur“) oder die Lieferung einer
mangelfreien Sachleistung („Ersatzlieferung“) verlangen. Da das Gesetz beide
Rechtsbehelfe derselben inhaltlichen Ausgestaltung unterstellt, erfolgt im weiteren
Verlauf eine gemeinsame Darstellung. § 439 II BGB legt fest, dass der Sachschuldner die zum Zweck der Nacherfüllung anfallenden Kosten zu tragen hat. Der nachliefernde Sachschuldner kann gemäß § 439 IV BGB von seinem Vertragspartner die
Rückgewähr der mangelhaften Sachleistung verlangen. In bestimmten Fällen sieht
das Gesetz eine Einschränkung des Sachgläubigerrechts auf Nacherfüllung vor.
a) Die Einschränkung bei Unmöglichkeit und Unverhältnismäßigkeit
Der Anspruch auf Nacherfüllung nach entfällt gemäß § 275 I BGB ipso iure, wenn
diese für den Sachschuldner oder jedermann unmöglich ist.1161 Ferner bestehen Be-
1158 Oechsler, Rn. 139; BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 231.
1159 Weidenkaff, in: Palandt (2008), § 433, Rn. 1; Brox/Walker, S. 10; Schmidt, in Prütting,
Vor § 433, Rn. 7.
1160 Huber, NJW 2002, 1004 (1005); Oechsler, Rn. 75; Faust, in: Bamberger/Roth, § 439, Rn. 6;
Oetker/Maultzsch, S. 87 f.; Reinicke/Tiedke (2004), Rn. 408.
1161 § 275 I BGB erfasst die Fälle der tatsächlichen Unmöglichkeit sowie der rechtlichen Unmöglichkeit. Für die Einschränkung des Nacherfüllungsanspruchs ist unerheblich, inwiefern den
Sachschuldner ein Verschulden trifft, § 275 II Satz 2 BGB; Canaris, JZ 2001, 499 (500),
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schränkungen für bestimmte Konstellationen, in denen das Gesetz von einer „Unverhältnismäßigkeit“ spricht. So darf der Sachschuldner die Nacherfüllung einredeweise1162 verweigern, wenn eine Unverhältnismäßigkeit im Sinne des § 275 II Satz 1
BGB vorliegt.1163 Davon kann nach § 275 II Satz 1 BGB ausgegangen werden, wenn
der vom Sachschuldner zu erbringende Aufwand im groben Missverhältnis zum
Leistungsinteresse seines Vertragspartners steht.1164 Das Gesetz berücksichtigt damit
das Erfüllungsinteresse beider Parteien. Ein starkes Interesse des Sachgläubigers an
der Nacherfüllung kann einen hohen Aufwand des Sachschuldners rechtfertigen.1165
Daneben besteht die Möglichkeit der einredeweisen Geltendmachung eines Leistungsverweigerungsrechts aus persönlichen Gründen gemäß § 275 III BGB.
Schließlich statuiert § 439 III Satz 1 BGB ein speziell kaufrechtliches Verweigerungsrecht. Der Sachschuldner kann sich der Nacherfüllung einredeweise entziehen,
wenn deren Durchführung mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden ist.1166 Als
Referenzpunkte für die Ermittlung der Unverhältnismäßigkeit werden gemäß
§ 439 III BGB auch der Wert der Sachleistung im mangelfreien Zustand und die Bedeutung des Mangels herangezogen. Berücksichtigt wird ebenfalls, ob auf die andere
Art der Nacherfüllung ohne erhebliche Nachteile für den Sachgläubiger zurückge-
Oechsler, Rn. 61; Oetker/Maultzsch, S. 92; umstritten ist, ob der Nachlieferungsanspruch
beim Stückkauf schon aufgrund der formalen Konkretisierung der Leistung als unmöglich
einzustufen ist, so Lorenz, JZ 2001, 742 (744); Tiedke/Schmitt, DStR 2004, 2060 (2064);
Schwab, JuS 2002, 1 (6); Ackermann, JZ 2002, 378 (379 ff.); Petersen, Jura 2002, 461 (462);
Wenzel, DB 2003, 1887 (1891); wohl auch Haas, BB 2001, 1313 (1315); diese Sichtweise erscheint dann zu formalistisch, wenn die Sachleistung ein Massengut ist; denn sie missachtet,
dass es gerade bei Massengütern durch das mittlerweile bestehende, hohe Marktorganisationsniveau oft kein Problem ist, entsprechenden Ersatz zu beschaffen; vorzugswürdig erscheint es daher, auf die Verfügbarkeit von Ersatz abzustellen, s. Schwarzer, S. 8 ff.; Bitter/Meidt, ZIP 2001, 2114 (2119); Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 439, Rn. 28;
Oetker/Maultzsch, S. 93 f.; BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 232 („zumeist“); Canaris, JZ
2003, 831 (836); Faust, in: Bamberger/Roth, § 439, Rn. 27; Spickhoff, BB 2003, 589 (590).
1162 Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 20.
1163 BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 130; Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 20; Tiedke/Schmitt, DStR 2004, 260 (262); Canaris, JZ 2001, 499 (504 f.); kritisch Wilhelm, JZ 2001,
861 (866 f.) u. Zimmer, NJW 2002, 1 (3 f.).
1164 BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 129 ff.; Westermann, in: Erman (2004), § 275 BGB,
Rn. 23; § 275 II Satz 1 erfasst die Fälle der faktischen oder praktischen Erschwerung der
Leistungserbringung, wobei umstritten ist, ob es sich dogmatisch um Fälle der Unmöglichkeit
handelt, vgl. Canaris, JZ 2001, 499 (501), Oechsler, Rn. 62. Nicht geregelt werden die Fälle
der sog. wirtschaftlichen Unmöglichkeit, s. Oetker/Maultzsch, S. 96 f., Westermann a. a. O.;
BReg. a. a. O, S. 130.
1165 Dazu BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 234; Oetker/Maultzsch, S. 96 f.; Zimmer, NJW
2002, 1 (4); Westermann, in: Erman (2004), § 275, Rn. 24; kritisch Ackermann, JZ 2002,
378 (382 f.); die Berücksichtigung der Interessen beider Parteien weist eindeutige Parallelen
zu den wohlfahrtsökonomischen Überlegungen in Kapitel 5 auf, s. dort unter C. II. 2. b) und
C. III. 2. b).
1166 Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 439, Rn. 39; Tiedke/Schmitt, DStR 2004,
260 (262); BReg., BT-Drucks. 14/6040, S. 232.
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griffen werden kann.1167 Das letztgenannte Kriterium schafft eine einzelfallbezogene
Abwägung, die ähnlich der Funktionsweise des § 275 II Satz 1 BGB darauf gerichtet
ist, die Interessen beider Parteien in die Bewertung einzustellen. Zu beachten ist, ob
der dem Sachgläubiger aus der Nacherfüllung erwachsende Vorteil die dem Sachschuldner entstehenden Kosten unter Umständen rechtfertigt. Nicht zu vergessen ist,
dass der Sachschuldner schon vor dem Hintergrund seines ursprünglichen Leistungsversprechens grundsätzlich für die Erfüllung einzustehen hat.1168
Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Kosten ist auf die individuelle Situation
des Sachschuldners abzustellen.1169 Aus der gleichzeitigen Anwendbarkeit des
§ 275 II BGB folgt, dass das Leistungsverweigerungsrecht unterhalb der Schwelle
des groben Missverhältnisses liegen muss. Anderenfalls wäre der Vorschrift der
Anwendungsbereich entzogen.1170 Nicht von direkter Bedeutung für die Bestimmung der Unverhältnismäßigkeit im Sinne des § 439 III Satz 1 BGB ist die Belastung, die aus der Ausübung der nicht auf Nacherfüllung gerichteten Rechtsbehelfe
Minderung und Vertragsauflösung folgen würde.1171 Besteht ein Verweigerungsrecht
des Sachschuldners, ist das Recht des Sachgläubigers gemäß § 439 III Satz 3 BGB
auf Nacherfüllung auf die andere Art der Nacherfüllung beschränkt.1172
b) Das Recht zur Auswahl der Art der Nacherfüllung
Das Recht zur Auswahl der Art der Nacherfüllung steht nach § 439 I BGB dem
Sachgläubiger zu.1173 So besteht ein Gleichlauf mit dem Sachleistungsvertragskonzept der Richtlinie.
1167 Teilweise wird eine Aufteilung in „absolute“ und „relative“ Unverhältnismäßigkeit vorgenommen. Die „absolute“ Unverhältnismäßigkeit bewertet das Interesse des Sachgläubigers an
der Erfüllung schlechthin, während die „relative“ Unverhältnismäßigkeit beide Nacherfüllungsalternativen untereinander vergleicht; Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 21;
Tiedke/Schmitt, DStR 2004, 260 (262); Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004),
§ 439, Rn. 40.
1168 Faust, in: Bamberger/Roth, § 439, Rn. 41 f.; Oetker/Maultzsch, S. 97; Westermann, in: MüKo
(2007), § 439, Rn. 20.
1169 Grunewald, in: Erman (2004), § 439, Rn. 7; Reinicke/Tiedke (2004), Rn. 444 ff.; BReg., BT-
Drucks. 14/6040, S. 232.
1170 BReg., BT-Drucks. 14-6040, S. 232; Huber, NJW 2002, 1004 (1007); Bitter/Meidt, ZIP 2001,
2114 (2120); Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 439, Rn. 42.
1171 Faust, in: Bamberger/Roth, § 439, Rn. 39; Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 21; die
kostenbegrenzende Wirkung des Vergleichs mit den Durchführungskosten anderer Rechtsbehelfe, vor allem der Minderung, wird aber auf andere Weise sichergestellt: Wie dargelegt,
stellt § 439 III Satz 2 BGB als Referenzpunkt zur Bestimmung der Unverhältnismäßigkeit
auch auf den Wert der mangelfreien Sache ab, s. Pfeiffer, ZGS 2002, 217 (218).
1172 Weidenkaff, in: Palandt (2008), § 439, Rn. 20; ebenfalls kann sich das völlige Entfallen der
nacherfüllenden Rechtsbehelfe ergeben, § 439 III Satz 3 BGB; zu den Grenzen s. Grunewald,
in: Erman (2004), § 439, Rn. 10 m. w. N.
1173 S. BReg., BT-Drucks. 14/6040, S. 231; die Bindung des Sachgläubigers an seine Wahl ist
umstritten; teilweise wird vertreten, es handele sich um eine Wahlschuld i. S. d. §§ 262 ff.
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3. Der Rechtsbehelf der Minderung
Gemäß § 437 Nr. 2, 2. Variante BGB kann der Sachgläubiger im Falle einer Beschaffenheitsabweichung gemäß § 441 BGB den Rechtsbehelf der Minderung wählen.1174 Rechtstechnisches Novum ist, dass der Rechtsbehelf als Gestaltungsrecht
ausgeformt wurde.1175 Durch die Minderung verringert sich der Zahlungsanspruch
des Sachschuldners per Gesetz um den entsprechenden Wert1176, eine bereits geleistete Überzahlung ist gemäß § 441 IV BGB zurückzuerstatten.1177 Die Berechnung
des Minderungsbetrags erfolgt nach der relativen Methode1178, der für die Berechnung maßgebliche Zeitpunkt ist gemäß § 441 III Satz 1 BGB der Vertragsschluss.1179 Aus der Verwendung des Worts „statt“ in § 441 I Satz 1 BGB ergibt
sich, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Minderung denen des Rücktritts
entsprechen.1180 Anderes gilt nur hinsichtlich des Ausschlussgrunds in § 323 V Satz
2 BGB, der die Vertragsauflösung bei unerheblichen Pflichtverletzungen bzw. Abweichungen ausschließt und gemäß § 441 I Satz 2 BGB auf den Rechtsbehelf der
Minderung keine Anwendung findet. Die Verweisung auf die Tatbestandsvoraussetzungen des Rücktritts beschränkt die Anwendbarkeit des Rechtsbehelfs der Minderung erheblich.
a) Die Abwendungsbefugnis des Sachschuldners
Zwar suggeriert § 437 BGB auf den ersten Blick eine Gleichrangigkeit des Rechtsbehelfs der Minderung mit den auf Nacherfüllung gerichteten Rechtsbehelfen, tatsächlich folgt aber aus der Verweisung auf § 323 I, 2. Variante BGB etwas anderes.
Der Sachgläubiger ist danach nur zur Minderung berechtigt, wenn er seinem Vertragspartner erfolglos eine angemessene Frist1181 zur Nacherfüllung bestimmt hat.1182
BGB und der Sachgläubiger sei mit Zugang seiner Entscheidung bei seinem Vertragspartner
gebunden, § 263 II BGB, Grunewald, in: Erman (2004), § 439, Rn. 6; teilweise ist man der
Ansicht, es bestehe zwischen beiden Nacherfüllungsansprüchen eine elektive Konkurrenz, eine Bindung könne nur nach § 242 BGB eintreten, Spickhoff, BB 2003, 589 (592 f.); Reinicke/Tiedke (2004), Rn. 411 ff.; Wenzel, DB 2003, 1891; Oetker/Maultzsch, S. 90 f.; einschränkend Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 4 f.
1174 Dazu BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 234 f.
1175 Westermann, in: MüKo (2007), § 441, Rn. 1; Weidenkaff, in: Palandt (2008), § 441, Rn. 4;
Schmidt, in: Prütting, Vor § 433, Rn. 7.
1176 Westermann, in: MüKo (2007), § 441, Rn. 17; Oechsler, Rn. 222.
1177 Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 441, Rn. 40.
1178 Reinicke/Tiedke (2004), Rn. 492; Westermann, in: MüKo (2007), § 441, Rn. 12; Matusche-
Beckmann, in: Staudinger (2004), § 441, Rn. 13 ff.
1179 Oetker/Maultzsch, S. 115.
1180 BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 235; Oechsler, Rn. 220; Ball, ZGS 2002, 49 (51).
1181 Dazu Faust, in: Bamberger/Roth, § 437, Rn. 15; Oechsler, Rn. 167; Haas, in: Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/Wendtland, S. 208; BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 138.
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So entsteht für die Mehrzahl der Fälle einer Beschaffenheitsabweichung der Sachleistung für den Sachschuldner eine Abwendungsbefugnis bzw. ein Vorrang nacherfüllender Rechtsbehelfe.1183
b) Die sachgläubigerschützenden Gegenausnahmen
In bestimmten Konstellationen entfällt aus sachgläubigerschützenden Motiven die
Abwendungsbefugnis des Sachschuldners. Der Sachgläubiger kann ohne Fristsetzung die Minderung erklären, wenn sein Vertragspartner gemäß § 275 I BGB von
seiner Leistungspflicht befreit ist, weil jede Form der Nacherfüllung unmöglich ist.
Bei Vorliegen einer unbehebbaren Abweichung wäre das Setzen einer Frist auch
unnötig (§§ 437 Nr. 2, 1. Variante, 326 V BGB).1184 Dasselbe gilt gemäß §§ 437
Nr. 2, 1. Variante, 326 V BGB, wenn der Sachschuldner beide Nacherfüllungsarten
gemäß § 275 II BGB verweigert.1185 Nach § 323 II Nrn. 1, 2 BGB ist das Setzen einer Frist ferner dann entbehrlich, wenn der Sachschuldner die berechtigt verlangte
Nacherfüllung ernsthaft und endgültig verweigert oder ein relatives Fixgeschäft vorliegt, bei dem das Interesse des Sachgläubigers an der Leistung von ihrer rechtzeitigen Erbringung abhängt.1186 Der Sachgläubiger kann gemäß § 323 II Nr. 3 BGB
auch dann sofort mindern, wenn (andere) besondere Umstände vorliegen, die unter
Abwägung der jeweiligen Parteiinteressen seinen sofortigen Rücktritt rechtfertigen.
In § 440 BGB finden sich speziell für den Kauf geregelte Ausnahmen vom Fristerfordernis. Gemäß Satz 1, 1. Variante BGB bedarf es der Fristsetzung nicht, wenn der
Sachschuldner des Kaufvertrags beide Arten der Nacherfüllung berechtigt nach
§ 439 III BGB wegen Unverhältnismäßigkeit verweigert.1187 Dasselbe gilt nach
1182 Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 439, Rn. 1 ff.; BReg., BT-Drucksache 14/6040,
S. 221. Sehr fraglich ist, ob das Erfordernis des aktiven Setzens einer Frist durch den Sachgläubiger nicht richtlinienwidrig ist. Die Richtlinie selbst lässt das bloße Verstreichen einer
Frist genügen, damit der Sachgläubiger auf die Rechtsbehelfe der Minderung bzw. Vertragsauflösung übergehen kann. Diese Regelung ist durch das Mindeststandardprinzip des Art. 8 II
der Richtlinie abgesichert, s. Kap. 1 C. II. 4.; kritisch daher Lorenz, in: MüKo (2007), Vor
474, Rn. 20; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 (546), s. dort auch zur gespaltenen Auslegung; ferner Faust, in: Bamberger/Roth, § 437, Rn. 17 ff.; Schmidt, in: Prütting, § 437,
Rn. 23; Hoffmann, ZRP 2001, 347 (349); Reinicke/Tiedke (2004), Rn. 460; Schürholz,
S. 252 f.; vgl. die ausdrücklich gegenteilige Auffassung der BReg., BT-Drucksache 14/6040,
S. 222, die auf § 440 BGB verweist und die Nichtvornahme der Nacherfüllung ohne Fristsetzung seitens des Sachgläubigers als Fehlschlag der Nacherfüllung verstanden wissen möchte.
1183 Weidenkaff, in: Palandt (2008), § 434, Rn. 4; Schürholz, S. 292; ein Recht des Sachschuldners
besteht gerade nicht, da eine korrespondierende Duldungspflicht auf Seiten des Sachgläubigers nicht existiert, vgl. zu den prozessualen Konsequenzen Oechsler, Rn. 78; Oetker/Maultzsch, S. 105.
1184 Faust, in: Bamberger/Roth, § 440, Rn. 9; BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 234.
1185 Westermann, in: MüKo (2007), § 440, Rn. 6.
1186 Oechsler, Rn. 173; Westermann, in: MüKo (2007), § 440, Rn. 6; Matusche-Beckmann, in:
Staudinger (2004), § 440, Rn. 12.
1187 Dazu s. o. unter 2.; Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 440, Rn. 5.
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§ 440 Satz 1, 2. Variante BGB, wenn eine Nachfrist gesetzt wurde und die vom
Sachgläubiger berechtigt verlangte Art der Nacherfüllung fehlgeschlagen ist.1188 Das
ist per Gesetz nach § 440 Satz 2 BGB bei der Nachbesserung der Fall, wenn der
zweite Versuch fehlgeschlagen ist1189, sofern sich nicht aus den Umständen etwas
anderes ergibt. Eine Fristsetzung ist ferner gemäß § 440 Satz 1, 3. Variante BGB
dann entbehrlich, wenn der Sachgläubiger zwar einen Anspruch auf Nacherfüllung
hat, deren Durchführung ihm aber nicht zuzumuten ist.1190 Bei der Bewertung der
Unzumutbarkeit sind insbesondere die Art der Sachleistung und der vom Sachgläubiger verfolgte Anschaffungszweck zu beachten.1191
4. Der Rechtsbehelf der Vertragsauflösung
Schließlich sieht das BGB gemäß § 437 Nr. 2, 1. Variante i. V. m. §§ 440, 323,
326 V BGB bei Vorliegen einer Beschaffenheitsabweichung noch das Recht des
Sachgläubigers vor, unter bestimmten Voraussetzungen vom Vertrag zurückzutreten. Der Rechtsbehelf ist wie die Minderung im BGB n. F. als Gestaltungsrecht ausgeformt worden.1192 Übt der Sachgläubiger sein Recht aus, wandelt dies den Vertrag
in ein Rückgewährschuldverhältnis, dessen rechtliche Behandlung sich nach den
Regelungen der §§ 346 ff. BGB richtet.1193 Die tatbestandlichen Voraussetzungen
des Rechtsbehelfs der Vertragsauflösung sind per gesetzlicher Anordnung in
§ 441 I Satz 1 BGB denen des Rechtsbehelfs der Minderung beinahe vollständig angeglichen worden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Abwendungsbefugnis
1188 Unerheblich ist, inwiefern auf die andere Art der Nacherfüllung zurückgegriffen werden
kann, BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 233; Oetker/Maultzsch, S. 107 f.
1189 Für die Nachlieferung fehlt es an einer entsprechenden Bestimmung. Hier soll nach überwiegender Meinung auf die zum AGB-Recht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden,
vgl. § 11 Nr. 10b AGBG a. F., Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 440, Rn. 17 ff.,
m. w. N.
1190 Für die Bewertung der Unzumutbarkeit ist unerheblich, ob die andere Art der Nacherfüllung
zumutbar ist, s. Oetker/Maultzsch, S. 110.
1191 Matusche-Beckmann, in: Staudinger (2004), § 440, Rn. 20 ff.; Ball, ZGS 2002, 49 (51); Oetker/Maultzsch, S. 110 f. Nicht eindeutig geregelt worden ist, inwiefern die Minderung auch
dann möglich ist, wenn die Nacherfüllung zwar erfolgreich durchgeführt wurde, aber für den
Sachgläubiger mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden war. Die Richtlinie legt fest,
dass Rücktritt und Minderung bzw. funktionale Äquivalente dem Sachgläubiger auch in diesem Fall zustehen müssen, s. Art. 2 III, 3. Spiegelstrich u. Kap. 1 C. II. 4. u. 5. Der deutsche
Gesetzgeber scheint davon auszugehen, dass in diesem Fall eine Minderung bzw. ein Rücktritt nicht möglich ist, BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 223; ähnlich Oetker/Maultzsch,
S. 111; Westermann, JZ 2001, 530 (537); Wenzel, DB 2003, 1887 (1892 f.). Die Richtlinienkonformität dieser Auffassung ist für die Konstellation des Verbrauchervertrags zweifelhaft,
Gsell, JZ 2001, 65 (70); Bitter/Meidt, ZIP 2114 (2117); Faust, in: Bamberger/Roth, § 441,
Rn. 33, befürwortet daher für diesen Fall die Annahme eines verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruchs.
1192 BReg., BT-Drucksache 14/6040, S. 221; Schmidt, in: Prütting, Vor § 433, Rn. 7.
1193 Oechsler, Rn. 185.
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des Sachschuldners sowie die entsprechenden sachgläubigerschützenden Beschränkungen der Abwendungsbefugnis. Daher kann insoweit entsprechend auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden.1194 So ergibt sich eine grundsätzliche
Nachrangigkeit des Rechtsbehelfs der Vertragsauflösung gegenüber den auf Nacherfüllung gerichteten Rechtsbehelfen.1195
Ein bedeutender Unterschied der tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsbehelfe der Minderung und der Vertragsauflösung besteht aber gemäß §§ 437 Nr. 2,
1. Variante, 323 V Satz 2 BGB. Der Sachgläubiger kann nicht wegen eines Mangels
zurücktreten, wenn dieser lediglich „unerheblich“ i. S. d. § 323 V Satz BGB ist.
Damit sind solche Lebenssachverhalte gemeint, bei denen die Beschaffenheitsabweichung eine Bagatelle darstellt.1196 Maßgebliche Kriterien für die Bewertung der
Unerheblichkeit sind die Beeinträchtigung von Wert und Gebrauchstauglichkeit, so
dass sich insoweit ein Gleichlauf zu § 459 I BGB a. F. ergibt.1197 Aus diesem zusätzlichen Tatbestandserfordernis folgt eine weitere Hierarchisierung der Rechtsbehelfe
des Sachgläubigers. Der Rechtsbehelf der Vertragsauflösung ist absolut nachrangig.
5. Verschuldenserfordernis der Rechtsbehelfe
Keiner der dargestellten Rechtsbehelfe setzt voraus, dass die Beschaffenheitsabweichung auf ein Verschulden des Sachschuldners zurückzuführen ist. Damit besteht im
Gleichlauf mit dem Sachleistungsvertragskonzept der Richtlinie eine verschuldensunabhängige Einstandspflicht des Sachschuldners für Beschaffenheitsabweichungen.1198
6. Ergebnis zu den Haftungsfolgen
Das neue deutsche Kaufrecht gesteht dem Sachgläubiger das Recht zur Auswahl des
Rechtsbehelfs zu. Er kann die Herstellung der geschuldeten Beschaffenheit durch
Nachbesserung oder Nachlieferung bzw. Neuherstellung verlangen. Das gilt aber
nicht, wenn die Nacherfüllung unmöglich ist oder einen Aufwand erfordert, der gegenüber seinem Erfüllungsinteresse in keinem angemessenen Verhältnis steht. Ferner hat der Sachgläubiger die Möglichkeit zur Minderung seiner Gegenleistung oder
zur Auflösung des Vertrags. Die Vertragsauflösung setzt aber voraus, dass die Be-
1194 S. o. unter 3.
1195 Westermann, in: MüKo (2007), § 439, Rn. 1; Weidenkaff, in: Palandt (2008), § 437, Rn. 4.
1196 Schmidt, in: Prütting, § 437, Rn. 21.
1197 Faust, in: Bamberger/Roth, § 437, Rn. 25 f.; Schmidt, in: Prütting, § 437, Rn. 21; Oechsler,
Rn. 159 ff.
1198 Westermann, JZ 2001, 530 (536); Oetker/Maultzsch, S. 87; BReg., BT-Drucks. 14/6040,
S. 231.
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schaffenheitsabweichung eine gewisse Bedeutung aufweist. Ein schuldhaftes Handeln des Sachschuldners ist nicht Voraussetzung der Haftung.
Die Rechtsbehelfe des neuen Kaufrechts sind hierarchisch angeordnet. Den auf
Nacherfüllung gerichteten Rechtsbehelfen weist das Gesetz eine Vorrangstellung zu.
Der Sachgläubiger kann die Nacherfüllung sofort verlangen, die Rechtsbehelfe der
Minderung und Vertragsauflösung setzen hingegen voraus, dass erfolglos eine Frist
zur Nacherfüllung gesetzt wurde. Innerhalb der nachrangigen Rechtsbehelfe der
Minderung und Vertragsauflösung erfolgt eine weitere Abstufung. Die Vertragsauflösung ist, anders als die Minderung, nur dann möglich, wenn die Beschaffenheitsabweichung der Sachleistung eine gewisse Intensität aufweist.
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References
Zusammenfassung
Herstellungs- und Veräußerungsverträge spielen im Wirtschaftsalltag eine überragende Rolle. Mithilfe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber starken Einfluss auf den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen ausgeübt und bisher überwiegend eigenständige Vertragstypen einheitlichen Regelungen unterworfen.
Der Autor setzt sich rechtsvergleichend mit der Frage auseinander, inwiefern die vorgesehene Gleichbehandlung der Verträge rechtlich und wirtschaftlich möglich ist und ob die Umsetzung der Richtlinie einen Gleichlauf des Vertragsrechts tatsächlich bewirkt hat. Dazu untersucht er die Gewährleistung bei Herstellungs- und Veräußerungsverträgen in den Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs vor und nach der Umsetzung der Richtlinie. Abweichungen und Unterschiede hinterfragt er in ihrem wirtschaftlichen Kontext, wobei er sich auch mit Aspekten der ökonomischen Analyse des Zivilrechts auseinandersetzt.