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IV. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Vertragstypen
Wie sich bereits angedeutet hat, bestand eine Nachbarschaft der nach altem deutschen Schuldrecht einschlägigen Vertragstypen immer dann, wenn die Sachleistung
zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht existierte. Unterschiede der Regelungsregime der Vertragstypen erforderten in diesen Fällen eine eindeutige Zuordnung des Schuldversprechens zu einem gesetzlichen Typus. So wie der historische
Gesetzgeber die genaue Ausformung einzelner Vertragstypen versucht hatte, hatte er
sich auch um eine exakte Abgrenzung der Anwendungsbereiche der Vertragstypen
bemüht. Die vertragstypische Zuordnung benachbarter Lebenssachverhalte sollte
sich durch § 651 BGB a. F. und das Zusammenspiel der Wesensmerkmale der Vertragstypen ergeben.282
1. Das Kriterium der Materiallieferung
Aus der Regelung des § 651 BGB a. F. ergab sich im Umkehrschluss, dass ein
Werkvertrag immer dann vorliegen sollte, wenn der Sachgläubiger das für die Herstellung erforderliche Material zur Verfügung stellte.283 Die Annahme eines Kaufvertrags schied für diesen Fall nach der Vorstellung des Gesetzgebers aus. Anderes
konnte nur gelten, wenn das Material (ausnahmsweise) zuvor an den Sachschuldner
übereignet worden war.284 Schwierigkeiten der systematischen Einordnung eines
Lebenssachverhalts verblieben, wenn der Sachgläubiger das zur Herstellung der
Sachleistung erforderliche Material vollständig oder teilweise stellte.285
2. Das Kriterium der Wertverhältnisse
§ 651 II BGB a. F. knüpfte die systematische Einordnung des Lebenssachverhalts
unter einen der Vertragstypen an die Bewertung des durch den Sachschuldner zu liefernden Materials als „Haupt-“ bzw. „Nebensache“. Verpflichtete sich der Sachschuldner nur zu der Beschaffung von Nebensachen, wurde der Vertrag dem Werkvertragsrecht unterstellt. Die erforderliche Bewertung der Bedeutung des Materials
sollte anhand „wirtschaftlich-sozialer“ Kriterien erfolgen. Zwar war nicht eindeutig
282 Peters, in: Staudinger (2000), Vorbem. §§ 631 ff., Rn. 4 u. § 651, Rn. 3 ff.; Mugdan, S. 1258;
tatsächlich misslang dieser Versuch einer eindeutigen Grenzziehung, § 651 BGB a. F. wurde
zur Quelle erheblicher Abgrenzungsprobleme und stand wiederholt in scharfer Kritik, Peters,
a. a. O., § 651, Rn. 4; Thode, NZBau 2000, 360; Teichmann, in: Soergel (1997), § 651, Rn. 4.
283 Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 1; Soergel, in: MüKo (1997), § 651, Rn. 1; Schlechtriem, in: Schuldrecht (1998), Rn. 364.
284 Mugdan, S. 266.
285 Teichmann, in: Soergel (1997), § 651, Rn. 1; Soergel, in: MüKo (1997), § 651, Rn. 1.
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geklärt, was genau darunter zu verstehen sein sollte, von Bedeutung war aber jedenfalls die Wertrelation von Material und Arbeitsleistung.286 Teilweise wurde auch der
Wert der fertigen Sachleistung zu dem der Arbeitsleistung ins Verhältnis gesetzt.
Lieferten beide Parteien Material, konnte auch das Wertverhältnis beider Materiallieferungen für die Beurteilung herangezogen werden. Je geringer die Bedeutung des
durch den Sachschuldner zu beschaffenden Materials war, umso eher handelte es
sich nur um eine „Nebensache“ und kam es zu der Anwendung werkvertraglicher
Vorschriften.287
3. Das Kriterium der Eigentumsübertragung
Wie bereits angemerkt, sah das genuine Werkvertragsrecht der §§ 633 ff. BGB a. F.
selbst keine Übereignungspflicht des Sachschuldners vor. § 651 I Satz 1 und § 433 I
BGB a. F. hingegen formulierten eine solche sachschuldnerische Pflicht. Die gesetzlich festgelegte unterschiedliche Phänotypik der Vertragsarten eröffnete die Gelegenheit, die Möglichkeit der Eigentumsübertragung ebenfalls für die systematische
Einordnung des Lebenssachverhalts heranzuziehen.288 Erwarb der Sachgläubiger
schon gesetzlich Eigentum am Material des Sachschuldners, sollte immer eine Zutat
im Sinne des § 651 II BGB a. F. vorliegen und auf diesem Weg Werkvertragsrecht
Anwendung finden.289 Umgekehrt galt aber nicht, dass das Ausbleiben eines gesetzlichen Eigentumsübergangs zu der Anwendung von Kaufvertragsrecht führte.290
4. Das Kriterium des Individualisierungsgrads der Sachleistung
Verpflichtete sich der Unternehmer zu der Herstellung einer vertretbaren Sachleistung, fanden gemäß § 651 I (2) Hs. 1 BGB a. F. die Vorschriften über den Kauf
Anwendung. War hingegen eine nicht vertretbare Sache herzustellen, ordnete
§ 651 I Satz 2 Hs. 2 BGB a. F. die Anwendungen der Vorschriften über den Werklieferungsvertrag (im eigentlichen Sinne) an. In diesem Fall unterstand der Vertrag
überwiegend dem Werkvertragsrecht.291 Die Vertretbarkeit der Sachleistung be-
286 Schlechtriem, in: Schuldrecht (1998), Rn. 405; Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 37.
287 Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 37; Teichmann, in: Soergel (1997), § 651, Rn. 7 f.;
Seiler, in: Erman (2000), § 651, Rn. 2, s. ferner Mugdan, S. 476; dort wird auf das „juristische Wesen“ des Vertrags abgestellt.
288 Westermann, in: MüKo (1995); Vor § 433, Rn. 21; Klinck, JR 2006, 1
289 Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 37; BGH JZ 1983, 611 (614).
290 Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 37; Teichmann, in: Soergel (1997), § 651, Rn. 9 f.;
v. Craushaar, in: FS für Korbion, S. 31.
291 Zur Terminologie s. Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 2.
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stimmte sich nach § 91 BGB a. F. 292 Je eindeutiger die Sachleistung auf die besonderen Anforderungen des Sachgläubigers zugeschnitten war, umso eher handelte es
sich um eine nicht vertretbare Sache. Hatte der Vertrag die Herstellung einer individualisierten Sachleistung zum Gegenstand, kam es daher überwiegend zu der Anwendung von Werkvertragsrecht.293
V. Ergebnis zu der Vertragstypik
In der Gesamtschau zeigt sich, dass das BGB a. F., anders als die Richtlinie, die verschiedenen untersuchten Sachverhalte unterschiedlichen Vertragstypen zuordnete.
Die vertragstypische Neuausrichtung der Richtlinie hin zu einem Sachleistungsvertragskonzept verdeutlicht sich. Die Vertragstypen wiesen prinzipiell inhaltlich verschiedene Regelungsregime auf. Die Darstellung des alten deutschen Schuldrechts
muss daher im weiteren Verlauf zweigliedrig294 erfolgen. Die endgültige und entgeltliche Überlassung einer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits existenten
Sachleistung wurde als Kaufvertrag eingeordnet. Verträge über die Herstellung einer
Sachleistung und ihre entgeltliche und endgültige Überlassung waren überwiegend
nicht als Kauf einzuordnen, wenn das für die Herstellung erforderliche Material vom
Sachgläubiger stammte. Lieferte der Sachschuldner das für die Herstellung verwendete Material, wurde die Zuordnung des Sachverhalts zu einem der Vertragstypen
schwierig. Mit Zunahme der Bedeutung der Herstellungsleistung gegenüber der Materiallieferung im Vertragsgefüge stieg die Wahrscheinlichkeit einer Einordnung des
Vertrags als Werkvertrag an. Ebenso kam es umso eher zu der Anwendung von
Werkvertragsrecht, je höher der Individualisierungsgrad der Sachleistung war. Erwarb der Sachgläubiger gesetzlich Eigentum am Material, das der Sachschuldner für
die Herstellung der Sachleistung beisteuerte, sprach dies für die Anwendung von
Werkvertragsrecht.
292 Der historische Gesetzgeber ging davon aus, dass die Parteien die Unvertretbarkeit der Sachleistung vereinbaren können, um so zur Anwendung von Werkvertragsrecht zu gelangen. Vice versa scheint diese Möglichkeit nicht bestanden zu haben, Mugdan, S. 919 und 265.
293 Peters, in: Staudinger (2000), § 651, Rn. 32; Soergel, in: MüKo (1997), § 651, Rn. 2 ff. u. 9;
Westermann, in: MüKo (1995); Vor § 433, Rn. 21 u. 27; BGH NJW 1971, 1793 (1794); BGH
NJW 1966, 2307.
294 Eine eigene Darstellung des Werklieferungsvertragsrechts ist nicht erforderlich. Im funktional
hier untersuchten Bereich kam es entweder zur Anwendung kauf- oder werkvertraglicher Regelungen. Die Mischung der Vertragselemente im Rahmen des Werklieferungsvertrags wirkt
sich nicht aus.
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References
Zusammenfassung
Herstellungs- und Veräußerungsverträge spielen im Wirtschaftsalltag eine überragende Rolle. Mithilfe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber starken Einfluss auf den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen ausgeübt und bisher überwiegend eigenständige Vertragstypen einheitlichen Regelungen unterworfen.
Der Autor setzt sich rechtsvergleichend mit der Frage auseinander, inwiefern die vorgesehene Gleichbehandlung der Verträge rechtlich und wirtschaftlich möglich ist und ob die Umsetzung der Richtlinie einen Gleichlauf des Vertragsrechts tatsächlich bewirkt hat. Dazu untersucht er die Gewährleistung bei Herstellungs- und Veräußerungsverträgen in den Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs vor und nach der Umsetzung der Richtlinie. Abweichungen und Unterschiede hinterfragt er in ihrem wirtschaftlichen Kontext, wobei er sich auch mit Aspekten der ökonomischen Analyse des Zivilrechts auseinandersetzt.