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Kapitel 1 - Das Sachleistungsvertragskonzept der Richtlinie
In Kapitel 1 wird das Sachleistungsvertragskonzept der Richtlinie dargestellt. Zunächst werden die Geschichte des Normgebungsverfahrens, die Zielsetzung der
Richtlinie und die Patenschaft des UN-Kaufrechts umrissen. Darauf aufbauend wird
der materielle Regelungsgehalt der Richtlinie untersucht. Es wird geprüft, welche
Verträge und welche Abwicklungsstörungen die Richtlinie erfasst. Im letzten Teil
des Kapitels werden die wesentlichen Züge der Voraussetzungen und Folgen der
Haftung des Sachschuldners dargestellt.
A. Der rechtliche Kontext der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie
I. Die Entstehungsgeschichte der Richtlinie
Die Entstehung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im weiteren Sinne lässt sich bis in
die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen.30 Die Abschlusserklärung
der Pariser Konferenz der Staats- und Regierungschefs der erweiterten Gemeinschaft
aus dem Jahr 1972 enthielt den Aufruf an die Gemeinschaft, Maßnahmen zum Verbraucherschutz zu forcieren.31 Konturierte vertragliche Regeln, die eine bestimmte
Einstandspflicht des Verkäufers festschreiben, lassen sich erstmals im Jahre 1990
finden. Im Rahmen eines Richtlinienentwurfs über missbräuchliche Vertragsklauseln versuchte die Kommission, die vertragliche Beschränkung gesetzlicher Gewährleistungsrechte zu Lasten des Verbrauchers einzudämmen.32 Aus dem ursprünglichen Vorschlag ging nicht eindeutig hervor, ob das Beschränkungsverbot
auch die Schaffung eines gewissen Mindeststandards an Rechtsbehelfen des Verbrauchers beinhalten sollte.33
30 Darstellungen des Normgebungsverfahrens bieten u. a. Kandler, S. 16 ff., Welser/Jud,
S. 7 ff.; Doehner, S. 25 ff.; Schlechtriem, in: Ernst/Zimmermann, S. 207 ff.; Grundmann, in:
Grundmann/Bianca, Einl., Rn. 13 ff.
31 S. ABl. EWG Nr. C 92 vom 25.04.1975, S. 1 ff.
32 S. Buchstabe c) des Anhangs des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, vorgelegt am 24.07.1990, KOM (90) 322
endg., ABl. EG Nr. C 243 vom 28.09.1990, S. 2 ff.; zur Richtlinie u. a. Remien,
ZEuP 1994, 34; Frey, ZIP 1993, 572; Heinrichs, NJW 1993, 1817; Hommelhoff/Wiedemann,
ZIP 1993, 562; Hommelhoff, AcP 192 (1992), 71; Brandner/Ulmer, BB 1991, 701; Amtenbrink/Schneider, VuR 1996, 367; Ulmer, EuZW 1993, 337.
33 Dafür Hommelhoff, AcP 192 (1992), 71 (83 f.); a. A. Brandner/Ulmer, BB 1991, 701 (707) u.
Amtenbrink/Schneider, VuR 1996, 367.
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Die Änderung des Richtlinienvorschlags hingegen fiel in dieser Hinsicht eindeutig aus.34 Art. 6 II des Vorschlags gewährte dem Verbraucher die Rechtsbehelfe der
Nachbesserung, Ersatzlieferung, Minderung und der Auflösung des Vertrags frei
wählbar und unabdingbar. Doch das Vorhaben, die Mindestrechtsbehelfe in die
Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln zu integrieren, wurde im weiteren
Normgebungsverfahren aufgegeben. Der Rat hielt es für vorzugswürdig, die Mindestharmonisierung im Bereich des Verbrauchsgüterkaufs gesondert und vertieft
voranzutreiben.35 Am 15. November 1993 veröffentlichte die Kommission das
Grünbuch über Verbrauchsgüterkaufgarantien und Kundendienst.36 Dort wies sie auf
Probleme hin, die sich Verbrauchern und Verkäufern im Rahmen grenzüberschreitender Kaufverträge stellten, und regte an, Gegenmaßnahmen ins Auge zu fassen. Es
wurden Vorschläge für eine Harmonisierung der gesetzlichen Gewährleistung unterbreitet, die dem Regelungskomplex der Richtlinie inhaltlich bereits nahe kamen.37
In der Folge bestätigten das Europäische Parlament und der Wirtschafts- und Sozialausschuss das im Grünbuch erarbeitete Konzept dem Grunde nach. Die Kommission
wurde aufgefordert, bis Ende 1994 einen Vorschlag für eine Richtlinie über gesetzliche Garantien vorzulegen.38 Ein daraufhin erarbeiteter Vorentwurf39 einer Arbeits-
34 S. den geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über missbräuchliche Klauseln in
Verbraucherverträgen, vorgelegt am 05.03.1992, KOM (92) 66 endg., ABl. EG Nr. C 73 vom
24.03.1992, S. 7 ff.
35 S. den Gemeinsamen Standpunkt des Rates v. 22.09.1992, ABl. der EG Nr. C 283 vom
31.10.1992, S. 1 – Text abgedr. in ZIP 1992, 1590; Kandler, S. 21 f.; Schwartze, S. 608;
Doehner, S. 25.
36 Grünbuch über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst KOM (93) 509 endg. vom
15.11.1993; dazu Kandler, S. 22 ff.; Schnyder/Straub in ZEuP 1996, 8 ff.; Grundmann, in:
Grundmann/Bianca, Einl. Rn. 13 ff.; Horak in Reform, S. 225 ff. Das Grünbuch geht auf den
zweiten verbraucherpolitischen Aktionsplan der Kommission für die Zeit von 1993 bis 1995
sowie die Initiativen des Rates, des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses zurück; s. auch die Entschließung des Rates betreffend die künftige Ausrichtung der Politik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zum Schutz und zur Förderung
der Interessen der Verbraucher vom 23.06.1986, ABl. EG Nr. C 167 vom 05.07.1986, S. 1 ff.,
die Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Anforderungen des Verbraucherschutzes und der Volksgesundheit vom 11.03.1992, ABl. EG Nr. C 94 vom 13.04.1992,
S. 221 f. sowie die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die
Vollendung des Binnenmarkts und Verbraucherschutzes“ vom 26.09.1991, ABl. EG
Nr. C 339 vom 31.12.1991, S. 16 (27 f.); Doehner, S. 26 f.
37 Weisner, JuS 2001, 759; Hänlein, DB 1999, 1641; Unterschiede bestanden aber noch insbesondere in Bezug auf den Verbraucherbegriff, die Hierarchie der Rechtsbehelfe, die Rügeobliegenheit und den Begriff der Vertragswidrigkeit, s. Baldus, S. 22-27; Grundmann, in:
Grundmann/Bianca, Einl. Rn. 13-15; Schlechtriem, in: Ernst/Zimmermann, S. 207 ff. Das
Grünbuch enthielt ferner Vorschläge, die sich auf andere Bereiche des Schuldrechts, beispielsweise den Kundendienst erstreckten, s. Schnyder/Straub, ZEuP 1996, 8 (28 u. 73);
Grundmann, in: Grundmann/Bianca, Einl. Rn. 14.
38 S. die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Grünbuch der Kommission über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst vom 06.05.1994, ABl. EG Nr. C 205 vom
25.07.1994, S. 562 (564 f.) u. ABl. EG Nr. C vom 22.10.1994, S. 1 ff.
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gruppe von Wissenschaftlern blieb unveröffentlicht. Er wurde innerhalb der Kommission überwiegend als nicht gelungen angesehen.40
Im Jahre 1996 wurde schließlich von der Kommission der Vorschlag einer Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf veröffentlicht.41 Er erfuhr eine gesteigerte Berücksichtigung in den Mitgliedstaaten und löste gemischte Reaktionen aus.42 Das
Parlament billigte den Vorschlag grundsätzlich, brachte aber 43 zumeist verbraucherbegünstigende Änderungsvorschläge ein.43 Daraufhin legte die Kommission einen Vorschlag in geänderter Form vor.44 In der Folge erzielte man im Rat das Einvernehmen, eine Richtlinie zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und
der Garantien für Verbrauchsgüter zu verabschieden. Ein Gemeinsamer Standpunkt
konnte formuliert und verabschiedet werden.45 Im Rahmen der zweiten Lesung beschäftigte sich das Parlament mit dem Gemeinsamen Standpunkt. Es beschloss 14
Änderungsvorschläge.46 Da der Rat jedoch nicht bereit war, diese zu akzeptieren,
wurde gemäß Art. 251 III 2 EG der Vermittlungsausschuss einberufen. Das sich anschließende Verfahren brachte eine inhaltliche Einigung.47 Die Richtlinie konnte
nach Durchführung des Mitentscheidungsverfahrens am 25.05.1999 verabschiedet
werden.48 Gemäß Art. 13 der Richtlinie trat sie am 07.07.1999 in Kraft.
39 dazu Tenreiro, REDC 1996, 187 ff.
40 Reich/Micklitz, Rn. 17.1; Kandler, S. 24 f. m. w. N.
41 S. den Vorschlag vom 23.08.1996, KOM (95) 520 endg., ABl. EG Nr. C 307 vom
16.10.1996, S. 8 ff. teilw. abgedruckt in ZIP 1996, 1845 ff.
42 Kandler, S. 25; Tonner, BB 1999, 1769 (1770); Micklitz, EuZW 1997, 229 (230); Kircher,
ZRP 1997, 290; Medicus, ZIP 1996, 1925; Schlechtriem, JZ 1997, 130; der Wirtschafts- und
Sozialausschuss äußerte sich in seiner Stellungnahme vom 27.11.1996 überwiegend kritisch,
s. ABl. EG Nr. C 66 vom 03.03.1997, S. 5 ff.
43 Vgl. die Äußerungen des Europäischen Parlaments vom 10.03.1998, ABl. EG Nr. C 104 vom
06.04.1998, S. 30 ff.
44 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Verbrauchsgüterkauf und –garantien, vorgelegt am 01.04.1998, KOM (1998) 217 endg., ABl. EG
Nr. C 148 vom 14.05.1998, S. 12-20.
45 Gemeinsamer Standpunkt des Rates, festgelegt am 24.09.1998, ABl. EG Nr. C 333 vom
30.10.1998, S. 46-51.
46 Beschluss über den gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter vom 17.12.1998, ABl. EG Nr. C 98 vom
09.04.1999, S. 226 ff.
47 Kandler, S. 28.
48 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.05.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl.
EG Nr. L 171 vom 07.07.1999, S. 12 ff.
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II. Die Zielsetzung der Richtlinie
Aus den Erwägungsgründen und der Wahl der Kompetenznorm ergibt sich, dass der
europäische Normgeber mit der Schaffung der Richtlinie eine dreigliedrige Zielsetzung verfolgte.49 Er wollte dem Verbraucher einen Mindeststandard subjektiver
Rechte auf Entscheidungsfreiheit, Information und Schutz berechtigter Erwartungen
gewährleisten. Auf diese Weise sollte der Verbraucher zum grenzüberschreitenden
Einkauf motiviert werden, seiner fundamentalen Rolle bei der Vollendung des Binnenmarkts nachkommen und dem Entstehen künstlicher Handelsbarrieren bzw. einer
Abschottung der Märkte entgegenwirken.50 Außerdem beabsichtigte der europäische
Normgeber, die einzelstaatlichen Privatrechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene
anzugleichen. Man sah den Bedarf nach einem Regelungskomplex, der dem europäischen Verbraucherrecht als Kern dienen könnte.51
III. Die Patenschaft des UN-Kaufrechts
Bei der Schaffung der Richtlinie stand das UN-Kaufrecht52 Pate.53 Die Ähnlichkeit
vieler Regelungen ist offensichtlich.54 Die Orientierung am UN-Kaufrecht drängte
sich dem europäischen Normgeber auf, denn bis auf Irland, Portugal und das Vereinigte Königreich hatten alle Mitgliedstaaten das Abkommen ratifiziert. Praktisch
wie rechtlich existierten Erfahrungen mit einem gemeinsamen Kaufrecht, die genutzt werden konnten.
49 Huet, Rn. 11417-2.
50 S. die Erwägungsgründe 1-5; Reich, NJW 1999, 2397 f.; Hucke, IStR 2000, 277 (278); Staudenmayer, NJW 1999, 2393; Thode, ZfBR 2000, 363 (364); Weisner, JuS 2001, 759 (760);
Kandler, S. 9 ff.
51 Vgl. die allgemeine Begründung A I Nr. 5, KOM (95) 520 endg., ABl. EG Nr. C 307 vom
16.10.1996, S. 8, abgedr. in ZIP 1996, 1845 ff.; ferner die Entschließungen des Europ. Parlaments vom 26.05.1989, ABl. EG Nr. C 158 vom 26.06.1989, S. 400 und vom 06.05.1994,
ABl. EG Nr. C 205 vom 25.07.1994, S. 518; Reich, NJW 1999, 2397 (2398); Thode, ZfBR
2000, 363 (364); Schlechtriem, JZ 1997, 441 (442); Micklitz, EuZW 1997, 229; Kandler,
S. 15.
52 Wiener Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf vom 11. April
1980, BGBl. 1989 II S. 588. Im folgenden werden die in Deutschland gebräuchlichen Bezeichnungen CISG und UN-Kaufrecht verwendet, dazu Flessner/Kadner, ZEuP 1995, 347 f.
53 Vgl. die Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über den Verbrauchsgüterkauf und –garantien KOM (95) endg. S. 6, 12, 13, 15 und 16;
Grundmann, in: Grundmann/Bianca, Einl. Rn. 6.; Riesenhuber, in: System, S. 478; Schuhmann, ZGS 2005, 250 (252) Lorenz, in: MüKo (2007), Vor 474, Rn. 8; v. Vogel, S. 238;
Weisner in JuS 2001, 759; Thode, ZfBR 2000, 363 (364).
54 S. die Synopse von Grundmann, in: Grundmann/Bianca, Einl. Rn. 152; ders., AcP 202
(2002), 40 (45 ff.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Herstellungs- und Veräußerungsverträge spielen im Wirtschaftsalltag eine überragende Rolle. Mithilfe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hat der europäische Gesetzgeber starken Einfluss auf den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Zivilrechtsordnungen ausgeübt und bisher überwiegend eigenständige Vertragstypen einheitlichen Regelungen unterworfen.
Der Autor setzt sich rechtsvergleichend mit der Frage auseinander, inwiefern die vorgesehene Gleichbehandlung der Verträge rechtlich und wirtschaftlich möglich ist und ob die Umsetzung der Richtlinie einen Gleichlauf des Vertragsrechts tatsächlich bewirkt hat. Dazu untersucht er die Gewährleistung bei Herstellungs- und Veräußerungsverträgen in den Rechtsordnungen Deutschlands, Englands und Frankreichs vor und nach der Umsetzung der Richtlinie. Abweichungen und Unterschiede hinterfragt er in ihrem wirtschaftlichen Kontext, wobei er sich auch mit Aspekten der ökonomischen Analyse des Zivilrechts auseinandersetzt.