116
selbst ernähren können. Des Weiteren wurde etwa das Nachzugsalter für Ehegatten auf 18 Jahre hochgesetzt, um sog. Zwangsehen zu bekämpfen.
Das AuslRÄndG 2007 (Entwurf 28.3.07) wurde in den Medien teilweise als unnötige Verschärfung des Ausländerrechts kritisiert, teilweise als sinnvolle Maßnahme begrüßt. Sozialpolitische Auswirkungen können derzeit noch nicht abgeschätzt werden.
3.3.2 Ausweisungsgründe
Von entscheidender Bedeutung für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes ist
der Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder gegen sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik. Im Folgenden wird eine Operationalisierung dieser allgemeinen Gesetzesbegriffe durchgeführt.
3.3.2.1 Öffentliche Sicherheit und Ordnung
Die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen.259 Der Terminus »öffentliche Sicherheit« verweist auf den
Normzustand der Unversehrtheit von Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen einer Person sowie den Bestand und das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen. Somit beinhaltet der Begriff öffentliche Sicherheit zum einen
den Schutz von Individualrechtsgüter und zum anderen von Gemeinschaftsrechtsgüter. Das Individualrechtsgut ist in diesem Sinne die private Sicherheit
259 über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg – EU-Rückführungsrichtlinie – RL 2003/110/EG vom
25.11.2003; Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige,
die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung
geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren – EU-Opferschutzrichtlinie – RL 2004/81/EG vom 29.4.2004; Richtlinie über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörige, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten – EU-Freizügigkeitsrichtlinie – RL 2004/38/EG vom 29.4.2004; Richtlinie über Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen,
und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – EU-Qualifikationsrichtlinie – RL
2004/83/EG vom 29.4.2004; Richtlinie über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zwecks Absolvierung eines Studiums oder Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst –
EU-Studentenrichtlinie – RL 2004/114/EG vom 13.12.2004; Richtlinie über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen
Forschung – EU-Forscherrichtlinie – RL 2005/71/EG vom 12.10.2005; Richtlinie über
Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung
der Flüchtlingseigenschaft – EU-Verfahrensrichtlinie – RL 2005/85/EG vom 1.12.2005.
259 Vgl. Renner, Günter (1999), Ausländerrecht – Kommentar, 7. Aufl., München. S. 212.
117
eines Individuums, die er im eigenen Sinne erstrebt und autark nach eigenen Maßstäben bestimmt. Beim Gemeinschaftsrechtsgut handelt es sich sowohl um den
Schutz des Staates und seiner Einrichtungen als auch um den Schutz der gesamten
Rechtsordnung. Nicht zuletzt dient das allgemeine Polizeirecht zum Schutz dieser Rechtsgüter als Eingriffsgrundlage. 260 Der Begriff der öffentlichen Sicherheit
umfasst dabei nicht nur die nationale Dimension, sondern beinhaltet auch eine
übernationale Dimension.261
Die öffentliche Ordnung ist dagegen der Inbegriff der (ungeschriebenen) Regeln,
deren Beachtung nach der allgemeinen Auffassung von sozialen und ethischen
Aspekten als unentbehrliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens angesehen wird.262 Die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist beeinträchtigt, wenn der weitere Aufenthalt des Ausländers zu einer Gefährdung der aufgeführten Rechtsgüter führt. Zur Ermittlung einer solchen Beeinträchtigung ist immer eine Gefahrenprognose erforderlich.263
3.3.2.2 Sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik
Unter diesem Terminus werden im allgemeinen diejenigen Belange subsumiert,
die für die Bundesrepublik von erheblichem Gewicht und somit besonders
schutzwürdig sind. § 55 Abs. 2 AufenthG (§ 46 AuslG) konkretisiert diese in
Form einer Aufzählung. Die Gefahrenprognose, die auch hier erforderlich ist,
kann je nach Intensität des Sicherheitsbedürfnisses, im Extremfall sogar auf
einem begründeten Verdacht beruhen.264
3.3.2.3 Abwägung zwischen dem Interesse des Staates und des Individuums
Bei der Ausweisung eines Ausländers geht es immer um eine Abwägung zwischen zwei Interessenpositionen. Die Interessen der Bundesrepublik bestehen
darin, den Ausländer zum eigenen Schutze aus der Bundesrepublik zu entfernen.
Anhand des Ausweisungsgrundes – bei dem es sich in allen Fällen um eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik handelt – wird das Interesse Deutschlands an der Ausreisepflicht des Ausländers bestimmt. Hierzu sind die einzelnen Ausweisungsnormen heranzuziehen, die von einer wahrscheinlichen Ausweisung in Form einer »Kann-Ausweisung« bis hin zu einer zwingenden »Ist-Ausweisung« die In-
260 Vgl. Pieroth, Bodo/ Schlink, Bernhard/ Kniesel, Michael (2002), Polizei und Ordnungsrecht, München, S. 126 ff.
261 Vgl. hierzu § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG.
262 Vgl. Gusy, Christoph (2000), Polizeirecht, 4. Aufl., Tübingen, S. 81 ff.
263 Vgl. Renner, Günter (1999), Ausländerrecht – Kommentar, 7. Aufl., München, S. 212.
264 Vgl. ebenda, S. 213.
118
tensität des Staatsinteresses verdeutlichen. Die Interessen des Ausländers bestehen meist zunächst darin, die Bundesrepublik nicht verlassen zu müssen. Dieses
Interesse dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit an Intensität gewinnen, je länger
die Aufenthaltszeit ist und die damit verbundene soziale und wirtschaftliche
»Verwurzelung« in Deutschland. Somit entsteht ein komplexer Abwägungsvorgang, in dem verschiedene Faktoren in Betrachtet gezogen werden. Welches Interesse überwiegt? Das Staatsinteresse, den Ausländer auszuweisen oder das private Interesse des Ausländers, sich weiterhin in der Bundesrepublik aufhalten zu
dürfen. Um dem Schutzbedürfnis beider Seiten gerecht zu werden, normiert das
Aufenthaltsgesetz hierzu gewisse Entscheidungsvorgaben.
3.3.3 Die Ermessensausweisung gemäß § 55 AufenthG (§§ 45, 46 AuslG)
(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche
Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik
Deutschland beeinträchtigt.
(2) Ein Ausländer kann nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er
1. in Verfahren nach diesem Gesetz oder zur Erlangung eines einheitlichen Sichtvermerkes nach Maßgabe des Schengener Durchführungsübereinkommens falsche
oder unvollständige Angaben zum Zweck der Erlangung eines Aufenthaltstitels
gemacht oder trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die
Durchführung dieses Gesetzes zuständigen Behörden im In- und Ausland mitgewirkt hat, wobei die Ausweisung auf dieser Grundlage nur zulässig ist, wenn der
Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf die Rechtsfolgen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde,
2. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder
gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb
des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist,
3. gegen eine für die Ausübung der Gewerbsunzucht geltende Rechtsvorschrift
oder behördliche Verfügung verstößt,
4. Heroin, Cocain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht
und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht,
5. durch sein Verhalten die öffentliche Gesundheit gefährdet oder längerfristig obdachlos ist,
6. für sich, seine Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialhilfe in Anspruch nimmt,
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.