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turellen Orientierungen und Verhaltensweisen verdeutlichen ebenfalls gewisse
Ursachen für Kriminalität in der zweiten und dritten Ausländergeneration.168
2.7 Sucht und Migration
Betrachtet man die Kriminalität von Ausländern im Einzelnen, sticht der signifikante Verstoß von ausländischen Jugendlichen und Erwachsenen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ins Auge. Wie durch die PKS gezeigt werden
konnte, stellt ein Großteil der Delikte, die von ausländischen Jugendlichen und
Erwachsenen begangen werden, Straftaten gegen das BtMG dar. Seit Mitte der
neunziger Jahre treten Migranten verstärkt als Konsumenten von Drogen auf.
Schätzungsweise 20% aller Drogenkonsumenten in den Ballungszentren Berlin,
Frankfurt, Hannover, Stuttgart und Köln sind ausländischer Herkunft.169
Migration wirkt sich auf alle Lebensbereiche einer Person aus und kann mannigfaltige Probleme hervorrufen. Die Suchtproblematik bei Ausländern wird nicht
zuletzt als der Versuch verstanden, die migrationsbedingten Probleme durch
»Flucht« zu lösen. Die Gründe, warum es zum Drogenmissbrauch kommt, sind
weit reichend und unterscheiden sich zwischen den Ausländergenerationen. Im
Folgenden werden deshalb die spezifischen Belastungssituationen der jeweiligen
Ausländergenerationen näher betrachtet.
2.7.1 Belastungssituationen der ersten Ausländergeneration
Die erste Ausländergeneration kann durch vielfältige Belastungssituationen gekennzeichnet werden. Gravierend ist zunächst der Umstand, dass mit dem Wohnortwechsel ein verfestigtes Beziehungsgefüge aufgegeben wird. Migration führt
dazu, dass eine Trennung von der gewohnten Umgebung, der Familie, dem Bekannten- und Freundeskreis und der bedeutsamen Bindung zu einer sozialen
Gruppe stattfindet. Die neue Umgebung basiert weiter meist auf einem Normenund Wertesystem, das sich von dem einheimischen unterscheidet. Die Folge ist
das Auftreten ambivalenter Gefühle. Selbstzweifel, Einsamkeit und Angst vor der
Zukunft begleiten die erste Phase der Migration. Diesen Gefühlen steht jedoch die
Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegenüber, die Mut und neue Kräfte mobilisiert.170
168 Vgl. ebenda, S. 308.
169 Vgl. Salman, Ramazan (1999), Stand und Perspektiven interkultureller Suchthilfe, in: Salman, Ramazan (Hg.) (1999), Handbuch interkulturelle Suchthilfe: Modelle, Konzepte und
Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie, Gießen, S. 11.
170 Vgl. Tuna, Soner (1999), Entwicklungskrisen und migrationsbedingte Belastungen als
Suchtgefährdungspotentiale jugendlicher Migranten, in: Salman, Ramazan (Hg.) (1999),
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Folgende Belastungssituationen lassen sich für die erste Ausländergeneration
feststellen:
Aufenthalts- und arbeitsrechtliche Situation
Erleben des Ausgegrenztseins durch die Mehrheitsbevölkerung
Trennungserfahrungen
Anpassungsdruck an andere Normen und Werte
Identitätskrisen
Rollenverluste und -diffusionen
Ungünstige Wohn- und Arbeitsbedingungen
Kommunikationsschwierigkeiten
Der Belastungssituation171, der die erste Ausländergeneration ausgesetzt ist, stehen jedoch Schutzfaktoren gegenüber. Denn diese Menschen haben ihre Sozialisation in einem sicheren und bekannten Umfeld erfahren. Innerhalb der kleinen
Gemeinde, aus der sie in der Regel stammen, erfuhren sie intensive und herzliche
Umgangsformen, die rollen- bzw. identitätsstiftend wirkten. Weiter kann davon
ausgegangen werden, dass die Verfügbarkeit von Drogen in diesen Gemeinden
nicht in dem Maße vorhanden war wie in Deutschland und somit ein Aufwachsen
ohne Drogenkonsum vorlag.172
2.7.2 Belastungssituationen der zweiten und dritten Ausländergenerationen
Das Verhältnis zwischen Belastungssituationen und Schutzfaktoren, wie es bei
der ersten Ausländergeneration zu beobachten ist, verändert sich bei der zweiten
und dritten Ausländergeneration zu Ungunsten der Schutzfaktoren. Es ist ein Ungleichgewicht zu beobachten, aus dem Belastungen heraus ein größeres Gewicht
erhalten können. Entscheidend sind hierbei die Sozialisationsphasen dieser Generationen. Innerhalb der Familie erfahren die Jugendlichen eine traditionelle Erziehung, die sich an den heimatlichen kulturellen und religiösen Vorstellungen
der Eltern ausrichtet. Außerhalb des Familienkreises sind sie Mitglieder eines
Normen- und Wertesystems, das überwiegend konsumorientiert und individualisiert ist.173
Innerhalb der Familie entstehen für die Jugendlichen Belastungssituationen, die
primär auf verunsicherten Familiensituationen beruhen. Die Eltern versuchen
171 Handbuch interkulturelle Suchthilfe: Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention,
Beratung und Therapie, Gießen, S. 90.
171 Vgl. ebenda, S. 94 f.
172 Vgl. Aksoy, Nimettin (1997), Suchtvorbeugung mit türkischen Eltern, in: Landesstelle
gegen die Suchtgefahren in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart, S. 94.
173 Vgl. Baudis, Rainer (1997), Gastarbeiterkinder, in: Landesstelle gegen die Suchtgefahren
in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart, S. 57.
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References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.