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Mit Urteil vom 27.4.2006 wies der EuGH die Klage ab.338 Die Kommission habe
die gemeinschaftswidrige Ausweisungspraxis Deutschlands nicht hinreichend
nachgewissen.
3.5.3 Besonderer Ausweisungsschutz für Unionsbürger gemäß
Freizügigkeitsgesetz/EU
Während bis zum in Kraft treten des Zuwanderungsgesetzes das Aufenthaltsgesetz/EWG und die Freizügigkeitsverordnung/EG für Unionsbürger Anwendung
fanden, wurden diese Normen im Jahr 2005 nunmehr durch das FreizügG/EU abgelöst. Das FreizügG/EU reguliert in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/
EG339 das aufenthaltsbestimmende Recht für Unionsbürger. Die europäische
Richtlinie sichert dem Unionsbürger und seinen Familienangehörigen das Recht,
sich frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.
Gleichzeitig hebt sie die vormals gültige Richtlinie 64/221/EWG auf. Eine entscheidende Veränderung, die das FreizügG/EU erzeugt, ist im Bereich der Ausweisungsbestimmungen gegenüber Unionsbürger zu sehen. Diese werden durch
den Artikel 28 RL 2004/38/EG geregelt.
Art. 28 Schutz vor Ausweisung
(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer
des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt
in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden
Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn,
die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die
von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt
haben oder
338 EuGH, Urteil vom 27.4.2006 – Rs. C-441/02.
339 In der Fassung vom 29.4.2004.
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b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November
1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
Dies hat nach § 11 FreizügG/EU zur Folge, das die Vorschriften über die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gemäß §§ 53 bis 56 AufenthG auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörige nicht mehr anwendbar
sind.340 Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern können nur
noch unter den erhöhten Anforderungen des § 6 FreizügG/EU in Betracht gezogen werden.
§ 6 Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39
Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht
eingezogen und die Aufenthaltserlaubnis-EU widerrufen werden. Aus den in Satz
1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden.
(2) Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht,
um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es
dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
(3) Der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt kann nach ständigem rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet von mehr als fünf Jahren Dauer nur noch aus
besonders schwer wiegenden Gründen festgestellt werden.
(4) Die in den Absätzen 1 und 3 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken getroffen werden.
(5) Wird der Pass, Personalausweis oder sonstige Passersatz ungültig, so kann dies
die Aufenthaltsbeendigung nicht begründen.
(6) Vor der Feststellung nach Absatz 1 soll der Betroffene persönlich angehört
werden. Die Feststellung bedarf der Schriftform.
340 Vgl. Welte, Hans-Peter (2005), Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU, in: InfAuslR 1/2005, S. 12.
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Gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU (zuvor § 12 AufenthG/EWG) ist der Verlust der
Freizügigkeit nur noch aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und
Gesundheit festzustellen. Gleichzeitig muss der Ausländer durch sein persönliches Verhalten dazu Anlass geben, dass diese erforderlich ist (Art. 39 Abs. 3,
Art. 46 Abs. 1 EG). Ferner muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2
FreizügG).
Ein Unionsbürger kann nach § 6 Abs. 6 FreizügG/EU mithin nur noch nach Ermessen ausgewiesen werden. Absatz 3 der Norm verdeutlicht die Vorgaben des
Artikels 28 der RL 2004/38/EG. Hiernach sollen bei der Verhältnismäßigkeitsüberprüfung die sozioökonomischen Verhältnisse des Unionsbürgers hervorgehoben und stärker gewichtet werden.
Demzufolge kann ein Unionsbürger mit einer Aufenthaltszeit von mehr als fünf
Jahren (Niederlassungserlaubnis) nur noch aus schwer wiegenden Gründen ausgewiesen werden. In diesem Fall muss die Ausländerbehörde den Unionsbürger
»persönlich anhören«.341
Das Bundesverwaltungsgericht entschied in seinem Urteil vom 3.8.2004 auch in
Hinblick auf die zukünftige Regelung des § 6 FreizügG/EU, dass Unionsbürger
nur noch auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung
ausgewiesen werden können. Ferner wies es darauf hin, dass für die gerichtliche
Überprüfung von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger auf die
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der
Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen sei, d.h. anders und günstiger als
bei »normalen« Ausländern, bei denen auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung abgestellt wird (neue Tatsachen hiernach spielen nur im Befristungsverfahren eine Rolle). Hierbei muss den Ausländerbehörden die Gelegenheit eingeräumt werden, ihre Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der neuen
Tatsachen zu treffen.342
Ein absoluter Ausweisungsschutz für Unionsbürger ist allerdings weder im FreizügG/EU noch in der RL 2004/38/EG garantiert. Auch das Änderungsgesetz zum
Freizügigkeitsgesetz 2007 (Entwurf 28.3.07) sieht keinen absoluten Ausweisungsschutz für Unionsbürger vor:
341 Vgl. ebenda.
342 Vgl. Bundesverwaltungsgericht – Urteil vom 3.8.2004 – 1C 30.02, in: InfAuslR 1/2005,
S. 18 ff.
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§ 6 Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 5 Abs. 5 nur
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 39
Abs. 3, Artikel 46 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft) festgestellt und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht
oder über den Daueraufenthalt eingezogen und die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte widerrufen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann
auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei
Monate nach Einreise auftritt.
(2) Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht,
um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es
dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und
hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
(3) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine
familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in
Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
(4) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts
nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.
(5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer
oder mehrer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen
Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
(6) Entscheidungen oder Maßnahmen, die den Verlust des Aufenthaltsrechts oder
des Daueraufenthaltsrechts betreffen dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken
getroffen werden.
(7) Wird der Pass, Personalausweis oder sonstige Passersatz ungültig, so kann dies
die Aufenthaltsbeendigung nicht begründen.
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(8) Vor der Feststellung nach Absatz 1 soll der Betroffene angehört werden. Die
Feststellung bedarf der Schriftform.
Das AuslRÄndG 2007 (Entwurf 28.3.07) konkretisiert mithin § 6 Abs. 3 FreizügG dahingehend, dass sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch
ein erweiterter besonderer Ausweisungsschutz normiert werden. Absatz 3 stellt
auf die soziale und wirtschaftliche Lebenssituation des Betroffenen ab, die zu berücksichtigen ist. Absatz 5 der Norm verleiht einem bestimmten Personenkreis
von Unionsbürgern einen zusätzlichen Ausweisungsschutz. Unionsbürger und
ihre (minderjährigen) Familienangehörige, die seit zehn Jahren in Deutschland
leben, können nur noch aus »zwingenden Gründen« ausgewiesen werden. Hierbei
wird der zwingende Grund anhand des Strafmaßes konkretisiert. Demnach liegt
ein zwingender Grund immer dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder
mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist. Liegt das Strafmaß unter
fünf Jahren und lebt der Unionsbürger seit zehn Jahren in Deutschland, so kann
keine Ausweisung erfolgen. Die rechtskräftige Verhängung einer Sicherheitsverwahrung, die Sicherheitsgefährdung der Bundesrepublik und terroristisches Gefahrenpotential von Seiten des Betroffenen stellen hiernach ebenfalls zwingende
Gründe dar.
3.5.4 Besonderer Ausweisungsschutz für assoziationsberechtigte türkische
Staatsangehörige
Bestimmte türkische Staatsangehörige genießen aufgrund des Beschlusses des
Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB 1/80) hinsichtlich des Aufenthalts und der
Ausweisung eine Sonderstellung. Ein besonderer Status wird hiernach türkischen
Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen eingeräumt.
3.5.4.1 Das Assoziationsverhältnis EWG-Türkei – Rückblick
Am 12. September 1963 wurde von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
und ihren Mitgliedstaaten mit der Türkei ein Assoziationsabkommen geschlossen. Ziel dieses Abkommens ist die Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, die schrittweise Herstellung einer Zollunion und schließlich der Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft. Insbesondere wird betont, »untereinander die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen« zu wollen und sich dabei von den
Art. 39, 40 und 41 des EG-Vertrages leiten zu lassen.343 Dem Assoziationsabkommen wurde 1970 ein Zusatzprotokoll beigefügt, in dem festgelegt wurde, dass die
343 Vgl. Gutmann, Rolf (1996), Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger –
Ihre Entdeckung und ihr Inhalt; 2. Aufl., Baden-Baden, S. 15.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.