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Stellenangebot bewerben darf, selbst wenn der Vater, der mehr als drei Jahre eine
ordnungsgemäße Beschäftigung im Aufnahmestaat ausgeübt hat, bereits in die
Türkei zurückgekehrt ist.
3.6.2 Die kontinuierliche Modifikation des ARB 1/80 durch den EuGH
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes können durchaus als dynamischer
Prozess bezeichnet werden, dessen Intension die schrittweise Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne des Assoziationsabkommens ist. Der EuGH hat
in seinen diversen Auslegungen darauf hingewiesen, dass bei türkischen Arbeitnehmern schon bereits nach einer einjährigen ordnungsgemäßen Beschäftigung
auf dem regulären Arbeitsmarkt eine »Aufenthaltsverfestigung« eintritt, die beim
Vorliegen einer Arbeit bei dem selben Arbeitgeber ein assoziationsrechtliches
Aufenthaltsrecht einleitet.442 Nach vierjähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung
auf dem regulären Arbeitsmarkt »wächst« ein türkischer Arbeitnehmer in eine
aufenthalts- und arbeitsrechtliche Position hinein, deren Beschränkung in Form
einer Versagung der Aufenthaltsgenehmigung lediglich nach Art. 14 ARB 1/80
möglich ist. Der Fall Nazl? hat zudem dokumentiert, dass dem Mitgliedstaat in der
Berufung auf den »ordre public« Grenzen gesetzt sind, was wiederum einen erhöhten Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige bedeutet.
Ferner hat der EuGH allgemeine Begriffe wie »Arbeitnehmer«, »ordnungsgemäße Beschäftigung« und »regulärer Arbeitsmarkt« konkretisiert. So verwies er
beim Arbeitnehmerbegriff auf Art. 39 EG-Vertrag und ordnete die ordnungsgemäße Beschäftigung und den regulären Arbeitsmarkt dem Kompetenzbereich des
nationalen Rechts des jeweiligen Mitgliedstaates zu.
In Anbetracht dieses dynamischen Prozesses ist anzunehmen, dass die Auslegungen des Beschlusses 1/80 von Seiten des EuGH – und somit das Herleiten
neuer Rechten – noch nicht abgeschlossen ist. Solange kein absoluter Ausweisungsschutz für einen bestimmten Personenkreis von türkischen Staatsangehörigen im Aufenthaltsgesetz eingeführt wird, kann von Seiten des Europäischen Gerichtshofes aufgrund der hohen Anzahl von Ausweisungsfällen und den damit
verbundenen Vorabentscheidungsverfahren mit neuen Auslegungen bzw. Konkretisierungen gerechnet werden.
442 Vgl. Allgemeine Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei.
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3.6.3 Besonderer Ausweisungsschutz für assoziationsbegünstigte türkische
Staatsangehörige durch den ARB 1/80
Der Fall »Demirel« verdeutlichte die Auslegungskompetenz des Europäischen
Gerichtshofes für den ARB 1/80. Die vorrangige Bedeutung dieses Falles ist sowohl in der sich entfaltenden Bindungswirkung zu verstehen (inter partes), als
auch in den zusätzlich hinzukommenden, aufenthaltsregulierenden Rechten neben dem Ausländergesetz bzw. Aufenthaltsgesetz. Mit dem Urteil Nazl? hat der
EuGH gezeigt, dass assoziationsbegünstigte türkische Arbeitsnehmer nicht aufgrund von generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden dürfen. Dieses Verbot ist insofern auch auf assoziationsrechtlich begünstigte Familienangehörige zu
übertragen, da Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 die Ausweisungsvoraussetzungen einheitlich für alle vom ARB 1/80 Begünstigten regelt.443 Das bedeutet, dass für assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsbürger dieselben gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsmaßstäbe des Art. 39 Abs. 3 EG-Vertrags i.V.m. der RL
64/221/EWG Anwendung finden bzw. fanden, wie für EU-Staatsangehörige.444
Auch wenn die Richtlinie 64/224/EWG durch die neue Richtlinie 2004/38/EG
aufgehoben wurde, besitzt sie immer noch Geltung für assoziationsbegünstigte
türkische Staatsangehörige. Ihre Geltung verliert sich insofern nicht, als ein Unionsbürger im Falle einer Schlechterstellung durch die neue RL auf die alte Richtlinie zurückgreifen kann. Die neue Richtlinie ist zwar zum jetzigen Zeitpunkt nur
auf Unionsbürger anzuwenden, jedoch wird diese voraussichtlich auch für assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige Anwendung finden.
Im »Allgemeinen Anwendungshinweis des Bundesministerium des Innern zum
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei« in der Fassung 2002 heißt
es: »Art. 14 ARB 1/80 verbietet die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein Aufenthaltstitel nach den Art. 6 und 7 ARB 1/80 besitzt, aus generalpräventiven Gründen (Urteil-Nazl?). Im Rahmen dieser Vorschrift finden die
für EU-Staatsangehörige geltenden gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsmaßstäbe des Art. 39 Abs. 3 EG i.V.m. der Richtlinie 64/221/EWG sowie Art. 40 EG
entsprechende Anwendung.« Die Folge ist, dass bei assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsbürgern lediglich eine spezialpräventive Ausweisung, wie im Falle von Unionsbürgern, zulässig ist. Dies bedeutet, dass vom persönlichen Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und hinreichende schwere
Gefährdung ausgehen muss.
Im Urteil Orfanopoulos und Oliveri wies der Gerichtshof darauf hin, dass der betroffene Personenkreis nur noch nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Eine
443 Vgl. Glupe, Gerrit (2000), Die Ausweisung türkischer Arbeitnehmer nach dem Nazli-
Urteil des EuGH, in: ZAR 4/2000, S. 174.
444 Vgl. EuGH, Urteil vom 20.2.2000 – Rs. C-340/97 (Nazl?), in: InfAuslR 4/2000, S. 161-
165.
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References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.