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1. Einleitung
Rund fünfzig Jahre ist es her, seit die ersten so genannten Gastarbeiter von deutschen Firmen angeworben wurden. Wirtschaftswunder und Arbeitermangel waren der Anlass für das Anwerben von ausländischen Arbeitnehmern vornehmlich
aus südeuropäischen Ländern. Während der Ausländeranteil in Deutschland in
den fünfziger Jahren bei ca. 1% lag, wird dieser heute mit ca. 8,2% beziffert.1
Dass mit dieser gesellschaftlichen Veränderung nicht nur quantitative, sondern
auch qualitative Veränderungen – d.h. kulturelle und politische Fragen – einhergehen, wurde in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder kontrovers diskutiert. Dabei wurde erörtert, ob der deutsche Arbeitsmarkt noch weitere
ausländische Arbeitnehmer beschäftigen kann, ob nicht die kulturelle Vielfalt in
Deutschland ein gesellschaftliches Konfliktpotential darstellt, welches die öffentliche Ordnung und Sicherheit, aber auch die Integration der zweiten Generation von Ausländern gefährdet, und schließlich, mit welchen politischen und gesellschaftlichen Instrumentarien die Integration von Ausländern gewährleistet
werden kann. Innerhalb dieser Debatte wurde es zum Konsens, dass Deutschland
jedenfalls faktisch ein Zuwanderungsland ist. Ein Drittel der 1990 gezählten Bevölkerung der Bundesrepublik hat mit der Zuwanderung seit 1945 zu tun.2 Die
durchschnittlichen Aufenthaltszeiten von zehn und mehr Jahren verdeutlichen,
dass diese Menschen Deutschland nicht nur als vorübergehenden Arbeitsplatz ansehen, sondern wohl auch als neugefundene Heimat. Die Verlagerung des familiären Lebens in das Bundesgebiet, das wirtschaftliche Streben nach mehr Prosperität und die Verflechtung mit der einheimischen Gesellschaft machte aus
Gastarbeitern »Mitbürger«. Dass mit der Zuwanderung auch Probleme einhergehen, wie ungenügende Sprachkenntnisse, mangelnde Ausbildung bzw. berufliche
Qualifikation und Kriminalität, ist eine traurige Wahrheit. Die Politik, zuletzt namentlich die rot-grüne Regierung, hat sich dieser Herausforderung gestellt und
mit dem neuen Zuwanderungsgesetz 2005 ein Programm erarbeitet, das die Zuwanderung nach Deutschland zukunftsorientiert unter Vermeidung von negativen
Aspekten gestalten soll. Kurz beschrieben sieht das neue Zuwanderungsgesetz
vor, die Zuwanderung stärker an den Interessen der Bundesrepublik Deutschland
zu orientieren. Sowohl der befristete Aufenthalt als auch der Daueraufenthalt
qualifizierter Ausländer soll sich am wirtschaftlichen Interesse und den Arbeitsmarktbedürfnissen orientieren.
Gleichzeitig werden Ausländern, die sich für einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet entscheiden, nachzuweisende Integrationsbemühungen (600 Stunden
1 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006), Migration, Asyl und Integration;
14. Aufl., Nürnberg, S. 79.
2 Vgl. Gutmann, Rolf (1996), Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger –
Ihre Entdeckung und ihr Inhalt; 2. Aufl., Baden-Baden, S. 13.
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Sprachkurs und 30 Stunden Orientierungskurs) abverlangt.3 Auch durch die
erfolgreiche Teilnahme an Integrationskursen kann ein Daueraufenthalt erlangt
werden, der den Aufenthaltsstatus des Ausländers verfestigt.
Dieser Ansatz des neuen Zuwanderungsgesetzes stellt innerhalb der Ausländerpolitik ein Novum dar. Erstmals werden Integrationsmaßnahmen für Ausländer
bzw. Zuwanderer auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Neben dem Sprachkurs
soll das Vermitteln von Grundkenntnissen zur Rechtsordnung, zur Geschichte
und zur Kultur in Deutschland der Tatsache Rechnung tragen, dass ohne ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache, des deutschen Rechtssystems sowie der
demokratischen Grundordnung eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft nicht möglich ist.4
Nach bisheriger Rechtslage war der Aufenthaltsstatus vieler Ausländer weder
verfestigt noch sicher. Die Folgen hiervon werden im Verlauf der Arbeit analysiert. Eine zentrale Folge ist sicher auch in psychologischer Hinsicht zu beschreiben. Denn das Gegenstück zum Bleiberecht stellt die Ausweisung bei Straffälligkeit dar. Sie löst die Ausreisepflicht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot aus.5
Betrachtet man den Fall, in dem ein im Bundesgebiet geborener und aufgewachsener Ausländer im Alter von 20 oder 30 Jahren ausgewiesen wird, so lässt sich
die psychologische »Signalwirkung« auch für andere erahnen. Die Möglichkeit
der Ausweisung verdeutlicht, dass einem Zugehörigkeitsempfinden gewisse
Grenzen von Seiten des Gesetzes entgegengesetzt werden. Der Einwand, dass
hier aufgewachsene Ausländer mit ihrer Straffälligkeit eine Abneigung bzw. ihren Widerwillen gegenüber dem deutschen Staat dokumentieren, kann hinterfragt
werden. Zwischen einem Rechtsbewußtsein und einem Zugehörigkeitsgefühl
muss es keinen Zusammenhang geben. Die Möglichkeit der Ausweisung auch
nach vielen Jahren des Aufenthalts wird so auch – vor allem von Seiten des Europarechts – zunehmend problematisiert.
Die vorliegende Untersuchung knüpft an diese Diskussion an und fragt, ob bzw.
wann eine Ausweisung vorgesehen und verhältnismäßig ist. Unter welchen Voraussetzungen ist es gerechtfertigt, ausländische Mitbürger aus der Bundesrepublik auszuweisen, selbst wenn diese seit Jahrzehnten hier leben, in der Gesellschaft
»verwurzelt« sind und allenfalls rudimentäre Beziehungen zu ihrem Passstaat haben? Welche Bestimmungen normieren hierzu das nationale Recht und das Europarecht?
Um diesen Fragen nachzugehen, wird zunächst (2.) eine sozioökonomische Bestandsaufnahme der ausländischen Bevölkerung in Deutschland vorgenommen.
3 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006), Migration, Asyl und Integration; 14.
Aufl., Nürnberg, S. 90.
4 Vgl. ebenda, S. 90.
5 Vgl. Renner, Günter (1999), Ausländerrecht – Kommentar, 7. Aufl., München, S. 211.
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Neben den historischen Aspekten des Anwerbeprozesses werden die Aufenthaltsdauer, der Aufenthaltsstatus, der Integrationsstand und Integrationshindernisse
erörtert. Sodann (3.) werden die rechtlichen Grundlagen der Ausweisung untersucht, um weiter (4.) ihre Auswirkungen in der Praxis zu analysieren. Aufgrund
der europarechtlichen Ausrichtung dieser Arbeit werden dabei Unionsbürger und
assoziationsbegünstigte Türken die zentralen Forschungsgruppen darstellen. Es
soll im Besonderen untersucht werden, unter welchen Umständen Unionsbürger
und türkische Staatsangehörige heute ausgewiesen werden können und welche
rechtlichen Grundlagen ihr Aufenthaltsrecht regeln. Von entscheidender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die diesbezüglichen Leitentscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Anschluss hieran werden die empirischen Ergebnisse der Datenerhebung wiedergegeben. Ausweisungs- und Abschiebungsstatistiken des Bundes,
der Länder und Kommunen verdeutlichen sowohl die Komplexität als auch die
unterschiedlichen Verfahrensarten in der Praxis. Anhand von Fallbeispielen wird
schließlich der weitere Werdegang von ausgewiesenen bzw. abgeschobenen türkischen Staatsangehörigen dargestellt. Die Lebensumstände vor der Ausweisung
bzw. Abschiebung und auch das momentane Leben im Herkunftsstaat der Eltern
werden erläutert. Hierzu wurden anhand eines standardisierten Fragebogens ausgewiesene bzw. abgeschobene türkische Staatsangehörige interviewt.
Vor dem Hintergrund des so gewonnenen soziodemographischen, des rechtlichen
und des faktischen Materials zu Ausweisungen in Deutschland können abschlie-
ßend die Forschungsfragen beantwortende Thesen entwickelt werden.
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References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.