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2. Ausländer in Deutschland
2.1 Historische Aspekte
Zuwanderung korrespondiert mit allen Entwicklungsphasen der Bundesrepublik.6 Sie lässt sich in drei Formen auffächern: Die Aufnahme von Aussiedlern, die
Arbeitsmigration mit anschließender Familienzusammenführung sowie Asyl.7
Mitte der fünfziger Jahre setzte in der Bundesrepublik Deutschland mit dem
»Wirtschaftswunder« ein ökonomischer Aufschwung bisher nicht da gewesenen
Ausmaßes ein. Hohe ausländische Kapitalinvestitionen, die Exportlastigkeit der
deutschen Industrie, die Ausweitung arbeitsintensiver Sektoren und die Erweiterung der Produktion auf gleichem technischem Niveau kennzeichneten die damalige Situation. Von 1951 bis 1956 wuchs das Bruttosozialprodukt im Jahresdurchschnitt real um 9,5%, von 1956 bis 1960 um 6,6%.8 Dem so ausgelösten steigenden Bedarf an Arbeitskräften stand zur gleichen Zeit eine Verringerung des
Angebots gegenüber. Eine der zahlreichen Gründe waren die geburtenschwachen
Nachkriegsjahre, aber auch das Versiegen des Flüchtlingsstroms aus Ostdeutschland bzw. der DDR, von wo seit Kriegsende eine Vielzahl qualifizierter Facharbeiter gekommen war.
2.1.1 Anwerbeabkommen
Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften setzte Mitte der fünfziger
Jahre ein, da sich zu diesem Zeitpunkt bereits der künftige Mangel an einheimischen Arbeitskräften abzeichnete.9 Die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern begann in der Bundesrepublik 1955 offiziell mit dem Abschluss eines
deutsch-italienischen Abkommens über Anwerbung und Vermittlung italienischer Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft. Ähnliche bilaterale Vereinbarungen folgten mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).10 Die
Entscheidung, offene Arbeitsplätze auch mit ausländischen Arbeitnehmern zu besetzen, wurde von allen gesellschaftlich relevanten Gruppen mitgetragen. Nen-
6 Auf die Zuwanderung in das Deutsche Reich wird hier nicht eingegangen.
7 Vgl. Schmid, Josef (2001), Bevölkerungsentwicklung und Migration in Deutschland, in:
Aus Politik und Zeitgeschichte, B43/2001, S. 20-21.
8 Herrmann, Helga (1992), Ursachen und Entwicklung der Ausländerbeschäftigung, in:
Informationen zur politischen Bildung, 4/1992, S. 4.
9 Vgl. ebenda, S. 4.
10 Vgl. ebenda, S. 5.
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nenswerte Diskussionen über alternative oder gesellschaftliche Folgewirkungen
gab es nicht. Politische Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände bis hin
zu den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen sahen in der Ausländerbeschäftigung eine mittelfristig notwendige Übergangserscheinung. Zunächst war für die
angeworbenen Arbeitskräfte eine befristete Zuwanderung vorgesehen. Die ausländischen Arbeitskräfte sollten nach Ablauf ihrer Aufenthaltsfrist in ihre Heimatländer zurückkehren, andere Arbeitskräfte sollten an ihre Stelle treten (Rotationsprinzip).
Abbildung 1:11
Im früheren Bundesgebiet lebten 1951 ca. 506.000 Ausländer, ihr Anteil an der
Gesamtbevölkerung betrug ca. 1%.12 Der wirtschaftliche Aufschwung in den 50er
Jahren und der damit ständig wachsende Bedarf an Arbeitskräften konnte bis
1961 größtenteils durch die Aufnahme von Deutschen aus den Ostzonen bzw. der
DDR gedeckt werden. Bedingt durch den Bau der Mauer und dem damit einsetzenden Ende des Arbeitskräftezustroms aus der DDR kam ausländischen Arbeitnehmern eine immer größere Bedeutung zu. Schon in den späten sechziger Jahren
entschied sich eine wachsende Zahl von ausländischen Arbeitskräften dauerhaft
in Deutschland zu bleiben. Das lag sowohl im Interesse der betroffenen Unter-
11 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006), Migration, Asyl und Integration;
14. Aufl., Nürnberg, S. 79.
12 Ebd.
Ausländer in Deutschland seit 1951
0
1.000.000
2.000.000
3.000.000
4.000.000
5.000.000
6.000.000
7.000.000
8.000.000
1970 1971 1973 1980 1982 1983 1986 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2002 2003 2004 2005
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nehmen als auch der ausländischen Arbeitskräfte. Während die betroffenen Unternehmen ihre eingearbeiteten Arbeitskräfte behalten wollten, entschieden sich
die ausländischen Arbeitnehmer aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeit und
der vorhandenen Infrastruktur für ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland.
Der Nachzug von Familienangehörigen und der hohe Geburtenüberschuss der
ausländischen Bevölkerung führten zwischen 1961 und 1971 zu einem Anstieg
der Zahl der Ausländer von 686.000 (1961) um nahezu 2,8 Millionen auf 3,4 Millionen (1971). Somit erhöhte sich ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1,2
auf 5,6%.13
2.1.1.1 Anwerbestopp
Die sich Ende 1973 abzeichnende Rezession, ihre Verschärfung durch die Ölkrise
und damit die Gefahr hoher Arbeitslosigkeit veranlassten die Bundesregierung im
November 1973, die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer nicht mehr zuzulassen.14 Auf diese Weise sollte der Zustrom von Gastarbeitern unterbunden werden. Der Anwerbestopp mag für viele Gastarbeiter den Anstoß für die Entscheidung gegeben haben, längerfristig in Deutschland zu bleiben. Denn die Möglichkeit, für einen begrenzten Zeitraum in die Heimat zurückzukehren, um dann nach
einer gewissen Zeit wieder in Deutschland arbeiten zu können, war nun nicht
mehr gegeben.
2.1.1.2 Familienzusammenführung
Mit der Verhängung des Anwerbestopps wurde der Familiennachzug geradezu
herausgefordert. Er war die einzig noch zugelassene Form von »Zuwanderung«.
Die Familienzusammenführung war und ist in Deutschland durch den grundgesetzlich garantierten Schutz von Ehe und Familie, der sich auch auf den Kreis der
hier lebenden Ausländer erstreckt, rechtlich abgesichert. Auch wenn durch den
Anwerbestopp15 die Einreise zum Zwecke der Arbeitsaufnahme unterbunden
wurde, stieg die Anzahl der Ausländer durch die verstärkte Inanspruchnahme des
Familienzusammenführungsrechts auf rund 4,7 Millionen im Jahr 1982. Somit
13 Statistisches Bundesamt (2001), Ausländische Bevölkerung in Deutschland, Wiesbaden,
S. 11.
14 Vgl. Forschungsgruppe Kommunikation und Sozialanalyse GmbH (1992), Ausländer,
Aussiedler und Einheimische als Nachbarn, Wuppertal, S. 8.
15 Der Anwerbestopp hat einen kurzfristigen Rückgang der Ausländeranzahl zwischen 1974
und 1977 hervorgerufen.
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besaß zu diesem Zeitpunkt jeder 13. Einwohner (ca. 7,6%) im (ehemaligen) Bundesgebiet nicht die deutsche Staatsbürgerschaft.16
2.1.1.3 Stagnation und Anstieg
Zwischen 1983 und 1986 kam es zunächst zu einem Absinken der Ausländeranzahl. Ausschlaggebend hierfür waren: Weniger Familienzusammenführungen,
eine deutliche Abnahme der Zahl der Asylsuchenden sowie das Rückkehrhilfegesetz, das einen starken Anstieg von Fortzügen auslöste. Ab 1987 stieg die ausländische Bevölkerung im früheren Bundesgebiet dann jedoch wieder an. Bis
1993 stieg nicht zuletzt durch den anhaltenden Anstieg von Asylsuchenden, die
Anzahl der Ausländer auf rund 6.900.000, wodurch sich ein Ausländeranteil von
ca. 8,5% ergab.17
Auch wenn in der Folgezeit bis 2003 die Zahl der im Bundesgebiet lebenden Ausländer auf 7.334.765 zunahm, so hat sich das Wachstum der ausländischen Bevölkerung doch deutlich abgeschwächt. Ausschlaggebend hierfür sind die Änderung des Asylrechts, Wanderungsbewegungen und eine steigende Anzahl von
Einbürgerungen. Der Ausländeranteil im Bundesgebiet betrug 2005 mit
6.755.811 Millionen rund 8,2%; Tendenz abnehmend.18
2.1.1.4 Gastarbeiter – Ausländer – Migrant
Einhergehend mit den statistischen Veränderungen innerhalb der letzten Dekaden
hat sich ein Wandel im Menschenbild in Bezug auf den »Ausländer« vollzogen.
Diese Zeitgeistveränderung drückt sich aus im Wechsel der Begrifflichkeiten. Die
als ausgrenzend empfundene Bezeichnung »Gastarbeiter« zu Beginn der Anwerberphase wurde innerhalb einer Dekade modifiziert. Der Begriff des »ausländischen Mitbürgers« etablierte sich und bestimmte den gesellschaftspolitischen
Diskurs in Deutschland bis in die 90er Jahre. Bedingt durch den prozentual hohen
Ausländeranteil und die langen Aufenthaltszeiten der Ausländer wurden Forderungen von Seiten der Gesellschaftsverbände und politischen Parteien laut,
Deutschland als Zuwanderungsland formaljuristisch anzuerkennen. Spätestens
16 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006), Migration, Asyl und Integration;
14. Aufl., Nürnberg, S. 79.
17 Vgl. Statistisches Bundesamt (2001), Ausländische Bevölkerung in Deutschland, Wiesbaden, S. 11 f.
18 Der Ausländeranteil zwischen 2003 und 2004 verringerte sich von 7,3 Mio. auf 6,7 Mio.
Personen. Grund hierfür ist die Datenbereinigung des Ausländerzentralregisters. Somit
lassen die Zahlen von 2004 und 2005 keinen direkten Vergleich mit den Vorjahreszahlen
zu. Vgl. hierzu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006), Migration, Asyl und Integration; 14. Aufl., Nürnberg, S. 79.
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seit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes wurden die Begriffe
»Zuwanderung« und »Zuwanderer« innerhalb der Ausländerpolitik juristisch
verankert.
Die Veränderung der Begrifflichkeiten beruht primär auf der Anerkennung und
Akzeptanz der tatsächlichen Lebensumstände dieser Bevölkerungsgruppe. Die
erste Generation der angeworbenen Arbeitskräfte bestand vor allem aus allein
stehenden Männern im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, aber auch zunehmend
aus Frauen, die ebenfalls ohne Familie nach Deutschland kamen. Männer- und
Frauenwohnheime bestimmten die Wohnsituation dieser Arbeitskräfte. Jedoch
erwies sich bereits in den 60er Jahren die Vorstellung vom Gastarbeiter, der einige
Jahre hier arbeitet und anschließend zu seiner Familie zurückkehrt, als Trugbild.
Die Entscheidung der Arbeitskräfte nicht nur für einen absehbaren Zeitraum in
Deutschland zu leben und zu arbeiten, führte dazu, dass der Terminus »Gast«
nicht mehr als adäquat erschien. Spätestens seit dem Anwerbestopp und die dadurch verstärkte Inanspruchnahme der Familienzusammenführung von Seiten der
Arbeitskräfte ergab sich eine Modifikation der Begrifflichkeiten im öffentlichen
Diskurs. In immer stärkerem Maße folgten den ausländischen Arbeitnehmern
Ehepartner und Kinder nach. Arbeitssuche, Eheschließungen, Wohnungssuche,
Geburten in Deutschland und Einschulungen bestimmten nun das Alltagsbild der
ausländischen Arbeitskräfte. Diese Änderung der Lebensumstände verdeutlichte,
dass aktive Zuwanderung stattfand. Denn die ehemals angeworbenen Arbeitskräfte entschieden sich bewusst dazu, Deutschland als ihre neue Heimat anzusehen. Der Gast wurde so bald auch als ausländischer Mitbürger wahrgenommen.
Alltagsprobleme in Arbeit und Beruf waren ähnlich denen der Mehrheitsgesellschaft bzw. wurden durch kulturelle Differenzen verstärkt.
Bis Mitte der 80er Jahre nahm die Politik durchaus die unbefriedigende soziale
Lage vieler ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien wahr, von der Erarbeitung eines Einwanderungs- und Integrationskonzeptes zur Behebung von
Missständen wurde dennoch abgesehen, um kein Signal in Richtung Zuwanderung zu geben.
Der Begriff »ausländischer Mitbürger« verdeutlicht dabei den gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Er diente als juristischer »Solidaritätsbegriff«, der auch auf unbeachtete Missstände hindeuten sollte. Erst ab Mitte der 80er Jahre wuchs durch
die Konzeptionslosigkeit in der Ausländerpolitik das öffentliche Unbehagen.
Wachsende Arbeitslosigkeit und steigender Ausländerzuzug führten zu einer Politisierung und Ideologisierung des Ausländerthemas.
Schließlich wurde durch das neue Zuwanderungsgesetz sowohl die juristische
als auch die politische Diskussion vorläufig im Sinne eines parteiübergreifenden
Konsenses beendet, hinsichtlich der Frage ob Deutschland ein Ein- bzw. Zuwanderungsland ist. Die gesellschaftspolitische Relevanz der Novellierung des Ausländergesetzes besteht mithin zentral in der Wahrnehmung dieses Personen-
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kreises. Ein aktives Bekennen Deutschlands zu seinen Zuwanderern und die politische Forderung an diese, sich aktiv einzubringen bzw. zu integrieren, stellen die
zukünftigen Herausforderungen innerhalb der Zuwanderungspolitik dar.
2.2 Aufenthaltsdauer der ausländischen Bevölkerung in Deutschland
»Die Aufenthaltsdauer ist definiert als die Zeit von der ersten Einreise in das Bundesgebiet bis zum jeweiligen Auszählungsstichtag«.19 Von Bedeutung ist die Aufenthaltsdauer insofern, als sie Rückschlüsse auf die emotionalen, sozialen und
wirtschaftlichen Verflechtungen der Ausländer mit der Bundesrepublik zulässt
bzw. diese dokumentiert. Eine Aufenthaltsdauer von mehr als zehn Jahren lässt
mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Vermutung zu, dass diese Ausländer ihren
Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlagert haben. Nach 10-jähriger Aufenthaltsdauer findet kaum mehr eine Lebensgestaltung statt, die sich an kurzfristigen
oder vorübergehenden Phasen orientiert. Ein Beispiel für eine vorübergehende
Phase ist das klassische Beispiel des »Gastarbeiters«, der ohne Familie in einem
Männerwohnheim lebt und am Monatsende einen Teil seines Gehalts der Familie
im Herkunftsland zukommen lässt. Soziale Bindungen bestehen in der Regel lediglich zu Mitbewohnern im Wohnheim und Arbeitskollegen. Eine kleine soziale
Einheit, die isoliert der hiesigen Gesellschaft gegenübersteht. Das aus einer solchen Situation entstehende Gefühl des Fremdseins, ist wohl das charakteristischste Merkmal für eine kurze Aufenthaltsdauer zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in einem fremden Land.20 Mit der Zunahme der Aufenthaltsdauer löst sich
diese isolierte soziale Einheit kontinuierlich auf. Entscheidend ist hierfür auch
das subjektive Empfinden der Betroffenen. Die Fremde wird spätestens durch einen Familiennachzug »heimisch« – ja sogar zur Heimat. Die Kinder lernen die
Sprache der neuen Heimat, soziale Verflechtungen werden in Form von Familienund Arbeitsplatzfreundschaften komplexer bzw. durch wirtschaftliche Prosperität
stärker. Sowohl wirtschaftliche als auch soziale und emotionale Verflechtungen
verlagern den Lebensmittelpunkt und werden zu Ursachen von längeren Aufenthaltszeiten.
19 Statistisches Bundesamt (2001), Ausländische Bevölkerung in Deutschland, Wiesbaden, S. 16.
20 Ausschlaggebend sind hier auch die eigenen kulturellen und religiösen Werte, die im Vergleich zu denen des Aufenthaltsstaates gesetzt werden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.