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Folgende Belastungssituationen lassen sich für die erste Ausländergeneration
feststellen:
Aufenthalts- und arbeitsrechtliche Situation
Erleben des Ausgegrenztseins durch die Mehrheitsbevölkerung
Trennungserfahrungen
Anpassungsdruck an andere Normen und Werte
Identitätskrisen
Rollenverluste und -diffusionen
Ungünstige Wohn- und Arbeitsbedingungen
Kommunikationsschwierigkeiten
Der Belastungssituation171, der die erste Ausländergeneration ausgesetzt ist, stehen jedoch Schutzfaktoren gegenüber. Denn diese Menschen haben ihre Sozialisation in einem sicheren und bekannten Umfeld erfahren. Innerhalb der kleinen
Gemeinde, aus der sie in der Regel stammen, erfuhren sie intensive und herzliche
Umgangsformen, die rollen- bzw. identitätsstiftend wirkten. Weiter kann davon
ausgegangen werden, dass die Verfügbarkeit von Drogen in diesen Gemeinden
nicht in dem Maße vorhanden war wie in Deutschland und somit ein Aufwachsen
ohne Drogenkonsum vorlag.172
2.7.2 Belastungssituationen der zweiten und dritten Ausländergenerationen
Das Verhältnis zwischen Belastungssituationen und Schutzfaktoren, wie es bei
der ersten Ausländergeneration zu beobachten ist, verändert sich bei der zweiten
und dritten Ausländergeneration zu Ungunsten der Schutzfaktoren. Es ist ein Ungleichgewicht zu beobachten, aus dem Belastungen heraus ein größeres Gewicht
erhalten können. Entscheidend sind hierbei die Sozialisationsphasen dieser Generationen. Innerhalb der Familie erfahren die Jugendlichen eine traditionelle Erziehung, die sich an den heimatlichen kulturellen und religiösen Vorstellungen
der Eltern ausrichtet. Außerhalb des Familienkreises sind sie Mitglieder eines
Normen- und Wertesystems, das überwiegend konsumorientiert und individualisiert ist.173
Innerhalb der Familie entstehen für die Jugendlichen Belastungssituationen, die
primär auf verunsicherten Familiensituationen beruhen. Die Eltern versuchen
171 Handbuch interkulturelle Suchthilfe: Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention,
Beratung und Therapie, Gießen, S. 90.
171 Vgl. ebenda, S. 94 f.
172 Vgl. Aksoy, Nimettin (1997), Suchtvorbeugung mit türkischen Eltern, in: Landesstelle
gegen die Suchtgefahren in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart, S. 94.
173 Vgl. Baudis, Rainer (1997), Gastarbeiterkinder, in: Landesstelle gegen die Suchtgefahren
in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart, S. 57.
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durch einen starken erzieherischen Einfluss dem unterschiedlichen Erziehungsstil der öffentlichen Bildungsträger entgegenzuwirken, dem sie selbst kritisch gegenüberstehen. Der Jugendliche befindet sich in der schwierigen Situation, beiden Kulturen gerecht werden zu wollen, obwohl diese widersprüchliche Anforderungen an ihn stellen.174 Für die Phase dieses konfliktorischen Jugendabschnittes werden folgende Phänomene beschrieben:
Rollenunsicherheit und Statusungewißheit
Veränderung des Selbstbildes
Leistungsprobleme mit geschlechtsspezifischen Reaktionen
Probleme der Selbstorientierung und Konfliktbewältigung
Ablösung vom Elternhaus, das Streben nach Selbständigkeit
In der unmittelbaren Alltagswelt der ausländischen175 Jugendlichen können somit
stressfördernde Momente auftreten, die schwerwiegende Folgewirkungen mit
sich bringen und Belastungen aufbauen. Die Ausgangssituation stellt hierbei der
schulische Misserfolg – meist bedingt durch sprachliche Defizite und schlechte
materielle Ausstattung – dar. Die damit einhergehenden schlechteren Zugangschancen zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen können zu negativen Zukunftserwartungen führen.176
Aufgrund der bikulturellen Sozialisation, Rollendiffusionen, Norm- und Wertdiskrepanz, fehlenden Zukunftsperspektive und schulischen Misserfolgen fehlt vielen Jugendlichen ein orientierungsstiftender Erziehungsrahmen. Cliquen und die
»Szene« wirken dagegen identitätsstiftend und regulativ.177 Auch die Sucht stellt
einen Fluchtweg aus diesen Verhältnissen dar178. AKSOY schreibt der Sucht weiterführend folgende Bedeutung zu:
» (...) gleichzeitig bedeutet sie eine Suche nach Anerkennung, egal welcher Art
und Herkunft. Sie griffen zu Drogen, weil sie für sich keine Perspektiven in dieser
Gesellschaft sehen konnten.«179
174 Vgl. Tuna, Soner (1999), Entwicklungskrisen und migrationsbedingte Belastungen als
Suchtgefährdungspotentiale jugendlicher Migranten, in: Salman, Ramazan (Hg.) (1999),
Handbuch interkulturelle Suchthilfe: Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention,
Beratung und Therapie, Gießen, S. 95.
175 Vgl. ebenda, S. 98.
176 Vgl. ebenda, S. 95 ff.
177 Vgl. ebenda, S. 101.
178 Die wurde insbesondere bei türkischen Jugendlichen beobachtet. Vgl. hierzu Aksoy,
Nimettin (1997), Suchtvorbeugung mit türkischen Eltern, in: Landesstelle gegen die
Suchtgefahren in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart, S. 92.
179 Aksoy, Nimettin (1997), Suchtvorbeugung mit türkischen Eltern, in: Landesstelle gegen
die Suchtgefahren in Baden-Württemberg (Hg.) (1997), Sucht und Migration, Stuttgart,
S. 92.
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Erschwerend kommt hinzu, dass ausländische Eltern oftmals die Sucht ihrer Kinder nicht frühzeitig erkennen, um somit adäquat auf sie reagieren zu können. Hier
ist eine nicht ausreichende Sensibilisierung zu beobachten. Eine fortgeschrittene
Sucht und ihr Bekanntwerden innerhalb der Familie werden »privat« gehalten.
Das Aufsuchen professioneller Hilfe setzt regelmäßig viel zu spät ein.180
2.8 Zusammenfassung
Sowohl bei der Gruppe der Unionsbürger als auch der türkischen Staatsangehörigen konnten nahezu gleichlange Aufenthaltszeiten verzeichnet werden. Bezüglich des Aufenthaltsstatus waren jedoch erhebliche Unterschiede aufzufinden.
Während Unionsbürger aufgrund des Freizügigkeitsrechtes meist über unbefristete Aufenthaltsrechte verfügen, sind die Aufenthaltsrechte von einem Großteil
der türkischen Staatsangehörigen nicht eindeutig geklärt bzw. jedenfalls nicht
verfestigt. Dies trifft überraschenderweise insbesondere bei der zweiten und dritten Generation der türkischen Staatsangehörigen in Deutschland zu.
Der Integrationsprozess dieser zweiten und dritten Ausländergeneration ist allgemein durch erhebliche Mängel im Bereich Schulabschluss und Ausbildungsprofil
gekennzeichnet. Es zeigt sich eine Stagnation der schulischen Bildung im Vergleich zu den deutschen Altersgenossen. Der Zugang zu weiterführenden Berufen
mit Fach- und Hochschulreife gelingt lediglich einem geringen Anteil der ausländischen Jugendlichen. Ferner ist zu beobachten, dass eine Bildungsdivergenz
zwischen Jugendlichen aus Unionsstaaten und denjenigen aus der Türkei vorhanden ist. Türkische Schüler weisen ein geringeres Bildungsprofil auf. Die für beide
Gruppen zu beobachtende geringere Abschlussart im Vergleich zu deutschen Jugendlichen führt dazu, dass das Berufsspektrum eingeengt ist und demzufolge die
Berufschancen geringer sind. Während deutsche Jugendliche qualitativ höhere
Bildungsprofile und Ausbildungen anstreben, ist der Anteil dieser bei ausländischen Jugendlichen sehr gering. Erschreckend ist der hohe Anteil von ausländischen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss.
Die hohe Arbeitslosigkeit unter Ausländern dürfte hier ihre Wurzeln haben. Dass
Ausländer statistisch doppelt so oft von Arbeitslosigkeit betroffen sind – insbesondere junge Ausländer der zweiten und dritten Generation – resultiert primär
aus der schlechten Bildungsqualifikation.
Schwache Schulbildung, schlechte Ausbildungen und hohe Arbeitslosigkeit führen unweigerlich zu beschränkten Teilhabemöglichkeiten innerhalb des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland und zu Integrationshindernissen. Die Folge
180 Türkische Eltern schicken ihre suchtkranken Kinder für die Behandlung häufig in die Türkei, was jedoch nur eine kurzfristige körperliche Entgiftung verursacht. Vgl. hierzu ebd.
S. 93.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für straffällige Ausländer, die in Deutschland geboren oder im Kindesalter eingereist sind, stellt sich eine Ausweisung regelmäßig als „Doppelbestrafung“ dar. Auch die Verwurzelung im Bundesgebiet schützt nach nationalen Maßstäben hiervor nur begrenzt. Betrachtet man das sozioökonomische Profil der Ausgewiesenen, so zeigt sich, dass diese fast ausnahmslos der sog. Unterschicht angehören. Bildungsarmut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie der damit einhergehende unsichere Aufenthaltsstatus bestimmen ihr Leben. Im Gegensatz zum bisherigen nationalen Ausländerrecht stellt der Europäische Ausweisungsschutz nun insbesondere für Unionsbürger und assoziationsbegünstigte türkische Staatsangehörige stärker auf faktische Bindungen in der „Heimat“ ab. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist nachweisbar, dass er hierdurch ausgesprochen effektiv wirkt und die Ausweisungszahlen in der Ausländerpraxis deutlich reduziert hat.