§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
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den Beweisführer, seine anspruchsbegründenden Behauptungen zu substantiieren275.
E. Zusammenfassung und Stellungnahme
Trotz der primären Verortung der Informationsansprüche im materiellen Recht
hält auch die ZPO Informationsbeschaffungsmöglichkeiten bereit. Welche Linie
das Prozeßgesetz dabei verfolgt, bleibt mitunter allerdings unklar. Zum einen laufen prozessuale und materielle Ansätze nebeneinander her276, wie die prozessualen
Regelungen zur Urkundenvorlage demonstrieren. Auf der anderen Seite schweigt
sich die Prozeßordnung für vergleichbare Fälle aus, etwa bei der Vorlegung von
Augenscheinsgegenständen, obwohl man eine entsprechende Reglung erwarten
dürfte. Auch in den angedrohten Sanktionen für pflichtwidrig verweigerte Mitwirkung ist die ZPO nicht konsequent. Sie reichen von praktisch kaum beachtlichen
prozessualen Nachteilen wie im Falle der Verletzung der Wahrheitspflicht über
negative Beweiswürdigung in verschiedener Intensität277 bis hin zur Erzwingbarkeit
mit Zwangsmitteln im Falle des § 372a ZPO.
Die Entwicklung der Novellengesetzgebung erklärt dieses Phänomen recht anschaulich. Praktische Probleme wie überlange Verfahrensdauern, Überlastung der
Gerichte und rechtspolitisch notwendig gewordene Privilegierungen bestimmter
Klägergruppen278 haben immer wieder einzelne Korrekturen am Gesetz notwendig
gemacht, während die von Wissenschaft und Praxis oft geforderte "große Reform"
letztlich ausgeblieben ist279.
Die in der ZPO vorgesehenen prozessualen Instrumente, den Prozeßgegner zur
Mitwirkung bei der Aufklärung des prozeßrelevanten Sachverhalts zu bewegen,
sind insgesamt spärlich und wenig effektiv. Die Wahrheitspflicht gem. § 138 Abs. 1
ZPO, von der ganz herrschenden Auffassung lediglich als Verbot der bewußten
Lüge qualifiziert, wird die nicht beweisbelastete Partei kaum veranlassen, dem Beweisführer prozeßrelevante Informationen auszuliefern. Auch von der prozessualen
Vorlagepflicht des § 423 ZPO wird der in Informationsnot befindliche Beweisführer selten profitieren können. Es sind daher im wesentlichen die nachträglich aus
rechtspolitischen Gründen in die ZPO aufgenommen Vorschriften der §§ 372a und
643 ZPO, die wirklich effektive Aufklärung mit prozessualen Mitteln gewährleisten
können. Angesichts ihrer Beschränkung auf bestimmte Verfahrensarten und Streitgegenstände stellen sie im System der ZPO jedoch einen Fremdköper280 dar, der
für die einschlägigen Fallkonstellationen sinnvoll, aber für die Mehrzahl zivilrechtlicher Streitigkeiten eben nicht nutzbar zu machen ist. Die modifizierten Vorlage-
275 Schwab/Rosenberg/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 774.
276 Vgl. hierzu auch Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 90 f.
277 Vgl. etwa §§ 446, 427, 138 Abs. 3 ZPO.
278 Etwa minderjährige Unterhaltsgläubiger im Rahmen des § 643 ZPO.
279 Vgl. hierzu oben Zweiter Teil.§ 2A.III.11.
280 Schlosser, JZ 1991, 599 (604).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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pflichten der §§ 142, 144 ZPO n.F. könnten in diesem Bereich neue Maßstäbe
setzen.
Auch mit der Verpflichtung Dritter, prozeßrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen, bleibt das Prozeßgesetz zurückhaltend. Mit Ausnahme der um
§ 378 ZPO geringfügigst erweiterten Zeugnispflicht werden Dritte auf rein prozessualer Grundlage nicht zur Informationsbeschaffung verpflichtet. Das Verfahren,
Dritte zur Vorlegung von Urkunden heranzuziehen, soweit ein materiell-rechtlicher
Anspruch im Raum steht, war bis 2001 so ineffizient und schwerfällig ausgestaltet,
daß von einer prozessualen Vorlagepflicht kaum gesprochen werden konnte. Zuerst mußte eine rechtliche Sonderbeziehung zum Dritten bestehen281, aus der sich
als Nebenpflicht ein materiell-rechtlicher Anspruch ergeben konnte. Selbst bei
Vorliegen dieser Voraussetzung konnte der Dritte jedoch nicht mit prozessualen
Mitteln zur Vorlage bewegt werden, sondern mußte im Wege eines separaten Prozesses dazu angehalten werden. An dieser Stelle betritt die neugeschaffene Vorlagepflicht für Urkunden und Augenscheinsgegenstände echtes Neuland und verspricht erhebliche Erleichterungen bei der Heranziehung Dritter zur Sachverhaltsaufklärung im Prozeß.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß
A. Der vermeintlich informationsfeindliche Grundansatz
Die Rechtsprechung steht der Frage, inwieweit die nicht risikobelastete Partei im
Prozeß zur Mitwirkung an der Informationsbeschaffung gehalten ist, scheinbar
ambivalent282 gegenüber. Für die über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgehende Frage, wie weit sich der Beweisführer die Kenntnisse seines Prozeßgegners
zunutze machen darf, zieht sie zunächst "markige Grundsätze"283 heran, die den
Eindruck erwecken, sie sei wenig geneigt, einer Partei aus ihrer Informationsnot
herauszuhelfen.
I. Primat des materiellen Rechts
Ob eine Partei Ansprüche gegen die andere auf Erteilung von Auskünften, Rechnungslegung oder die Herausgabe von Unterlagen hat, so der BGH, sei primär eine
281 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 89 weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß
eine materiell-rechtliche Sonderbeziehung der informationsbedürftigen Partei zum Dritten noch
häufiger fehlen wird, als dies im Verhältnis zum Prozeßgegner der Fall ist.
282 Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (460); Wagner, ZEuP 2001, 441 (467).
283 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 94.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.