§ 1 Reformbedarf im Vorfeld des Zivilprozeßreformgesetzes 2001
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Revisionsinstanz einer größeren Breite von Urteilen der Instanzgerichte zugänglich
machen, um einer zunehmenden Rechtszersplitterung durch unanfechtbare Entscheidungen der Eingangsgerichte entgegenzuwirken. Der Schwerpunkt des zivilgerichtlichen Verfahrens sollte dorthin zurückverlegt werden, wo er sinnvollerweise
hingehört, nämlich in die erste Instanz. Der Prozeß sollte noch präziser auf seine
gesellschaftliche Funktion, der zügigen Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zugeschnitten werden. Am Ende des erstinstanzlichen Verfahrens müsse
eine Entscheidung stehen, die von den Parteien wirklich akzeptiert werden kann,
weil sie erkennen, daß das Gericht alle Chancen nutzt, um eine umfassende Prüfung des Sachverhaltes vorzunehmen88, so die Begründung zum Reformgesetz
2001. Nur eine erste Instanz, die den Sachverhalt mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gewissenhaft aufklärt, rechtfertige die Abschaffung der Berufung als zweite Tatsacheninstanz. Zu diesem Zweck müsse die Eingangsinstanz
sowohl inhaltlich als auch personell verstärkt werden. Mit einer entsprechenden
Neukonzeption des Zivilprozesses sollte schließlich auch eine Angleichung an die
Prozeßsysteme der europäischen Nachbarländer einhergehen.89.
Die inhaltliche Stärkung der ersten Instanz sah der Reformgesetzgeber in erster
Linie durch eine "Betonung90" der richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht in
§ 139 ZPO n.F. sowie durch die Institutionalisierung des Schlichtungsgedankens
mittels Einführung einer obligatorischen Güteverhandlung verwirklicht. Die neugestalteten Vorlagepflichten der §§ 142, 144 ZPO n.F. standen dagegen in einer "Reihe weiterer kleinerer Verbesserungen", die "in der Summe nicht unwesentliche
Verbesserungen des erstinstanzlichen Verfahrens" mit sich bringen sollten91, indem
die tatsächlichen Grundlagen des Rechtsstreits besser und schneller ermittelt werden. Mit der Erweiterung der Vorlagepflichten auf Dritte erhoffte man sich eine
Steigerung der Effizienz bei der erstinstanzlichen Klärung des Tatsachenstoffes.
B. Der Reformbedarf aus Sicht der Wissenschaft
Die Absicht der Auflösung bisher bestehender rechtlicher Unklarheiten, beispielsweise des fehlenden Gleichlaufes zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis
oder gar die Intention einer grundlegenden Veränderung des Beweisrechts, finden
sich in den Motiven des Reformgesetzgebers nicht, obwohl offensichtlich gewesen
sein dürfte, daß die Änderungen der Vorlagepflichten diese Themen nicht nur am
Rande berühren und in der Wissenschaft Anlaß zu einer grundsätzlichen Diskussion über bisher als unbefriedigend empfundene Zustände nach sich ziehen würde.
Die zahlreichen Stellungnahmen im Schrifttum zur Erweiterung der Vorlagepflichten, die sich um die richtige Interpretation dieser Neuerungen bemühen, belegen,
daß die Wissenschaft von einem Reformbedarf ausgeht, der weit über den vom
88 BT-Drs. 14/4722, S. 58.
89 BT-Drs. 14/4722, S. 70.
90 BT-Drs. 14/4722, S. 1.
91 Vgl. Däubler-Gmelin, FS-Geiss, 2000, 45 (75).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Gesetzgeber empfundenen hinausgeht. Maßgebliche Stimmen im Schrifttum92
fordern seit Jahrzehnten einen Prozeß, der die wahren tatsächlichen Geschehensabläufe zur Grundlage eines Urteils macht und die in Beweisnot befindliche Partei
nicht regelmäßig mit einer für sie unbefriedigenden Beweislastentscheidung zurückläßt. Mit Verweis auf die insoweit für fortschrittlich gehaltenen Rechtsordnungen
unserer Nachbarn wird in der Literatur seit geraumer Zeit eine verstärkte Heranziehung der nicht beweisbelasteten Partei bei der Aufklärung des streitrelevanten
Sachverhalts gefordert. Ob und inwieweit der Gesetzgeber mit der Modifikation
der §§ 142 und 144 ZPO hier einen Schritt in die geforderte Richtung getan hat,
wird im Schrifttum bisher unterschiedlich, überwiegend aber kritisch beurteilt93.
Inwieweit ist der Beweisgegner nach neuer Gesetzeslage verpflichtet, Urkunden
und Augenscheinsgegenstände zur Verfügung zu stellen, um seinem Prozeßgegner
die Beweisführung zu erleichtern? Wie weit geht die Pflicht eines Dritten, Urkunden und Augenscheinsgegenstände in einem Prozeß vorzulegen, an dem er selbst
gar nicht beteiligt ist? Geht die Befugnis des Gerichts, auf eigene Initiative Beweis
zu erheben, tatsächlich erstmals in der Geschichte der ZPO weiter als die der Parteien? Sind die neuen Vorlagepflichten ein erster Schritt hin zur Anerkennung einer
allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei? All
diese Fragen warten unmittelbar nach der Reform auf eine Antwort und werden
insbesondere im Schrifttum bis heute unterschiedlich beantwortet.
Will man die Reichweite der neugestalteten Editionspflichten für Parteien und
Dritte ermitteln, müssen sie zunächst in die bereits bestehende Systematik der
Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß integriert werden. Dies ist keine ganz leichte
Aufgabe, denn der von Wissenschaft und Praxis seit langem gesehene Reformbedarf im Stoffsammlungs- und Beweisrecht des Zivilprozesses hat dazu geführt, daß
neben der rudimentär ausgestalteten gesetzlichen Systematik inzwischen ein hochdifferenziertes System sich gegenseitig überlagernder Mitwirkungspflichten bei der
Sachverhaltsaufklärung existiert, das insbesondere die Rechtsprechung immer weiter fortentwickelt hat94. Darüber hinaus hat die Lehre teils abweichende und inhaltlich noch weitergehende Lösungsvorschläge entwickelt95, die mit denen der Rechtsprechung zunehmend in Konkurrenz treten. Die neuen Vorlagepflichten werden
im Lichte beider vorangegangener Entwicklungen betrachtet werden, um ihre
Reichweite für die Zukunft zu bestimmen.
92 Vgl. etwa Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976; Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl,
Rn. 426 ff.; ders. JZ 1991, 599 ff.; AK ZPO-Schmidt, § 138, Rn. 5, 17 ff.; Katzenmeier, JZ 2002, 533
(538 ff.); Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (472 ff.); Wagner, ZEuP 2001, 441 (470 f.); Musielak-
Stadler, 5. Aufl., § 138, Rn. 11; Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 93 ff., 265 f.; Lorenz, ZZP 111
(1998), 35 (43 ff.); MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138, Rn. 22; ders., FS-Schwab, 1990, 399 ff.; Paulus, ZZP 104 (1991), 397 (409).
93 Sie hierzu die Ausführungen und Nachweise in der Einleitung.
94 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 3.
95 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 4.
§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
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§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
Im folgenden soll die Entwicklung der Regeln über die Sachverhaltsaufklärung im
Zivilprozeß bis hin zum Status quo unmittelbar vor der Reform des Jahres 2001
beleuchtet werden, um eine Einordnung der neuen Editionspflichten in das bestehende System zu ermöglichen. Der Entwicklungsgang der ZPO wird verdeutlichen,
wann und wo Rechtsprechung und Wissenschaft mit ihrem Bemühen angesetzt
haben, die Verantwortung der Parteien für die Sachverhaltsaufklärung zu verstärken und zu modifizieren. Die nach Prozeßrecht und materiellem Recht bereits
bestehenden Informationsmöglichkeiten lassen einen Rückschluß auf den praktischen Bedarf erweiterter Vorlagepflichten zu. Prozeßrecht und materielles Recht
werden deshalb zunächst daraufhin untersucht, welche Möglichkeiten der Informationsbeschaffung sie der darlegungs- und beweisbelasteten Partei gegenüber dem
Prozeßgegner abseits der im Rahmen der Reform 2001 modifizierten Vorlageansprüche gewähren.
A. Der Beibringungsgrundsatz
Um Einzelprobleme des Prozeßrechts, deren Wirkungen weit in das System des
Gesetzes reichen, einer dogmatischen Lösung zuzuführen, kommt man nicht umhin, die in diesem Zusammenhang von einem Großteil der Literatur für entscheidend befundenen Strukturprinzipien des geltenden Prozeßrechts näher zu beleuchten.
Besonders auffällig ist es, daß in der Diskussion um die Frage, inwieweit das
Gericht auf eigene Initiative streitigen Sachverhalt aufklären darf bzw. in welchem
Maße die Parteien untereinander zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung
verpflichtet sein sollen, immer wieder der Beibringungsgrundsatz ins Feld geführt
wird. Das Verständnis für Bedeutung, Reichweite und Verbindlichkeit dieser Prozeßmaxime ist daher auch für die Beantwortung der hier interessierenden Einzelfragen hinsichtlich der Reichweite der neugestalteten Vorlagepflichten von grundsätzlicher Bedeutung. Strukturprinzipen unterliegen jedoch dem Wandel der Zeit,
insbesondere wenn sie so hehre Werte wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit des Individuums für sich selbst betreffen. Für die Heranziehung
einer Prozeßmaxime zur Klärung aktueller Rechtsfragen ist es daher zweckmäßig,
sich diesen Wandlungsprozeß bewußt zu machen, ohne dabei die interessierenden
Einzelfragen aus dem Blick zu verlieren.
I. Bedeutung des Beibringungsgrundsatzes
Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß bedeutet in erster Linie das Zusammentragen derjenigen Tatsachen, die zwischen den Parteien zu dem anhängigen Rechtsstreit geführt haben und die das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen soll. Wird diese Sammlung des Tatsachenstoffes vom Gericht wahrgenommen, spricht man von Untersuchungsgrundsatz oder Inquisitionsmaxime.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.