Einleitung
Das Bedürfnis der Parteien eines Zivilprozesses, Urkunden zum Beweis streitiger
Tatsachen heranzuziehen, ist groß, gilt die Urkunde doch im Vergleich zu den
übrigen Strengbeweismitteln der ZPO1 als besonders zuverlässiges Beweismittel2,
weil sie die benötigten Informationen unmittelbar "schwarz auf weiß" liefert. Probleme anderer Beweismittel, etwa die mangelnde Glaubwürdigkeit eines Zeugen
oder der vernommenen Partei, scheinen sich bei der Beweisführung mit Urkunden
zu erübrigen; dies jedenfalls dann, wenn man die heute vielfältig verfügbaren technischen Möglichkeiten der Manipulation von Schriftstücken einmal außer Acht
läßt. Der besondere Wert, der dem Beweismittel Urkunde zugemessen wird, dürfte
heute sogar weniger in ihrer vermeintlichen "Unbestechlichkeit" als vielmehr darin
zu sehen sein, daß viele Vorgänge des Wirtschaftslebens schriftlich festgehalten
werden und entsprechende Dokumente oft das einzig verfügbare Beweismittel für
die im Prozeß beweisbedürftigen Tatsachen darstellen. Allein der Umstand, daß
eine Urkunde existiert, die geeignet erscheint, eine im Prozeß streitige Tatsache zu
beweisen, hilft demjenigen, der den Beweis zu führen hat, allerdings oftmals nicht
weiter.
Besondere Probleme bereitet seit jeher die Einführung einer Urkunde in den
Prozeß für denjenigen, der die Urkunde nicht selbst in den Händen hält, sie aber
zur Beweisführung benötigt. Stellt es für den Beweisführer im Falle des Zeugenbeweises die größte Herausforderung dar, Namen und ladungsfähige Anschrift des
Zeugen zu ermitteln, reichen Kenntnis von der Existenz und des Aufbewahrungsortes einer Urkunde regelmäßig nicht aus, um diese im Prozeß als Beweismittel
nutzen zu können. Dem am Prozeß unbeteiligten Dritten wurde es lange Zeit nicht
zugemutet, über seine mündliche Aussage im Prozeß als Zeuge hinaus zur Klärung
fremder Rechtsstreitigkeiten beitragen zu müssen. Das Recherchieren nach evtl.
vorhandenen Dokumenten sowie die Preisgabe möglicherweise gar schriftlich
festgehaltener vertraulicher Informationen wurde vom historischen Gesetzgeber
unserer Zivilprozeßordnung als Zumutung empfunden, die über das für vertretbar
gehaltene Maß hinausgeht3. Auch der Prozeßgegner mußte sich über lange Zeit
wenig Sorgen machen, daß das Gericht ihn dazu auffordern könnte, eine in seinem
Besitz befindliche Beweisurkunde der beweisführenden Partei zur Verfügung zu
stellen. Solange er nicht selbst ankündigte, die Urkunde als Beweismittel verwenden
1 Paragraphen der ZPO werden im folgenden mit dem Zusatz "a.F." für die Fassung vor Inkrafttreten des Zivilprozeßrechtsreformgesetzes vom 27.07.2001, mit "n.F." für die Fassung nach dessen Inkrafttreten zitiert, soweit es auf diese Unterscheidung ankommt. Ohne einen solchen Zusatz werden die Vorschriften zitiert, wenn der Gesetzestext durch die Reform unverändert geblieben ist oder eine erfolgte Änderung für die konkrete Nennung ohne Bedeutung ist.
Vorschriften der ZPO aus einer älteren Fassung des Gesetzes werden mit der Jahresangabe hinter der Gesetzesbezeichnung zitiert.
2 Balzer, Beweisaufnahme und Beweiswürdigung, 2001, 135; Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (331).
3 Hahn, Die gesammten Materialien zur CPO, Band 1.1, 1. Abt., 1880, 325.
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zu wollen, mußte er mit einer Vorlageanordnung des Gerichts nur dann rechnen,
wenn die beweisführende Partei über einen entsprechenden Einsichts-, Vorlageoder Herausgabeanspruch verfügte.
Hintergrund dieser für den Beweisführer nicht selten als äußerst unbefriedigend
empfundenen Konstellation waren die gesetzlichen Regeln in der ZPO über die
Vorlage von Urkunden im Zivilprozeß. Bis heute bietet das Gesetz nur zwei Wege
an, auf denen eine Urkunde Eingang in den Prozeß finden kann. Der erste liegt im
parteibetriebenen Antritt des Urkundenbeweises. Der zweite Weg führt über eine
gerichtliche Vorlageanordnung, unabhängig vom Beweisantritt einer Partei.
Der parteibetriebene Urkundenbeweis wird gem. § 420 ZPO durch Vorlegung
der Urkunde angetreten. Hält nicht der Beweisführer, sondern der Gegner die
Urkunde in den Händen, so wird der Beweis dadurch angetreten, daß das Gericht
auf Antrag des Beweisführers dem Gegner die Vorlage der Urkunde aufgibt. Diese
Anordnung darf das Gericht aber nur dann erlassen, wenn der Beweisführer entweder einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Herausgabe der Urkunde hat
(§ 422 ZPO), oder wenn sich der Gegner in seinem Vortrag selbst zur Beweisführung auf die Urkunde bezogen hat (§ 423 ZPO). Ist beides nicht der Fall, kann der
Beweisführer den Beweis auf diesem Wege mit der begehrten Urkunde nicht führen. Benötigte die risikobelastete Partei zum Beweis eine Urkunde, die ein am Prozeß unbeteiligter Dritter in den Händen hielt, war sie bis zum Inkrafttreten des
Zivilprozeßreformgesetzes am 01.01.2002 gem. § 429 ff. ZPO a.F. ebenfalls auf
einen Herausgabeanspruch angewiesen, den sie zunächst in einem gesonderten
Prozeß geltend zu machen und ggf. anschließend zwangsweise durchzusetzen hatte.
Bei der gerichtlichen Vorlageanordnung handelt es sich nicht um den Beweisantritt einer Partei, sondern um eine im Ermessen des Gerichts stehende prozeßleitende Verfügung4. Gem. § 142 ZPO kann das Gericht gegenüber den Parteien im
Rahmen seiner materiellen Prozeßleitung unter bestimmten Voraussetzungen die
Vorlage der in ihren Händen befindlichen Urkunden anordnen. Motiv für das
Gericht kann es dabei sowohl sein, sich lückenhaften oder widersprüchlichen Tatsachenvortrag der Parteien verständlich zu machen, als auch streitige Tatsachen im
Prozeß einem Beweis zuzuführen. Die ganz überwiegende Auffassung im prozeßwissenschaftlichen Schrifttum wollte es jedoch vermeiden, daß das Gericht auf
diesem Wege von der nicht beweisbelasteten Partei die Vorlage einer Urkunde
fordern konnte, die sich der Prozeßgegner auf eigene Initiative durch Antritt des
Urkundenbeweises nicht hätte verschaffen können, weil es ihm hierfür an dem
vorausgesetzten materiell-rechtlichen Anspruch gefehlt hätte. Unter Heranziehung
der §§ 422, 423 ZPO wurde daher zu § 142 ZPO a.F. die Auffassung vertreten, das
Gericht könne eine Vorlage gegenüber der nicht beweisbelasteten Partei nur dann
anordnen, wenn die Voraussetzungen für einen parteibetriebenen Urkundenbeweis
vorliegen. Eine Vorlageanordnung auf Initiative des Gerichts gegenüber einem
Dritten sah das Gesetz bis zum 1.1.2002 nicht vor.
4 Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 142, Rn. 6; Zöller-Greger, 26. Aufl., § 142, Rn. 1.
Einleitung
27
Durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses5 vom 27.07.2001, das zum
01.01.2002 in Kraft getreten ist, wurde - neben zahlreichen weiteren Änderungen6 die Vorlagepflicht für Urkunden gem. § 142 ZPO neu gefaßt und inhaltlich in
zweierlei Hinsicht verändert. Zum einen scheint die neugefaßte Vorschrift ihrem
Wortlaut nach auch eine Vorlageanordnung gegenüber der nicht beweisbelasteten
Partei zu erlauben. Zum anderen enthält sie eine dem deutschen Zivilprozeßrecht
bisher unbekannte Befugnis des Gerichts, die Vorlage einem am Prozeß unbeteiligten Dritten aufzugeben und dies im Falle unberechtigter Verweigerung mit
Zwangsmitteln durchzusetzen7. Parallel zu dieser neu geschaffenen Befugnis des
Gerichts hat der Reformgesetzgeber dem Beweisführer einen zusätzlichen Weg
geebnet, durch einen Beweisantritt Zugang zu einer Urkunde zu erlangen, die sich
in den Händen eines Dritten befindet. § 428 S. 2 ZPO n.F. bietet nun die Möglichkeit, den Urkundenbeweis dadurch anzutreten, daß er das Gericht ersucht, eine
Vorlageanordnung gegenüber dem Dritten gem. § 142 ZPO n.F. erlassen.
Die Verpflichtung Dritter, auf Anordnung des Gerichts Urkunden in einem
Prozeß vorzulegen, an dem sie selbst nicht beteiligt sind, hat der Gesetzgeber im
Zuge des Reformgesetzes auch auf sonstige Gegenstände ausgedehnt, die zwar
nicht dem Urkundenbeweis, dafür aber dem Augenscheins- bzw. dem Sachverständigenbeweis unterliegen. Die entsprechende Vorschrift findet sich in § 144 ZPO
n.F., der schon vor der Reform im Jahr 2001 als Parallelvorschrift zu § 142 ZPO
a.F. für die Vorlage von Augenscheinsgegenständen anzusehen war. Auch in den
Vorschriften zum Antritt des Augenscheinsbeweises auf Initiative einer Partei
findet sich nun eine Regelung, wonach der Beweisführer den Augenscheinsbeweis
dadurch antreten kann, daß das Gericht einem Dritten gegenüber, der den begehrten Gegenstand besitzt, eine gerichtliche Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F.
erlassen möge.
Für den Augenscheinsbeweis brachte das Zivilprozeßreformgesetz außerdem
noch eine weitere bemerkenswerte Neuerung. In § 371 Abs. 3 ZPO n.F. wurde eine
Sanktion für die nicht beweisbelastete Partei für den Fall geschaffen, daß sie eine
ihr zumutbare Inaugenscheinnahme eines Gegenstands vereitelt. Bemerkenswert ist
die Aufnahme dieser Sanktionsnorm in die ZPO vor allem deshalb, weil die ZPO
bis zur Reform im Jahr 2001 keinerlei Aussage darüber enthielt, ob, und wenn ja,
wie weitgehend die nicht beweisbelastete Partei verpflichtet ist, in ihrem Besitz
befindliche Gegenstände für einen Augenscheinsbeweis vorzulegen. Eine den
§§ 422, 423 ZPO a.F. für Urkunden entsprechende Regelung fehlte für Augenscheinsgegenstände, obwohl Urkunde und Augenscheinsgegenstand mitunter nicht
leicht voneinander abgrenzbar sind.
5 Zivilprozeßreformgesetz vom 27.07.2001, BGBl. I 2001, 1887 ff.; Begründung in BT-Dr.
14/4722, folgend "Reform 2001".
6 Einen Überblick über die Änderungen geben Schneider, ZPO-Reform, 2002, Gehrlein, Zivilprozessrecht nach der ZPO-Reform, 2001; Pukall/Kießling, WM 2002, Sonderbeilage 1; Hartmann,
NJW 2001, 2577 ff.
7 Eine entsprechende Befugnis enthält nunmehr auch § 144 ZPO n.F. für die Vorlage sonstiger
Gegenstände.
28 Einleitung
Die Änderungen - vorwiegend die des § 142 ZPO - sorgten bereits während des
Gesetzgebungsverfahrens für Aufsehen8 und sahen sich seitdem herber Kritik
ausgesetzt. Die Einführung der Vorlagepflichten für Dritte wird als Paradigmenwechsel bezeichnet, der mit einem Einstieg in die Untersuchungsmaxime einhergehe9. Viel zu unklar sei die Neuregelung etwa im Hinblick auf die Frage, wann der
Dritte die Vorlage verweigern könne10. Die neugestaltete Vorlagepflicht der Parteien wird von Teilen der Literatur als zu weitgehend empfunden. Wegen der damit
einhergehenden Gefahr einer Ausforschung11 des Prozeßgegners wurde sogar die
die nachhaltige Schädigung der deutschen Wirtschaft prognostiziert12. Durch die
Neuregelung nähere sich der deutsche Prozeß dem US-amerikanischen pre-trial
discovery Verfahren an13, was mit der Prozeßtradition hierzulande unvereinbar sei,
so die Kritiker der Änderungen auf der einen Seite. Andererseits wird aber auch
beklagt, der Gesetzgeber habe nicht den Mut aufgebracht, noch weiter zu gehen
und der nicht beweisbelasteten Partei im Zivilprozeß eine allgemeine Mitwirkungspflicht an der Herbeischaffung von Beweismitteln aufzuerlegen14, wie dies in vielen
benachbarten Rechtsordnungen15 bereits lange Standard sei16 und wie es einem
modernen Verständnis des Zivilprozesses entspräche17. Mit der getroffenen Regelung habe der Gesetzgeber zwar einen Schritt in die richtige Richtung getan, gleichzeitig jedoch den Zivilprozeß bedenklich zugunsten einer amtswegigen Sachverhaltsaufklärung weiterentwickelt18.
Die kritischen Stellungnahmen gehen von den Extrempunkten deutschen Prozeßverständnisses aus. Hinter ihnen kommen teils ideologisch geführte Auseinersetzungen über die Lösung systemimmanenter Spannungsverhältnisse zum Vorschein, die so alt sind wie die ZPO selbst. Das Verhältnis zwischen Richter- und
Parteienaktivität19 bei der Aufklärung des Sachverhaltes steht stets auf dem Prüfstand, wenn es um die Erweiterung richterlicher Aufklärungsbefugnisse geht. E-
8 Vgl. Änderungsantrag der F.D.P-Fraktion, BT-Dr. 14/6061, S. 2 sowie die Kritik im Rahmen
einer Verfahrenssimulation bei Dieckmann, JZ 2000, 760 (762).
9 Steuer, WM 2000, 1889 (1889).
10 Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3132); Steuer, WM 2000, 1889 (1889); Schneider E., MDR 2004, 1 (1);
Schellhammer, MDR 2001; 1084; Pukall/Kießling, WM 2002, Sonderbeilage 1, 1 (12); Geiger, DAR
2002, 335 (336).
11 Vgl. Kraayvanger/Hilgard, NJ 2003, 572 (574).
12 Dombek, BRAK-Mitt. 2001, 122 (124).
13 Lüpke/Müller, NZI 2002, 588 (589); Kraayvanger/Hilgard, NJ 2003, 572 (574); Dombek, BRAK-
Mitt. 2001, 122 (124); Oberheim, JA 2002, 408 (412).
14 Katzenmeier, JZ 2002, 533 (533, 537, 540).
15 Verwiesen wird in erster Linie auf entsprechende Regelungen in Österreich, Frankreich und
Großbritannien.
16 Vgl. die Kritik bei Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3130); ebenso Stadler, FS-Beys, 2003, 1625
(1645); Schlosser, JZ 91, 599 (599 f.); ders. NJW 1992, 3275 (3275).
17 Katzenmeier, JZ 2002, 533 (533, 537, 538).
18 Stadler, FS-Beys, 2003, 1625 (1626), die, bezugnehmend auf die Kritiker der Neuregelung, von
einer das deutsche Prozeßrecht prägenden "discovery-phobie" spricht.
19 Einen Überblick über die Diskussion zu diesem Thema seit Inkrafttreten der CPO 1877 bei
Stürner, Die richterliche Aufklärung, 2 ff.; als "grundsätzlichste Frage" bezeichnet Arens das Verhältnis von Richtermacht und Parteirechten im Zivilprozeß, Arens, ZZP 96 (1983), 1 (18 f.).
Einleitung
29
benso betroffen ist die Frage, ob und inwieweit die nicht beweisbelastete Partei bei
der Aufklärung und Feststellung des streitigen Sachverhaltes im Zivilprozeß zur
Mitwirkung verpflichtet ist. Die Diskussion um das Bestehen einer allgemeinen
prozessualen Aufklärungs- und Mitwirkungspflicht der nicht beweisbelasteten
Partei war prägend für die Prozeßrechtswissenschaft der vergangenen Jahrzehnte20
und flammt an dieser Stelle wieder auf. Mit der Erweiterung der Urkundenvorlagepflichten kommt unweigerlich die Frage auf, ob und wenn ja, inwieweit der Gesetzgeber der Anerkennung einer solchen Pflicht den Weg geebnet hat. Bemängelt
wird seit langem, daß die ZPO der unverschuldet in Beweisnot geratenen Partei nur
unzureichende Instrumente zur Verfügung stellt, den Beweisgegner an der Feststellung des streitigen Sachverhaltes zu beteiligen. Mit der Ausweitung der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände hat der Gesetzgeber das
Instrumentarium der ZPO ausgebaut, wobei er die Änderungen lediglich als "behutsame Erweiterung" zum Zwecke der Stärkung der materiellen Prozeßleitungsbefugnis des Gerichts verstanden wissen will21.
Die Motive für die Reform lassen auf den ersten Blick vermuten, daß sich der
Gesetzgeber bei der Modifizierung der Vorlagepflichten nicht von den Vorschlägen
der Prozeßrechtswissenschaft hat leiten lassen, eine allgemeine prozessuale Mitwirkungspflicht der Parteien bei der Feststellung des Streitstoffes einzuführen22. Im
Vordergrund der Überlegungen zur Reform stand die Stärkung der ersten Instanz
mit dem Ziel, einen Rechtsstreit möglichst zügig in einer Instanz endgültig zu beenden. Als Voraussetzung hierfür sah der Reformgesetzgeber die Bereitschaft der
Parteien, eine erstinstanzlich getroffene Entscheidung zu akzeptieren. Dies wiederum setze voraus, daß das Gericht bereits im erstinstanzlichen Verfahren von sämtlichen Möglichkeiten zur Aufklärung des streitigen Sachverhaltes Gebrauch mache23.
Für die Frage, inwieweit die nicht darlegungs- und beweisbelastete Partei zur
Mitwirkung bei der Feststellung streitiger Tatsachen im Rahmen der Beweisführung
verpflichtet ist, spielten die Regelungen über den Urkundenbeweis schon in der
Vergangenheit stets eine zentrale Rolle. Nur für den Urkundenbeweis finden sich in
der ZPO Regelungen, unter welchen Voraussetzungen der Beweisgegner (§§ 422,
423 ZPO) oder ein Dritter (§ 429 ZPO) zur Mitwirkung an der Beweisführung
verpflichtet ist. Da das Gesetz insbesondere für den Augenscheinsbeweis keinerlei
entsprechende Regeln vorsieht, wurden die Regeln des Urkundenbeweises bereits
in der Vergangenheit zur Auslegung der Mitwirkungsfragen bei den anderen Beweismitteln herangezogen. Je nachdem, ob man den Mitwirkungsregeln zum Urkundenbeweis Ausnahmecharakter oder einen allgemeinen Rechtsgedanken zuweist, wird man eine inhaltliche Übertragung auf andere Beweismittel, insbesondere
20 Vgl. Katzenmeier, JZ, 2002, 533 (535).
21 BT-Drs. 14/6036, S. 120 - Beschlußempfehlung Rechtsausschuß.
22 So etwa der Vorschlag von Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 15 ff.
23 BT-Drs. 14/4722, S. 61 - Regierungsentwurf.
30 Einleitung
auf den Augenschein, befürworten oder ablehnen, die Vorschriften also als Ausnahmen oder als analogiefähig ansehen24.
Die vorliegende Arbeit will die Neuregelungen einschließlich der mit ihr in Zusammenhang stehenden Änderungen durch das Zivilprozeßreformgesetz vom
27.07.2001 untersuchen und aufzeigen, wie weit die neuen Vorlagepflichten für
Dritte in der Praxis reichen. Darüber hinaus soll untersucht werden, welche Auswirkungen die angesprochenen Änderungen auf die Mitwirkungspflichten der nicht
beweisbelasteten Partei beim Urkundenbeweis und beim Augenscheinsbeweis nach
sich gezogen haben.
Um die vom Reformgesetzgeber vorgenommenen Modifikationen bei den Vorlagepflichten nachzuvollziehen, empfiehlt sich zunächst ein kurzer Überblick über
Rechtslage vor der Reform. Zu Beginn der Untersuchung steht daher eine knappe
Darstellung der verschiedenen Varianten des Beweises mit den Strengbeweismitteln
der ZPO, wie sie sich bis zum 01.01.2002 aus dem Gesetz ergaben. Ein zweiter Teil
soll diejenigen Grundlagen erarbeiten, auf denen einerseits die Kritik der Neuregelung beruht und an denen sich andererseits die Vernachlässigung berechtigter Informationsinteressen der beweisbelasteten Partei in der Vergangenheit manifestiert
hat. Unter Berücksichtigung der hier analysierten Systematik des Beweisrechts, der
Rechtsprechung sowie der Ergebnisse eines kurzen Vergleiches mit der Rechtslage
anderer Staaten, widmet sich die Untersuchung in ihrem dritten Teil der Auslegung
der neuen Vorlagebestimmungen für Urkunden und Augenscheinsgegenstände.
Dabei sollen zunächst die neuen Vorlagepflichten im Hinblick auf ihre bisher noch
nicht vollständig geklärte Reichweite25 gegenüber Dritten untersucht werden. Im
Anschluß werden die Auswirkungen der Neuregelungen auf die Möglichkeiten des
Beweisführers, Beweis mit im Besitz des Prozeßgegners befindlichen Urkunden
und Augenscheinsgegenständen zu führen, analysiert.
Die neue Rechtslage muß sich bereits seit gut sechs Jahren in der gerichtlichen
Praxis bewähren. Die allgemeine Unsicherheit über Reichweite und Voraussetzungen der neuen Vorlagepflichten spiegelte sich bereits früh in den ersten instanzgerichtlichen Entscheidungen wider, die sich auf die Neufassung des § 142 ZPO
stützten und dabei mitunter zu bemerkenswerten Ergebnissen kamen. Aus heutiger
Sicht bieten die seit 2002 ergangenen Entscheidungen der Gerichte wertvolle Anhaltspunkte dafür, wie die Rechtsprechung mit ihren erweiterten Befugnissen umgehen will und inwiefern sie bereit ist, ihre in jahrzehntelanger Praxis aufgestellten
Grundsätze, etwa zur unzulässigen Ausforschung des Prozeßgegners, in Frage zu
stellen.
24 Vgl. AK ZPO-Rüßmann, §§ 422 ff. Rn. 4; Stürner, ZZP 104 (1991), 208 (214).
25 So etwa jüngst BGH NJW-RR 2007, 106 (106).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.