§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
125
so das Gericht, sei ein "in camera"-Verfahren und die damit einhergehende Einschränkung der Gehörsrechte des Prozeßgegners der Behörde mit dem Grundgesetz vereinbar507.
Die Interessenlage im Zivilprozeß unterscheidet sich, soweit der Ausschluß des
Beweisführers in Frage steht, von der des Verwaltungsprozesses nicht, so daß diese
Rechtsprechung auf das Verfahren der ZPO übertragen werden kann. Der Ausschluß der nicht beweisbelasteten Partei stellt dagegen einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Art. 103 Abs. 1 GG dar, denn seine rechtliche Position würde durch
einen Verzicht auf seine Gehörsrechte geschmälert.
Obwohl der Ausschluß des Beweisführers demnach nicht gegen Art. 103 Abs. 1
GG verstieße, darf nicht übersehen werden, daß die Durchführung eines dem § 99
Abs. 2 VwGO n.F. entsprechenden Geheimverfahrens für den Zivilprozeß mit
dem geltenden Prozeßrecht nicht in Einklang zu bringen ist. Die ZPO sieht ein
Geheimverfahren gleich welcher Ausgestaltung de lege lata nicht vor; ein gleichwohl praktizierter Ausschluß des Beweisführers verstieße insbesondere gegen die
Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme gem. § 357 Abs. 1 ZPO, gegen das Recht
auf Stellungnahme zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme gem. § 285 ZPO
sowie gegen das Recht der Parteien auf Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 1 ZPO. Dies
kann auch nicht mit dem Hinweis auf sonstige vom Gesetz ausdrücklich vorgesehene Durchbrechungen der Parteiöffentlichkeit für unerheblich erklärt werden508.
Vielmehr ist mit der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit davon auszugehen, daß ein Geheimverfahren im Sinne eines partiellen Ausschlusses der
beweisbelasteten Partei von der Beweisaufnahme im Zivilprozeß derzeit aufgrund
entgegenstehender Vorschriften der ZPO unzulässig ist509. Vorschlägen, solche
Maßnahmen des Geheimnisschutzes zukünftig in der ZPO zu implementieren510,
sollte aber nicht mit dem Argument der Verfassungswidrigkeit begegnet werden511.
Ein Verfahren nach dem Vorbild des nunmehr im Sinne des Bundesverfassungsgerichts geänderten § 99 Abs. 2 VwGO n.F. wäre jedenfalls geeignet, um den Konflikt zwischen Geheimhaltungsinteressen einerseits und effektivem Rechtsschutz
andererseits zu entschärfen.
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
Bereits im Jahr 1967 stellte Nagel in einer rechtsvergleichenden Analyse fest, die
Evolution des kontinentaleuropäischen Rechts scheine dahin zu gehen, daß der
Grundsatz - nemo tenetur contra se - zur Ausnahmeregel werde512. Dem deutschen
507 BVerfG NJW 2000, 1175 (1178).
508 So aber wohl Stadler, NJW 1989, 1202 (1204 f.); Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien,
1976, 225 f.
509 BGH NJW 1992, 1817 (1819); OLG München, NJW 2005, 1130 (1131); OLG Naumburg, NJW
2000, 720 (721); OLG Köln, NJW-RR 1996, 1277 (1277).
510 Vgl. Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 20; ihm folgend auch Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 96 f., 264 f.
511 So wohl im Ergebnis auch Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3131).
512 Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts, 343 ff.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
126
Zivilprozeßrecht wurde seither zunehmend Rückständigkeit im internationalen
Vergleich bescheinigt513, weil es insbesondere durch seine restriktiven Regeln über
die Verpflichtung zur Vorlage von Urkunden die Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß behindere. Auch die im Jahr 2001 reformierten Vorlagepflichten für
Urkunden und Augenscheinsobjekte werden vor dem Hintergrund vermeintlich
besser gelungener Lösungen in den Rechtsordnungen anderer Industrieländer für
wenig gelungen erachtet514, da sie zu einer weiteren Stärkung der in der Vergangenheit ohnehin beständig ausgeweiteten Richtermacht führten, anstatt echte Informationspflichten zwischen den Parteien zu schaffen. Ein kurzer Blick auf das Beweisrecht im Ausland kann für die Interpretation der neuen Editionsregeln in Deutschland wertvolle Erkenntnisse bringen, denn eines der Ziele, die der Gesetzgeber mit
der Reform im Jahr 2001 verfolgte, war immerhin die Angleichung an die Rechtsentwicklung im europäischen Ausland515. Der Gesetzgeber sah sich aber gleichzeitig auch veranlaßt klarzustellen, daß eine Annäherung an das amerikanische Prozeßrecht, insbesondere an das sog. discovery-Verfahren nicht beabsichtigt sei516.
Vor dem Hintergrund der in der Literatur vielfach aufgeworfenen Frage, ob die
Ausgestaltung der §§ 142, 144 ZPO n.F. nicht dennoch zur Einführung amerikanischer Verhältnisse in Deutschland führe517, erscheint es sinnvoll, sich zunächst die
Grundzüge des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses vor Augen zu führen. Anschließend soll der Blick auf den englischen Prozeß gerichtet werden, der als Vorbild des amerikanischen Prozesses gilt518 und auch hierzulande die Wissenschaft
immer wieder inspiriert hat, wenn es um Vorschläge für eine Reform des Beweisrechts der ZPO ging519. Gleiches gilt auch für das Prozeßrecht Frankreichs, das in
den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Mitwirkungspflichten der Parteien erheblich erweitert hat, anders als die anglo-amerikanischen Rechtsordnungen
jedoch bis heute an einer starken Stellung des Gerichts festgehalten hat und somit
dem deutschen Prozeß näher steht. Abschließend soll anhand eines Vergleichs mit
der österreichischen ZPO aufgezeigt werden, zu welchen Unterschieden die bewußte Abgrenzung vom deutschen Vorbild trotz weitgehend ähnlicher Gesetzessystematik im Rahmen der Editionspflichten geführt hat.
Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, einen vertieften Überblick über das
Beweisrecht der erwähnten Rechtsordnungen zu geben. Umfassende rechtsvergleichende Analysen des Beweisrechts einzelner Länder mit dem der ZPO müssen
513 Vgl. nur Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 15 ff.; ders., FS-Stiefel, 1987, 763
(775); Schlosser, JZ 1991, 599 (599 ff.); Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (56 ff.); Yoshida, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß, 2001, 6 ff.; Katzenmeier, JZ 2002, 533 ff. (537 f.); Waterstraat,
ZZP 118 (2005), 459 (469 ff.).
514 Stadler, FS-Beys, 2003, 1625 (1626); Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3130); Katzenmeier, JZ 2002, 533
(537); Greger, JZ 2000, 842 (847); ders. DStR 2005, 479 (482).
515 BT-Drs. 14/4722, S. 70 - Regierungsentwurf.
516 BT-Drs. 14/6036, S. 120 f. - Beschlußempfehlung Rechtsausschuß.
517 Vgl. etwa Leipold, FS-Schlosser, 2004, 563 (585); Kraayvanger/Hilgard, NJ 2003, 572 ff.; Zekoll/Bolt,
NJW 2002, 3129 ff.; Lüpke/Müller, NZI 2002, 588 ff.
518 Schaaff, RIW 1988, 844 (844).
519 Für eine Orientierung am Beweisrecht Englands etwa Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996,
A 15 ff.; Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (56 f.).
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
127
aufgrund der Vielzahl komplexer Zusammenhänge eigenständigen Untersuchungen
vorbehalten bleiben, die gerade in jüngerer Zeit auch zahlreich erschienen sind520.
Ziel der hier angestellten Betrachtung ist es vielmehr, die grundsätzlichen Unterschiede der Prozeßordnungen in Bezug auf das Verhältnis von Richtermacht und
Parteifreiheit, Wahrheitsermittlung und Schutz berechtigter Gegeninteressen sowie
hinsichtlich der Mitwirkungspflicht von Parteien und Dritten bei der Beibringung
von Beweismitteln herauszustellen.
A. USA
Das U.S. amerikanische Zivilverfahren521 gilt als eines der aufklärungsfreudigsten
überhaupt522. Es ist darauf ausgerichtet, die dem Rechtsstreit zugrundeliegende
Wahrheit mit (nahezu) allen erdenklichen Mitteln zu Tage zu befördern523. Keiner
Partei soll ein Nutzen daraus erwachsen, daß sich mögliche Beweismittel allein in
ihrer Verfügungsmacht befinden und der wahre Sachverhalt dadurch nicht vollständig aufgeklärt werden kann. Zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit wird ein
unmittelbarerer Zusammenhang gesehen, als dies hierzulande der Fall ist524. Sachverhaltsaufklärung im Sinne eines amerikanischen Zivilprozesses bedeutet jedoch in
erster Linie nicht Beweisaufnahme vor dem Richter, sondern eigenverantwortliches
gegenseitiges Abfragen von Informationen zwischen den Prozeßparteien. Die
grundlegend unterschiedliche Rollenverteilung von Gericht und Prozeßparteien ist
wohl auch die hierzulande geläufigste institutionelle Verschiedenheit der Prozeßordnungen Deutschlands und der USA.
Der amerikanische Zivilprozeß spaltet sich in ein Vorverfahren (pretrial) und ein
Hauptverfahren (trial) auf. Hauptbestandteil des pretrial ist die weithin berüchtigte
discovery, ein Verfahren, das der Auffindung, Beschaffung und Sicherung von Beweismitteln dient525 und den Parteien sehr weitreichende Aufklärungsmöglichkeiten
bietet. Im späteren trial ist die Einführung weiterer, im pretrial nicht hervorgebrachter Beweismittel nicht mehr möglich526, so daß sich die gesamte Sachverhaltsaufklärung auf den pretrial konzentriert. Der trial dient den Parteien hauptsächlich dazu,
Streitgegenstand und Beweismittel möglichst wirkungsvoll zu präsentieren527. Dies
520 Vgl. etwa Lang, Aufklärungspflicht, 1999 (England und Frankreich); Niehr, Dokumentenvorlegung, 2004 (England); Schröder, Beweisrecht im englischen Zivilverfahren, 2007 (England); Yoshida, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß, 2001 (USA und Japan).
521 Wegen der Kompetenz der Bundesstaaten gibt es in den USA kein einheitliches Zivilprozeßrecht. Gemeint ist daher die bundesgesetzliche Regelung in den Federal Rules of Civil Procedure
(FRCP), die für das Verfahren vor den Bundesgerichten gelten. Die zentrale Norm für das pretrial discovery Verfahren ist Rule 26 FRCP, die die einzelnen Instrumente der discovery regelt.
Eine deutsche Übersetzung dieser Vorschrift findet sich bei Junker, ZZPInt 1 (1996), 235 (261
ff.).
522 Paulus, ZZP 104 (1991), 397 (399).
523 Wagner, ZEuP 2001, 441 (463).
524 Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (782).
525 Blechmann/Rieger, DAJV-Newsletter 2004, 141 (143); Wagner, JZ 2007, 706 (708).
526 Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 46.
527 Vgl. Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 62 ff.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
128
ist auch vor dem Hintergrund der nach wie vor bedeutsamen Rolle der jury veranlaßt528. Die Parteien haben ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht529 auf einen
jury-trial und nutzen dies in der Regel auch, wobei vor allem Unfallopfer und produktgeschädigte Kläger auf das Mitleid der Jury spekulieren530. Die Geschworenen
entscheiden im trial über die Tatfragen und über die Schadenshöhe, dem Richter
bleibt dagegen vorwiegend die Entscheidung über die Rechtsfragen vorbehalten531.
Er nimmt im trial eine eher passive Rolle ein, die der eines Schiedsrichters im
Zweikampf der Parteien gleicht und sich überwiegend darauf beschränkt, die "Einhaltung der Spielregeln" zu überwachen532. Die Weichen für den Ausgang des
Prozesses werden daher faktisch nicht im trial, sondern im pretrial discovery-
Verfahren gestellt, in dem beide Parteien versuchen, sich das Material zu beschaffen, das sie für ihren Prozeßsieg zu benötigen meinen533.
Bevor der Prozeß in das Stadium der discovery eintritt, wird er mit dem Einreichen einer Klageschrift bei Gericht in Gang gesetzt534. Diese muß noch keine näheren Angaben einzelner Tatsachen oder Beweisantritte enthalten535, sondern den
geltend gemachten Anspruch nur kurz, vage und andeutungsweise umreißen536. Sie
dient dazu, den Prozeßgegner in Bezug auf den erhobenen Anspruch grob ins Bild
zu setzen537. Der Beklagte muß innerhalb einer Einlassungsfrist von 20 Tagen538
auf die Klage erwidern, wobei auch er sich entsprechend knapp halten kann. Nach
Abschluß dieser ersten Sachvorträge, der sog. pleadings, tritt das Verfahren in das
Stadium der pretrial discovery ein. Bis hierhin muß die Klage weder schlüssig sein539
noch muß der Kläger über Beweismittel verfügen. Die Parteien sind sich von nun
an gegenseitig zu umfassender Aufklärung in verschiedener Form verpflichtet, die
sich aber keineswegs nur auf solche Erkenntnisse oder Beweismittel beschränkt, die
im späteren trial auch zulässig und verwertbar sind540. Die Aufklärungspflicht erstreckt sich gem. Rule 26 (b) FRCP vielmehr auf alles, was zu verwendbaren Erkenntnissen im Hinblick auf die erfolgreiche Gestaltung des Rechtsstreits führen
könnte. Sie schließt daher auch sog. fishing expeditions541 ausdrücklich ein542. Hierun-
528 Die mit Amerikanern besetzte jury bedeutete in der Kolonialzeit ein Gegengewicht zu dem aus
England stammenden Richter und gilt noch heute als demokratische Errungenschaft, vgl. Schack,
US-Zivilprozessrecht, 2003, 62 f.
529 Vgl. Geulen/Sebok, NJW 2003, 3244 (3246); Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 12.
530 Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 63.
531 Ausführlich zu den Besonderheiten des jury-Prozesses Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 63 ff.
532 Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 61.
533 Paulus, ZZP 104 (1991), 367 (401).
534 Rule 3, 8a FRCP.
535 Paulus, ZZP 104 (1991), 397 (399).
536 Reufels, RIW 1999, 667 (668); Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (45); Schack, US-Zivilprozessrecht,
2003, 40.
537 Wagner, JZ 2007, 706 (708).
538 Rule 12 (a) FRCP.
539 Reufels, RIW 1999, 667 (668); Zekoll/Bolt, NJW 2000, 319 (3133); Nagel, DB 2001, 1075 (1076).
540 Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 45, Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (47); Zekoll/Bolt, NJW 2002,
3129 (3133).
541 Zu diesem Begriff und seinem Verständnis im angelsächsischen Rechtskreis Wagner, ZEuP 2001,
441 (463).
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
129
ter werden Auskünfte und Beweismittel verstanden, die für die entscheidungsrelevanten streitigen Tatsachen selbst keine Rolle spielen, jedoch möglicherweise den
Gegner zu Indizien oder anderen Beweismitteln führen, die dann ihrerseits Relevanz für den Rechtsstreit erlangen543.
Die discovery findet weitestgehend außerhalb und ohne Mitwirkung des Gerichts
unter alleiniger Verantwortung der Parteien und ihrer Anwälte statt544. Das Gericht
wird im wesentlichen lediglich aktiv, um mangelnde Mitwirkung einer Partei zu
sanktionieren545, bestimmte Schutzmaßnahmen anzuordnen546 oder die körperliche
Untersuchung einer Person zu gestatten547. Materielle Prozeßleitungsbefugnisse des
Gerichts sind auch im späteren trial nur schwach ausgeprägt. Zwar ist das Gericht
im trial befugt, selbst Zeugen zu berufen und Sachverständige zu bestellen; um die
jury nicht durch einseitige Hinweise und Hilfestellungen zugunsten einer der Parteien zu beeinflussen, sind solche Initiativen des Gerichts jedoch selten548.
Im einzelnen stehen den Parteien im Rahmen der discovery folgende Aufklärungsinstrumente zur Verfügung: Jede Partei kann ihrem Gegner sowie außerhalb
des Prozesses stehenden Dritten Fragen stellen und die darauf erfolgten Erklärungen beeiden lassen (depositions)549. Für die Protokollierung und die Beeidigung ist ein
sog. court reporter, ein Gehilfe des Gerichts zuständig. Darüber hinaus können sich
die Parteien untereinander sog. written interrogatories550 vorlegen. Hierbei handelt es
sich um schriftliche Fragelisten551, die der aufklärungspflichtige Gegner abzuarbeiten und wahrheitsgemäß schriftlich zu beantworten hat. Schließlich kann vom
Prozeßgegner die Vorlage von Urkunden (production of documents) und anderer Gegenstände sowie die Duldung von Ortsbesichtigungen verlangt werden552. Die
Vorlagepflicht bezieht sich dabei grundsätzlich auf alle erdenklichen Unterlagen,
worunter auch interne Aktenvermerke, private Telefonnotizen oder firmeninterne
Geschäftsunterlagen fallen können553. Auf besondere Anordnung des Gerichts ist
eine Partei zudem verpflichtet, sich einer medizinischen Untersuchung zu stellen554.
Ein in der Praxis weniger gebräuchliches555 Mittel der Sachverhaltsaufklärung ist
die Aufforderung der Gegenpartei zum Geständnis (request for admission), das im
Einzelfall die mühsame Aufklärung einer Tatsache durch depositions und interrogatories
542 Vgl. Rule 26 (B) 81) FRCP: "The information sought need not be admissible at the trial if the
information sought appears reasonably calculated to lead to the discovery of admissible evidence".
543 Vgl. Reimann/Arbor, IPRax 1994, 152 (152); Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3133).
544 Rule 26, 34 Federal Rules of Civil Procedure.
545 Rule 37 FRCP.
546 Sog. protective orders gem. Rule 26 (c) FRCP.
547 Rule 35 (a) FRCP.
548 Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (769).
549 Rule 30 FRCP.
550 Rule 33 FRCP.
551 Die Anzahl der Fragen ist seit der Reform des discovery Verfahrens im Jahr 1993 auf 25 beschränkt, kann aber durch Parteivereinbarung erweitert werden.
552 Rule 34 FRCP.
553 Reufels, RIW 1999, 667 (668 f.).
554 Rule 35 (a) FRCP.
555 Vgl. Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 49.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
130
entbehrlich machen kann. Die angeführten Aufklärungsinstrumente der discovery
stehen den Parteien gegenüber Dritten nur in eingeschränktem Maße zur Verfügung. In erster Linie kommen hier die erwähnten depositions in Betracht. Im Rahmen
des discovery-Verfahrens können gegenüber Dritten zwar weder interrogatories noch
die Vorlage von Urkunden oder anderer Gegenstände angeordnet werden; das
Gericht kann prozeßfremde Dritte jedoch während der Hauptverhandlung ohne
weitere Voraussetzungen auf Antrag einer Partei zur Vorlage von Urkunden und
zur Duldung einer Ortsbesichtigung verpflichten556.
Das weitreichende Aufklärungsinstrumentarium der discovery wird durch wirksame Sanktionsdrohungen ergänzt. Gegenüber einer sich widersetzenden Partei
kommen zunächst verfahrensbezogene prozessuale Sanktionen in Betracht. Sie
reichen von der Unterstellung einer behaupteten Tatsache als wahr über den Ausschluß mit bestimmten Beweismitteln und der negativen Beweiswürdigung bis hin
zur Klageabweisung bei verweigerter Mitwirkung des Klägers557. Darüber hinaus
kann die geschuldete Mitwirkung der Parteien aber auch mit Geld- oder Haftstrafen wegen Mißachtung des Gerichts (contempt of court)558 geahndet werden. Letzteres
kommt auch für die Anwälte der Parteien, insbesondere aber für Dritte in Betracht,
die auf anderem Wege kaum zur bisweilen äußerst zeitaufwendigen Mitwirkung an
einem fremden Rechtsstreit zu bewegen wären559.
Da Parteien wie Dritte im Falle verweigerter Mitwirkung mit Beugemitteln belegt werden können, kommen ihnen als Korrelat Weigerungsrechte, sog. privileges,
zugute. Diese sind jedoch weniger zahlreich und zudem inhaltlich enger ausgestaltet
als im kontinentaleuropäischen Zivilprozeß üblich560. Der Schutz berechtigter
Geheimhaltungsinteressen im discovery-Verfahren - z.B. Geschäftsgeheimnisse des
Prozeßgegners oder eines Dritten - wird durch sog. protective orders gewährleistet, die
bei Gericht zu beantragen sind561. Praktisch bedeutend sind das Zeugnisverweigerungsrecht des Anwalts (attorney-client privilege) und das privilege against self-incrimination,
das - mangels detaillierter bundesgesetzlicher Regelung - seine Grundlage in der
Verfassung findet und nur im Falle der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung, bei
drohender Ehrverletzung o.ä. eingreift562. Die Inanspruchnahme dieses Privilegs
durch eine Partei hindert das Gericht außerdem nicht, aus der Weigerung negative
Schlüsse zu ziehen563. Die sog. work product rule schützt Aufzeichnungen der Gegenpartei oder ihres Anwalts, die im Hinblick auf den konkreten Rechtsstreit gemacht worden sind, vor dem Zugriff der Gegenpartei564.
556 Rule 45, 34 (c) FRCP.
557 Rule 37 (b) (2) FRCP.
558 Rule 37 (b) (1).
559 Wagner, ZEuP 2002, 441, (496).
560 Vgl. Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (774); Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3133).
561 Rule 26 (c) (5)-(8) FRCP.
562 Junker, Discovery im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr, 1987, 126 ff.
563 Junker, Discovery im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr, 1987, 127 f.; Schack, US-
Zivilprozessrecht, 2003, 50.
564 Rule 26 (b) (3) FRCP.
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
131
Das amerikanische discovery-Verfahren sieht sich wegen der Gefahr seiner mißbräuchlichen Nutzung erheblicher Kritik insbesondere aus Europa ausgesetzt. Der
Vorlageverpflichtete kann geneigt sein, neben den geforderten Materialien eine
Unzahl weiterer, für den Rechtsstreit nicht unmittelbar relevanter Dokumente zur
Verfügung zu stellen, was auf Seiten des Empfängers zeit- und kostenintensive
Selektierung erforderlich macht565. Die ausufernde Praxis, mittels Ausforschung der
Gegenseite die eigene Klage erst schlüssig zu machen und ausgedehnte "Beweisfischzüge in den Gewässern des Gegners" zu betreiben, führe häufig zu regelrechter Industriespionage566. Auch der Einsatz der discovery zum wirtschaftlichen Nachteil des Gegners567 führe dazu, daß manche Partei lieber auf einen Rechtsstreit
verzichte und relativiere insoweit die hohe Vergleichsquote568. Der heute im U.S.amerikanischen Zivilverfahren praktizierte Aufklärungsrigorismus ist jedoch in
weitem Umfang als bewußte rechtspolitische Entscheidung der jüngeren Vergangenheit anzusehen569. Bis zur Einführung der Federal Rules of Civil Procedure im
Jahr 1938 dominierte auch in den USA der Grundsatz "nemo contra se edere tenetur". Rule 26 (b) (1) FRCP, heute eine umfassende Garantie des Zugangs zu Information und Beweis, stellte eine Zäsur im US-Prozeßrecht dar und verkehrte einen
Jahrhunderte lang hochgehaltenen Rechtsgrundsatz in sein Gegenteil570. Um den
Auswüchsen dieses Systems privater Beweisermittlung entgegenzuwirken, wurden
zwar die Kompetenzen der Gerichte durch Reformen in den Jahren 1980, 1983
und 1993 immer wieder gestärkt und zuletzt sogar die Instrumente der discovery
beschränkt571; eine Abkehr vom Prinzip der Wahrheitsfindung um (nahezu) jeden
Preis ist jedoch nicht in Sicht und wohl auch nicht beabsichtigt.
B. England
Das englische Zivilverfahren ist heute einheitlich in den "Civil Procedure Rules"
(CPR) von 1998572 geregelt. Mit der Reform des Jahres 1998 ging eine wesentliche
Erweiterung der richterlichen Prozeßleitungsbefugnisse einher, die zu einer Stärkung der Richtermacht zum Zwecke der Beschleunigung des Zivilprozesses führ-
565 Yoshida, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß, 2001, 79; Lorenz, ZZP 111 1998, 35 (45
f.); Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 46; Zekoll/Bolt, NJW 2002, 3129 (3133); Blechmann/Rieger,
DAJV-Newsletter 2004, 141 (143) mit illustrativen Beispielen aus der Verfahrenspraxis.
566 Nagel, DB 2001, 1075 (1076).
567 Zunehmend üblich scheint es zu sein, daß der Kläger oder dessen Anwälte die discovery-
Ergebnisse an Drittinteressenten verkaufen, vgl. Schack, US-Zivilprozessrecht, 2003, 49; Reufels,
RIW 1999 667 (668).
568 In der Regel gelangen nicht mehr als 3 -7 % der bei den Bundesgerichten eingereichten Zivilklagen bis in das Stadium der Hauptverhandlung, vgl. Junker, Discovery, 1987, 109 f.; Schack, US-
Zivilprozessrecht, 2003, 60 f.; Paulus, ZZP 104 (1991), 397 (400).
569 Vgl. hierzu Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (51 f.); Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (781); Schlosser, JZ
1991, 599 (600).
570 Schlosser, JZ 1991, 599 (600).
571 Ausführlich zu den Reformen der Jahre 1980, 1983 und 1993 Junker, ZZPInt 1 (1996), 235 ff.
sowie Reinmann/Arbor, IPRax 1994, 152 (152 ff.).
572 In Kraft getreten am 26. April 1999.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.