§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
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§ 371 Abs. 3 ZPO n.F. sein, wenn der Vorlageadressat gegenüber seinem Prozeßgegner zur Herausgabe des Gegenstandes verpflichtet ist.
E. Zusammenfassung
Mit der Reform 2001 hat der Gesetzgeber in § 144 ZPO n.F. erstmals eine Pflicht
zur aktiven Vorlage von Augenscheinsgegenständen geschaffen und diese für unbewegliche oder schwer zu transportierende Gegenstände um eine entsprechende
Duldungspflicht ergänzt. Vorlage- und Duldungspflicht erstrecken sich wie bei
§ 142 ZPO n.F. auch auf prozeßfremde Dritte, denen gem. § 144 Abs. 2 ZPO
dieselben Weigerungsrechte zukommen wie im Rahmen des § 142 Abs. 2 ZPO.
Auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO kann sowohl von Amts wegen als
auch auf Parteiantrag ergehen. Während § 428 Alt. 2 ZPO n.F. dem Beweisführer
allerdings nur für den Fall eine Antragsmöglichkeit einräumt, daß sich die Urkunde
im Besitz eines Dritten befindet, sieht § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. eine entsprechende Antragsmöglichkeit auch für die Konstellation vor, daß der Prozeßgegner
den Beweisgegenstand in Besitz hält.
In den Voraussetzungen für den Erlaß einer Vorlageanordnungen unterscheidet
sich § 144 ZPO n.F. von § 142 ZPO n.F. darin, daß die Anordnung betreffend
Augenscheinsgegenstände keine Bezugnahme einer Prozeßpartei auf den Beweisgegenstand voraussetzt. Darüber hinaus ergeben sich keine Unterschiede. Insbesondere setzt auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO entsprechende Anforderungen an den Sachvortrag der Parteien voraus, mit Hilfe derer der Gefahr einer
vom Reformgesetzgeber für unzulässig erachteten Ausforschung des Anordnungsadressaten entgegengewirkt wird. Zu beachten ist bei der Anwendung des § 144
ZPO n.F. überdies, daß das Gericht nicht befugt ist, den Verbleib des vorzulegenden Gegenstandes auf der Geschäftsstelle anzuordnen.
Auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F. steht im pflichtgemäß auszu-
übenden Ermessen des Gerichts, soweit sie von Amts wegen und nicht gem. § 371
Abs. 1 S. 1 ZPO n.F. auf Parteiantrag ergeht. Für den Ermessensgebrauch gelten
grundsätzlich die gleichen Leitlinien wie im Rahmen des § 142 ZPO n.F. Dem
Gericht kommt bei der Anwendung des § 144 ZPO n.F. insoweit ein zusätzliches
Auswahlermessen zugute, als es sich zwischen dem Erlaß einer Vorlage- und einer
Duldungsanordnung entscheiden kann. Der entscheidende Unterschied zu § 142
ZPO n.F. liegt im Rahmen der Ermessensausübung allerdings darin, daß das Gericht eine Vorlageanordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. zu Beweiszwecken
grundsätzlich auch gegenüber der nicht beweisbelasteten Partei anordnen kann,
ohne daß es in diesem Zusammenhang auf das Vorliegen der Voraussetzungen der
§§ 422, 423 ZPO ankommt. Mangels entsprechender Regelungen beim parteibetriebenen Beweisantritt mit einem Augenscheinsgegenstand besteht anders als im
Falle einer Anordnung nach § 142 ZPO nicht die Gefahr, daß die Möglichkeit der
Beweisführung mit einem Augenscheinsgegenstand letztlich von einer richterlichen
Ermessensentscheidung abhängt. Den Parteien steht es vielmehr frei, von sich aus
gem. § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. den Erlaß einer Anordnung nach § 144 ZPO n.F.
zu beantragen und damit förmlich den Augenscheinsbeweis anzutreten.
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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Der Vorlagepflicht der Parteien sind auch im Rahmen des § 144 ZPO n.F.
Schranken gesetzt. Berechtigte Weigerungsinteressen der Parteien hat das Gericht
bei seiner Ermessensausübung zu berücksichtigen, was sich auch aus § 144 Abs. 3
i.V.m. § 371 Abs. 2 ZPO n.F. ergibt. Hinsichtlich der Reichweite der Mitwirkungsobliegenheiten der Prozeßparteien ergeben sich im Vergleich zur Rechtslage vor
der Reform allerdings keine Unterschiede. Zwar kannte § 144 ZPO a.F. keine ausdrückliche Vorlagepflicht der Parteien; mangels einer den §§ 422, 423 ZPO vergleichbaren Regelung im Recht des Augenscheinsbeweises entsprach es allerdings
herrschender Auffassung, daß die grundlose Mitwirkungsverweigerung negative
beweisrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Die Neuregelungen im
Zusammenhang mit den §§ 144, 371 ZPO n.F. können insoweit als Kodifizierung
der schon bisher durch Rechtsprechung und Literatur geprägten Rechtslage angesehen werden.
Elektronische Dokumente nehmen wie beim parteibetriebenen Antritt des Augenscheinsbeweises auch im Rahmen der Anordnungsbefugnis nach § 144 ZPO
n.F. eine Sonderstellung ein. Da der Gesetzgeber sie in § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO n.F.
den Augenscheinsgegenständen zugeordnet hat, können auch sie Gegenstand einer
Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F. sein. Mit dem FormVAnpG beabsichtigte
der Gesetzgeber jedoch, die Beweisführung mit elektronischen Dokumenten den
Regeln des Urkundenbeweises zu unterstellen. Im Rahmen einer Vorlageanordnung
zu Beweiszwecken müssen deshalb die Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO
beachtet werden. Ergeht die Vorlageanordnung auf Parteiantrag gem. § 371 Abs. 2
S. 1 ZPO n.F. gegenüber einer Prozeßpartei, stellen die §§ 422, 423 ZPO aufgrund
des Verweises in § 371 Abs. 2 S. 2 ZPO n.F. eine besondere Anordnungsvoraussetzung dar. Erläßt das Gericht eine entsprechende Anordnung von Amts wegen, hat
es die §§ 422, 423 ZPO im Rahmen seines Ermessensgebrauchs zu berücksichtigen
und eine Anordnung zu unterlassen, wenn die Voraussetzungen der §§ 422, 423
nicht gegeben sind. Ist ein prozeßfremder Dritter Adressat der Anordnung, bedarf
es der Berücksichtigung der §§ 422, 423 ZPO dagegen nicht, weil auch ein entsprechender Beweisantritt der Parteien gem. § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. das Vorliegen
der Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO nicht erfordert.
§ 6 Die Sanktionen im Falle unberechtigter Verweigerung
Die Sanktionen für den Fall, daß einer gerichtlichen Anordnung1225 nach den § 142,
144 ZPO n.F. nicht nachgekommen wird, sind für die verschiedenen Anordnungsadressaten unterschiedlich ausgestaltet. Während prozeßfremde Dritte wie unbotmäßige Zeugen mit Zwangsmitteln zur Vorlage bewegt werden können, haben die
Prozeßparteien lediglich prozessuale Nachteile zu befürchten. Anders als etwa das
französische Recht kennt die ZPO - von der Ausnahme des § 372 a ZPO einmal
1225 Zwischen Vorlageanordnungen und einer Duldungsanordnung gem. § 144 Abs. 1 S. 3 ZPO n.F.
bedarf es im folgenden keiner Unterscheidung.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.