Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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ursprünglichen Unterscheidungswillen des Gesetzgebers zum FormVAnpG ist die
unglücklich ausgestaltete Verweisung in § 371 Abs. 2 S. 2 ZPO zu verdanken. Der
parteibetriebene Antritt des Beweises mit Hilfe eines elektronischen Dokuments,
das sich im Besitz des Beweisgegners befindet, ist deshalb nur möglich wenn der
Beweisführer nach materiellem Recht dessen Herausgabe verlangen kann (§ 422
ZPO) oder der Beweisgegner sich selbst zum Zwecke der Beweisführung darauf
berufen hat (§ 423 ZPO)1155.
3. Ein prozeßfremder Dritter verfügt über die Daten
Befindet sich das elektronische Dokument in der Verfügungsgewalt eines Dritten,
stehen dem Beweisführer wiederum die beiden alternativen Vorgehensmöglichkeiten des § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. zur Verfügung. Die zweite Alternative des
Beweisantritts entspricht jedoch inhaltlich derjenigen des § 428 Alt. 2 ZPO n.F. für
den Urkundenbeweis, so daß es eines Rückgriffs auf die Vorschriften der §§ 422 ff.
ZPO in dieser Konstellation nicht bedarf, um der Intention des Gesetzgebers
gerecht zu werden. Die Beweisführung mit einem elektronischen Dokument setzt
also - ebenso wie diejenige mit einer Urkunde oder mit einem herkömmlichen
Augenscheinsgegenstand - keine materiell-rechtlichen Ansprüche des Beweisführers im Hinblick auf den Beweisgegenstand voraus, wenn sich dieser im Besitz
eines Dritten befindet.
C. Das Verhältnis der Möglichkeiten des Beweisantritts nach § 371 Abs. 2
S. 1 ZPO n.F. für den Fall des Drittbesitzes
In der Literatur wird mitunter die Auffassung vertreten, die Möglichkeit des Beweisantritts über den Antrag auf Erlaß einer gerichtlichen Vorlageanordnung gegenüber einem Dritten gem. § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 ZPO n.F. komme nur demjenigen zugute, der keine materiell-rechtlichen Ansprüche hinsichtlich des Gegenstandes gegenüber dem Dritten geltend machen könne1156. Stünden dem
Beweisführer entsprechende Ansprüche zu, bliebe er auf den Beweisantritt nach
§ 371 Abs. 2 S. Alt. 1 ZPO n.F. verwiesen. Als Begründung hierfür wird angeführt,
daß dem Dritten der Weg in einen ordentlichen Zivilprozeß mit allen Rechtsmitteln
und Verfahrensgarantien erhalten bleiben müsse. Darüber hinaus verbliebe für den
Beweisantritt gem. § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 ZPO n.F. praktisch kein Anwendungsbereich, wenn der Beweisgegenstand stets über eine gerichtliche Vorlageanordnung
in den Prozeß eingeführt werden könnte.
Dieses Verständnis des § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. überzeugt aus mehrerlei
Gründen nicht. Bereits dem Wortlaut nach stehen die beiden Alternativen für den
Beweisantritt nebeneinander, ohne daß sich aus der Vorschrift selbst ein Rangver-
1155 In diesem Sinne auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 809.
1156 Stein/Jonas-Berger, 22. Aufl., § 371, Rn. 15; wie hier dagegen MüKo-ZPO-Zimmermann, 3. Aufl.,
§ 372, Rn. 16; MüKo-ZPO-Damrau, Aktualisierungsband 2002, § 371, Rn. 13, 20.
§ 4 Der neugestaltete Augenscheinsbeweis gem. § 371 ZPO n.F.
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hältnis ergibt. Auch den Gesetzesmaterialien läßt sich nicht entnehmen, daß sich
der materiell-rechtlich am Beweisgegenstand berechtigte Beweisführer stets selbst
um die Beibringung des Beweisstücks bemühen müßte. Die Regierungsbegründung
führt in diesem Zusammenhang vielmehr aus, daß der Beweisantritt über § 371
Abs. 2 S. 1 Alt. 1 ZPO n.F. insbesondere1157 - also keinesfalls ausschließlich! - dann
in Betracht komme, wenn der Beweisführer keine materiell-rechtlichen Ansprüche
gegen den Besitzer hat. Es wäre auch im Hinblick auf die angestrebte Prozeßökonomie sinnwidrig, den Beweisführer eine separate Herausgabeklage anstrengen zu
lassen, wenn der Besitzer unter dem Eindruck drohender Sanktionierung gem.
§ 390 ZPO auch im Wege einer gerichtlichen Anordnung zur Vorlage des Gegenstandes bewegt werden kann. Ob ein materiell-rechtlicher Anspruch tatsächlich
besteht, wird das Gericht, sofern es etwa für die Frage der Zumutbarkeit i.S.d.
§ 144 Abs. 2 ZPO n.F. darauf ankommt, im Rahmen eines Zwischenstreits klären,
in dem der Dritte selbst Partei ist. Ferner ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, warum derjenige Beweisführer, der die Herausgabe des Beweisgegenstandes
nach materiellem Recht verlangen kann, auf den zeit- und kostenintensiven Weg
der eigenverantwortlichen Beibringung des Gegenstandes verwiesen sein sollte,
während der Beweisführer ohne materiell-rechtliche Ansprüche die Möglichkeit
hat, einfach und zügig über eine gerichtliche Vorlageanordnung an den Beweisgegenstand zu gelangen. Letztlich ist es auch nicht einsehbar, warum ein Dritter, der
sich in Bezug auf den vorzulegenden Gegenstand einem materiell-rechtlichen Anspruch ausgesetzt sieht, in höherem Maße ein anerkennenswertes Interesse daran
haben sollte, nicht im Wege einer gerichtlichen Vorlageanordnung in Anspruch
genommen zu werden, als derjenige Dritte, der den Prozeßparteien materiellrechtlich nicht verpflichtet ist.
Der Unterschied zwischen beiden Alternativen des Beweisantritts in § 371 Abs.
1 S. 1 ZPO n.F. besteht in der Praxis also darin, daß sich die Partei, die materiellrechtliche Ansprüche im Hinblick auf den Beweisgegenstand geltend machen kann,
überlegen muß, ob sie den Beweis über den Antrag auf Erlaß einer Vorlageanordnung führen will, obwohl der Besitzer auf diesem Wege zur Vorlage nicht gezwungen werden kann. Möchte die beweisführende Partei die Vorlage dagegen wirksam
erzwingen, wird sie den Weg über § 371 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 ZPO n.F. einschlagen
und den Besitzer ggf. auf Herausgabe verklagen, soweit ihr dies aufgrund der materiellen Rechtslage erfolgversprechend erscheint.
D. Zusammenfassung
Beim parteibetriebenen Augenscheinsbeweis ist nach neuer Rechtslage danach zu
unterscheiden, ob der Beweis mit Hilfe eines herkömmlichen Augenscheinsgegenstandes oder mit einem elektronischen Dokument geführt werden soll. Nur in
letzterem Fall kommt dem Verweis in § 371 Abs. 2 S. ZPO n.F. auf die §§ 422, 423
ZPO inhaltliche Bedeutung zu. Die Beweisführung mit einem elektronischen Do-
1157 Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/4722, S. 90.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.