Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
160
verantwortlichen und ggf. im Wege der Herausgabeklage zu bewirkenden Beibringung des Gegenstandes setzen zu lassen, sollte der Beweisführer den Beweis zukünftig auch dadurch antreten können, daß er eine gerichtliche Anordnung nach
§ 144 ZPO-RegE gegenüber dem Dritten beantragt. Die erste Alternative des Beweisantritts sollte nach der Vorstellung des Entwurfsverfassers in Betracht kommen, wenn der Beweisführer vom Dritten die Vorlage des Gegenstandes nach
materiellem Recht verlangen kann. Falls eine materiell-rechtliche Verpflichtung des
Dritten zur Herausgabe des Gegenstandes nicht besteht, sollte die zweite Alternative es dem Beweisführer ermöglichen, den Beweis dennoch führen zu können748.
Für den Fall, daß sich der Gegenstand im Besitz des Beweisgegners befindet,
hat der Entwurfsverfasser auch im Rahmen des Augenscheinsbeweises eine entsprechende Möglichkeit des Beweisantritts über § 144 ZPO-RegE nicht vorgesehen749. Für diese Konstellation sollte nach Auffassung des Entwurfsverfassers der
neu eingeführte § 371 Abs. 3 ZPO-RegE zur Geltung kommen. Nach dem Entwurf handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine Beweisregel für den Fall, daß die
Gegenpartei des Beweisführers die ihr zumutbare Einnahme des gerichtlichen
Augenscheins vereitelt, wobei unter Vereitelung die Verweigerung der Herausgabe
ebenso wie die Zerstörung oder das Beiseiteschaffen sowie die Verweigerung der
Duldung einer Inaugenscheinnahme zu verstehen sein sollte750. Der Entwurfsverfasser lehnte sich bei der Neueinführung des § 371 Abs. 3 ZPO-RegE an § 444
ZPO an, in dem er einen auf den Beweis durch Augenschein übertragbaren allgemeinen Rechtsgedanken niedergelegt sah. Gegenüber dem Referentenentwurf
enthielt der Regierungsentwurf keinerlei Änderungen in Wortlaut oder Begründung
der Vorschrift.
C. Der Änderungsantrag der F.D.P-Fraktion und die Anmerkungen des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages
Der im September 2000 von der Bundesregierung beschlossene Regierungsentwurf
wurde im Anschluß zum sog. ersten Durchgang gem. Art. 76 Abs. 2 GG dem
Bundesrat zugeleitet. Dieser lehnte den Entwurf in seiner Sitzung vom 10.11.2000
insgesamt ab751 und erhob eine Reihe von Änderungsbegehren, die sich jedoch
nicht gegen die im Entwurf vorgesehenen Modifikationen der Vorlagepflichten für
Urkunden und Augenscheinsgegenstände richteten. Die Bedenken des Bundesrates
wurden in der Gegenäußerung der Bundesregierung weitestgehend verworfen. Am
22.11.2000 wurde der Regierungsentwurf samt Stellungnahme des Bundesrates und
Gegenäußerung der Bundesregierung dem Deutschen Bundestag zugeleitet, der ihn
am 01.12.2000 seinem Rechtsausschuß überwies. Die Beschlußempfehlung des
748 Vgl. Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/4722, S. 90 f.
749 Die Regelung, die sich heute in § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. findet, wurde erst durch den Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes geschaffen. Vgl. hierzu ausführlich unten Dritter
Teil.§ 4A.II.2.b).
750 Vgl. Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/4722, S. 91.
751 Vgl. BR-Drs. 536/00.
§ 2 Entstehungsgeschichte der Reform
161
Rechtsausschusses752 enthielt im Vergleich zum Regierungsentwurf keine Vorschläge zur Änderung des Wortlauts der neugefaßten Vorschriften der §§ 142, 144, 371,
428 und 429 ZPO-RegE.
In der abschließenden Sitzung des Rechtsausschusses am 16.05.2001 brachte die
F.D.P-Fraktion allerdings einen Änderungsantrag ein753, der § 142 ZPO-RegE zum
Gegenstand hatte. Das Gericht sollte danach nur auf Antrag einer Partei berechtigt
sein, gegenüber Parteien und Dritten die Vorlage von Urkunden anzuordnen. Voraussetzung einer Vorlageanordnung sollte ferner die genaue Bezeichnung der Urkunde sowie die Angabe sein, zu welcher bestrittenen Behauptung die Unterlagen
benötigt werden. Die Parteien sollten zudem ebenso wie Dritte die Möglichkeit
erhalten, die Vorlage der Urkunde zu verweigern, sofern ihnen dies aus wichtigen
Gründen, insbesondere wegen eines überwiegenden Geheimhaltungsbedürfnisses
nicht zuzumuten sei. Gegen eine sich unberechtigt weigernde Partei sah der Änderungsvorschlag die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes vor. Negative Schlußfolgerungen im Rahmen der Beweiswürdigung sollte eine sich weigernde
Partei dagegen nur dann zu befürchten haben, wenn ihr dies vorher angedroht
wurde. Zur Begründung ihres Antrages verwies die F.D.P-Fraktion auf die erhebliche Gefahr einer unzulässigen Ausforschung der betroffenen Parteien und Dritter,
die mit der Neufassung des § 142 ZPO-RegE einhergehe. Es bedürfe einer klaren
Distanzierung von jeglichen Bestrebungen, sich einem amerikanischen Discovery-
Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild anzunähern.
Der Änderungsantrag wurde im Rechtsausschuß mit den Stimmen der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS abgelehnt754. Die
Koalitionsfraktionen hielten statt dessen eine Klarstellung zum Anwendungsbereich des § 142 ZPO-RegE für ausreichend, mit dem die mit dem Änderungsantrag
der F.D.P-Fraktion erhobenen Bedenken zerstreut werden sollten.
Mit den Regelungen in den §§ 142, 144 ZPO-RegE, so die Begründung zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses755, sei keine unzulässige Ausforschung
der von den Vorlageanordnungen betroffenen Parteien oder Dritten bezweckt,
sondern vielmehr eine behutsame Erweiterung der schon nach bis dahin geltendem
Recht eingeräumten richterlichen Befugnisse intendiert. Den Interessen der Parteien an der Wahrung ihrer Geheimnisse trage der Richter dadurch Rechnung, daß er
von dem ihm eingeräumten Ermessen entsprechenden Gebrauch mache. Die flexible, den gegenläufigen Interessen Raum gebende Lösung habe sich in der Vergangenheit bewährt, der vorliegende Entwurf werde daran im Grundsatz nichts ändern. Die neuen Vorschriften verliehen ebensowenig wie das vorher geltende Recht
die Befugnis, schutzwürdige Geheimbereiche der Verfahrensbeteiligten auszuforschen. Ausführlich befaßt sich die Begründung des Rechtsausschusses mit der
Befürchtung einer Annäherung an das pretrial discovery-Verfahren nach US-
752 BT-Drs. 14/6036.
753 Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P., BT-Drs. 14/6061.
754 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses BT-Drs. 14/6036, S. 117.
755 Vgl. Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/6036, S. 120 f.
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
162
amerikanischem Vorbild. Entsprechende Befürchtungen seien unbegründet, weil
die Partei, die sich im Rahmen des § 142 ZPO-RegE auf eine Urkunde beziehe,
nicht von ihrer Darlegungs- und Substantiierungslast befreit werde. § 142 ZPO-
RegE gebe dem Gericht nicht die Befugnis, unabhängig von einem schlüssigen
Vortrag zum Zwecke der Informationsgewinnung Urkunden anzufordern. Eine
solche Ausforschung sei und bleibe vielmehr prozeßordnungswidrig.
D. Der Änderungsvorschlag des Rechtsausschusses des Bundesrates
Nachdem der Deutsche Bundestag am 17.05.2001 in Zweiter und Dritter Lesung
den Empfehlungen seines Rechtsausschusses gefolgt war, gelangte das Gesetz gem.
Art. 77 Abs. 2 GG erneut zum Bundesrat, dessen Rechtsausschuß am 7. Juni 2001
die Einberufung des Vermittlungsausschusses empfahl. In Bezug auf § 142 ZPO in
der vom Bundestag beschlossenen Fassung befürwortete der Rechtsausschuß des
Bundesrates eine Änderung, die in Teilen dem Änderungsantrag der F.D.P-
Fraktion im Rechtsausschuß des Bundestages entsprach. Voraussetzung einer Vorlageanordnung nach § 142 ZPO sollte danach sein, daß die vorzulegenden Unterlagen genau bezeichnet würden und zudem anzugeben sei, zum Beweis welcher
Behauptungen die Unterlagen benötigt würden. Dadurch sollte nach Auffassung
des Rechtsausschusses verhindert werden, daß eine Vorlageanordnung dazu mißbraucht werde, den Sachverhalt von Amts wegen auszuforschen. Darüber hinaus
schlug der Ausschuß eine Umformulierung der Weigerungsgründe für Dritte vor.
Diese sollten zur Vorlage nicht verpflichtet sein, wenn sie zur Verweigerung des
Zeugnisses gem. §§ 383 bis 385 ZPO berechtigt seien oder ihnen die Vorlage aus
sonstigen Gründen, insbesondere wegen eines überwiegenden Geheimhaltungsinteresses nicht zumutbar sei. Das Kriterium der Zumutbarkeit, das durch das Gesetz
neu eingeführt worden sei, so die Begründung, müsse durch Nennung eines gesetzlichen Beispiels konkretisiert werden. Da Unzumutbarkeit zudem auch im Fall des
Bestehens eines Zeugnisverweigerungsrechtes vorliege, müsse letzteres als Unterfall
der Unzumutbarkeit formuliert werden.
Schließlich sprach sich der Rechtsausschuß des Bundesrates noch für eine Umformulierung des § 429 ZPO in der vom Bundestag beschlossenen Fassung aus.
Danach sollte das Gericht über die Rechtmäßigkeit der Weigerung eines Dritten,
die Urkunde im Rahmen des parteibetriebenen Beweisantritts herauszugeben, zukünftig im Wege eines Zwischenstreits entscheiden können. Dadurch, so die Begründung, würde der sonst erforderliche eigenständige Herausgabeprozeß des
Beweisführers gegen den Dritten entfallen und könnte in den Hauptprozeß integriert werden.
Der Bundesrat ist den Empfehlungen seines Rechtsausschusses letztlich jedoch
nicht gefolgt und hat auf die Einberufung des Vermittlungsausschusses verzichtet.
Mit Ablauf der Frist des Art. 77 Abs. 2 GG am 22.06.2001 war das Gesetz zur
Reform des Zivilprozesses gem. Art. 78 GG zustande gekommen. Es wurde am
27.07.2001 ausgefertigt, am 02.08.01 verkündet und trat am 01.01.2002 - mit einer
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.