§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
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§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
Im folgenden soll die Entwicklung der Regeln über die Sachverhaltsaufklärung im
Zivilprozeß bis hin zum Status quo unmittelbar vor der Reform des Jahres 2001
beleuchtet werden, um eine Einordnung der neuen Editionspflichten in das bestehende System zu ermöglichen. Der Entwicklungsgang der ZPO wird verdeutlichen,
wann und wo Rechtsprechung und Wissenschaft mit ihrem Bemühen angesetzt
haben, die Verantwortung der Parteien für die Sachverhaltsaufklärung zu verstärken und zu modifizieren. Die nach Prozeßrecht und materiellem Recht bereits
bestehenden Informationsmöglichkeiten lassen einen Rückschluß auf den praktischen Bedarf erweiterter Vorlagepflichten zu. Prozeßrecht und materielles Recht
werden deshalb zunächst daraufhin untersucht, welche Möglichkeiten der Informationsbeschaffung sie der darlegungs- und beweisbelasteten Partei gegenüber dem
Prozeßgegner abseits der im Rahmen der Reform 2001 modifizierten Vorlageansprüche gewähren.
A. Der Beibringungsgrundsatz
Um Einzelprobleme des Prozeßrechts, deren Wirkungen weit in das System des
Gesetzes reichen, einer dogmatischen Lösung zuzuführen, kommt man nicht umhin, die in diesem Zusammenhang von einem Großteil der Literatur für entscheidend befundenen Strukturprinzipien des geltenden Prozeßrechts näher zu beleuchten.
Besonders auffällig ist es, daß in der Diskussion um die Frage, inwieweit das
Gericht auf eigene Initiative streitigen Sachverhalt aufklären darf bzw. in welchem
Maße die Parteien untereinander zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung
verpflichtet sein sollen, immer wieder der Beibringungsgrundsatz ins Feld geführt
wird. Das Verständnis für Bedeutung, Reichweite und Verbindlichkeit dieser Prozeßmaxime ist daher auch für die Beantwortung der hier interessierenden Einzelfragen hinsichtlich der Reichweite der neugestalteten Vorlagepflichten von grundsätzlicher Bedeutung. Strukturprinzipen unterliegen jedoch dem Wandel der Zeit,
insbesondere wenn sie so hehre Werte wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit des Individuums für sich selbst betreffen. Für die Heranziehung
einer Prozeßmaxime zur Klärung aktueller Rechtsfragen ist es daher zweckmäßig,
sich diesen Wandlungsprozeß bewußt zu machen, ohne dabei die interessierenden
Einzelfragen aus dem Blick zu verlieren.
I. Bedeutung des Beibringungsgrundsatzes
Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß bedeutet in erster Linie das Zusammentragen derjenigen Tatsachen, die zwischen den Parteien zu dem anhängigen Rechtsstreit geführt haben und die das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen soll. Wird diese Sammlung des Tatsachenstoffes vom Gericht wahrgenommen, spricht man von Untersuchungsgrundsatz oder Inquisitionsmaxime.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Obliegt die Stoffsammlung dagegen den Parteien und ihrer Verantwortung und
Initiative, wird von Verhandlungsmaxime oder treffender96 vom Beibringungsgrundsatz gesprochen. Die Prozeßmaxime umschreibt demnach modellartig eine
Art der Beschaffung des Prozeßstoffes in Abgrenzung von der Amtsermittlung97.
Im allgemeinen Verfahren des Zivilprozesses kommt den Parteien ein großer
Teil der Verantwortung für die Einführung des Tatsachenstoffes in den Prozeß zu.
Der Beibringungsgrundsatz wird durch die ZPO allerdings nicht ausdrücklich
angeordnet. Seine Geltung ergibt sich vielmehr aus dem Umkehrschluß98 zu den
Vorschriften der §§ 616, 617 und 640 Abs. 1 ZPO, die für das Verfahren in Familiensachen den Untersuchungsgrundsatz anordnen. Darüber hinaus wird der Beibringungsgrundsatz aus einer Analogie99 zu den die Parteiaktivität im Verfahren
regelnden Vorschriften der §§ 282 Abs. 1, 130 Nr. 3, 138 Abs. 3, 288, 371, 373,
403, 420, 421, 445, 447 ZPO hergeleitet.
Im Geltungsbereich des Beibringungsgrundsatzes bestimmen die Parteien mit
bindender Wirkung für das Gericht, welche Tatsachen in den Prozeß hineingetragen werden. Was die Parteien übereinstimmend vortragen, hat das Gericht als wahr
zu unterstellen100, was sie nicht vortragen, darf der Richter seinem Urteil nicht
zugrunde legen, vgl. § 288 ZPO. Darüber hinaus legen die Parteien durch ihr Verhalten auch fest, welche Tatsachen beweisbedürftig sind. Über bestrittene Behauptungen muß das Gericht deshalb, soweit sie für die Streitentscheidung erheblich
sind, Beweis erheben. Schließlich soll es nach herrschender Auffassung den Parteien obliegen, für die Feststellung streitigen Tatsachenvortrages Beweismittel zu
beschaffen und eine Beweisaufnahme zu veranlassen101.
Für die Geltung des Beibringungsgrundsatzes wird häufig sowohl eine "technische" als auch eine "ideologische" Rechtfertigung angeführt102. In "ideologischer
Hinsicht" wird er - dem liberalen Zeitgeist während der Entstehung der CPO 1877
folgend - als Begrenzung richterlicher Willkür verstanden103. Technisch stellt er ein
wirksames und aus Sicht des Staates kostengünstiges Mittel der Sachverhaltsaufklärung dar, das auf den Egoismus der Parteien setzt. Die Gegensätzlichkeit der Parteiinteressen führe besser als eine staatliche Untersuchung dazu, daß das Streitmaterial vollständig beigebracht und aufgeklärt werde104.
Dem Untersuchungsgrundsatz unterliegen demgegenüber Verfahren, denen ein
öffentliches Interesse an der Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts zuge-
96 Der besseren Anschaulichkeit wegen bevorzugen diesen Begriff Zettel, Beibringungsgrundsatz,
1977, 25; Prütting, NJW 1980, 361 (362); Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., vor § 128, Rn. 146; Schöpflin,
Die Beweiserhebung von Amts wegen, 1991, 47.
97 Stadler, FS-Beys 2003, 1625 ff. (1629).
98 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 483 f.; Prütting, NJW 1989, 362.
99 Vgl. Stürner, Die richterliche Aufklärung, 1982, 15 f.; Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im
Zivilprozeß, 1982, 90.
100 BGH NJW 1989, 3161 (3162).
101 Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., vor § 128, Rn. 153 ff.
102 Weyers, FS-Esser, 1975, 193 (200); Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (39); Stadler, FS-Beys, 1625 (1630).
103 Vgl. Brehm, Die Bindung des Richters, 1982, 12.
104 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 482; Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., vor
§ 128, Rn. 151.
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sprochen wird. Die Stoffsammlung obliegt hier dem Gericht, das an den Vortrag
sowie an Beweisanträge der Parteien nicht gebunden ist und auch neue Tatsachen
ohne Rücksicht auf den Parteiwillen in den Prozeß einführen darf. Das Gericht
kann und muß Beweise von Amts wegen erheben105. Die ZPO sieht diese Form
der Stoffsammlung für das Verfahren in Ehe- und Kindschaftssachen vor (vgl.
§ 616 Abs. 1, 617; 640 ZPO). In der Regel wird das Gericht jedoch auch in diesen
Verfahren lediglich Tatsachen ermitteln, die sich aus dem Parteivortrag ergeben. Da
den Gerichten in Deutschland kein eigener Ermittlungsapparat zur Verfügung
steht, ohne den es eine vollständig eigeninitiativliche Aufklärung nicht leisten kann,
sind die Unterschiede zwischen Beibringungsgrundsatz und Untersuchungsgrundsatz weniger gravierend, als es zunächst den Anschein erwecken mag.
In strenger theoretischer Anwendung würde die Modellvorstellung des Beibringungsgrundsatzes jegliche Beweisinitiative des Gerichts, wie sie die ZPO insbesondere in den §§ 142, 144 und 448 vorsieht, ausschließen, denn auch die Veranlassung
einer Beweisaufnahme soll dem Grundsatz nach ja den Parteien obliegen. Der
Beibringungsgrundsatz ist in der ZPO jedoch seit jeher nicht in Reinform verwirklicht. Das Gericht ist vielmehr im Rahmen seiner Befugnisse zur materiellen Prozeßleitung, etwa durch die heute in § 139 ZPO verankerte Hinweispflicht oder
durch die genannten Beweisinitiativen, zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung aufgerufen. Gleichzeitig wird die Freiheit der Parteien, nach Belieben Tatsachen in den Prozeß einzuführen, durch die Wahrheitspflicht gem. § 138 Abs. 1
ZPO beschränkt. Diese Ausnahmen vom reinen Beibringungsprinzip stellen den
Grundsatz als solchen noch nicht in Frage106. Das Gericht kann Beweise von Amts
wegen erheben, muß dies aber nicht, was insoweit den entscheidenden Unterschied
zur Untersuchungsmaxime ausmacht107. Den Parteien blieb es bisher außerdem
stets unbenommen, sämtliche Beweise auf eigene Initiative anzutreten. Dennoch
haben zahlreiche durch den Novellengesetzgeber vorgenommene Durchbrechungen108 des Beibringungsgrundsatzes bis heute immer wieder Anlaß für eine Diskussion um die richtige Gewichtung der Verantwortlichkeiten zwischen Parteien und
Gericht im Prozeß gegeben109.
105 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 493.
106 Baumbach-Hartmann, 65. Aufl., Grdz. § 128, Rn. 26; MüKo-ZPO-Lüke, 2. Aufl., Einl. Rn. 191;
Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., vor § 128, Rn. 155; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16.
Aufl., S. 483.
107 Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., vor § 128, Rn. 155.
108 Kritik gegenüber diesem Begriff bei Stürner, Die richterliche Aufklärung, 1982, 15, (Fn. 68).
109 Vgl. Stürner, Die richterliche Aufklärung, 1982, 2 f. m.w.N.
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II. Das Verständnis des Beibringungsgrundsatzes in der CPO von 1877
Die deutsche Civilprozeßordnung (CPO) von 1877110 hat die bis dahin geltenden
partikulären Prozeßrechte abgelöst und ein reichseinheitliches Zivilverfahrensrecht
eingeführt. Sie ging von der Vorstellung aus, daß sich die bestmögliche Aufklärung
des Sachverhaltes aus dem Wettstreit der gegensätzlichen Interessen der Parteien
ergebe111. Dem liberalen Zeitgeist entsprach zudem die Vorstellung, mit dieser
Aufgabenteilung zwischen Gericht und Parteien richterlicher Willkür vorbeugen112
zu können. Die Machtbefugnisse des Gerichts als Vertreter der Staatsgewalt gegen-
über dem Bürger sollten deshalb scharf abgegrenzt sein113. Der Zivilprozeß als
Einrichtung zur Durchsetzung subjektiver Rechte wurde als Privatsache verstanden, ein öffentliches Interesse an der Wahrheitsfindung dementsprechend verneint114. Man vertraute auf das freie Spiel der Kräfte und ging davon aus, daß die
Parteien im eigenen Interesse von der ihnen zur Verfügung gestellten Freiheit
Gebrauch machen würden, weil sie an einer raschen Entscheidung des Rechtsstreits
interessiert seien.
Zum bürgerlich-liberalen Freiheitsverständnis gehörte seinerzeit auch, daß die
Parteien den äußeren Fortgang des Prozesses weitgehend in eigener Verantwortung
bestimmten (sog. Parteibetrieb). Sie waren in der Ausgestaltung ihrer Prozeßführung, namentlich in der Bestimmung von Fristen und Terminen, bei der Bewirkung
von Ladungen und Zustellungen daher zunächst überwiegend frei und vom Gericht unabhängig. Eine zeitliche Grenze für neues Vorbringen der Parteien enthielt
die Prozeßordnung nicht. Dies führte allerdings schon bald nach Inkrafttreten der
CPO zu Klagen über die Langwierigkeit der Prozesse115 und zog im Rahmen der
Novellengesetzgebung alsbald das Bemühen nach sich, zunehmender Prozeßverschleppung durch verstärkten Amtsbetrieb entgegenzuwirken116.
Trotz dieser ursprünglich scharfen Trennung zwischen Partei- und Richterverantwortlichkeit verwirklichte schon die CPO von 1877 die Idee des Beibringungsgrundsatzes nicht in Reinform117. Im Interesse einer geordneten Rechtspflege sah
auch die Urform unseres Prozeßgesetzes Maßnahmen der materiellen Prozeßleitung vor. Von Anfang an enthielt sie etwa mit der Vorschrift des § 130 CPO eine
richterliche Hinweis- und Fragepflicht, wenn auch noch nicht so weitgehend wie
110 In Kraft getreten am 30.03.1877, RGBl. 1877, S. 83. Zur Entwicklung der Vorlagepflichten aus
dem römischen und dem gemeinen Recht sowie den partikularen Rechtsordnungen des 19. Jahrhunderts vgl. Steeger, Die zivilprozessuale Mitwirkungspflicht, 1981, 90 ff.; Nagel, Grundzüge des
Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, 1967, 139 ff.; Dilcher, AcP 158, 469 (476 f.).
111 Die damalige Geisteshaltung verdeutlicht anschaulich Greger, JZ 1997, 1077 (1077 f.).
112 Vgl. Brehm, Die Bindung des Richters, 1982, 12; Chudoba, Der ausforschende Beweisantrag, 1993,
122.
113 Sprung, ZZP 92 (1979), 4 (6).
114 Wach, Grundfragen und Reform des Zivilprozesses, 1914, 26.
115 Nachweise bei Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen, 1975, 36 f.
116 Zu den anfänglichen Änderungen mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung ausführlich z.B.
Habscheid, ZZP 81 (1968), 175 (180); Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (386 f).
117 Eine Reihe von Vorschriften, die bereits 1877 auf eine Inquisitionsmaxime hindeuteten, finden
sich bei Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen, 1975, 26.
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heute. Selbst die amtswegige Erhebung des Augenscheins- und Sachverständigenbeweises kannte die CPO bereits zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens, § 135 CPO.
Ferner konnte das Gericht gem. § 437 CPO von Amts wegen einer Partei den Eid
über eine streitige Tatsache auferlegen. Die Urkundenvorlagepflicht des § 142 ZPO
a.F. findet sich ebenfalls beinahe wörtlich in § 133 CPO. Allerdings wurde die
Befugnis des Gerichts seinerzeit noch auf die Zweckrichtung der Aufklärung undeutlichen Parteivorbringens reduziert. Eine Befugnis zur Beweiserhebung von
Amts wegen sah man in dieser Vorschrift damals noch nicht118.
Die Möglichkeit, von Amts wegen Augenscheins-, Sachverständigenbeweis und
Parteieid anzuordnen sowie die Existenz einer richterlichen Hinweis- und Fragepflicht zeigen, daß bereits die CPO von 1877 nicht davon ausging, Tatsachenvortrag und Beweisantritt seien ausschließlich Aufgabe der Parteien. Trotz dieser bereits zu Beginn vorhandenen Einschränkungen ging die CPO von 1877 aber von
einem Maß an Parteifreiheit und Parteiverantwortlichkeit aus, das seither nicht
mehr erreicht und - insbesondere seitens des Gesetzgebers - wohl auch nicht mehr
gewünscht wurde.
III. Die Novellengesetzgebung
Im Laufe der nunmehr über 130 Jahre seit ihrem Entstehen hat der Gesetzgeber
die ZPO vielfach geändert. Veranlassung war immer wieder das Bestreben, den
Zivilprozeß angesichts einer als zu lang empfundenen Verfahrensdauer und zu
hoher Kosten effizienter zu gestalten. Aber auch der Wandel der politischen und
gesellschaftlichen Verhältnisse hat seine Spuren im Gesetz hinterlassen. Für den
diktatorischen Staat sollte der Zivilprozeß andere Aufgaben erfüllen als für die
Vertreter eines sozialen Zivilprozesses, die in der liberalen Konzeption des Gesetzes eine strukturelle Benachteiligung sozial schwächerer Bevölkerungsschichten
erblickten. Obwohl die Struktur des Zivilprozesses trotz seiner zahlreichen Reformen in ihren Grundzügen bis heute erhalten geblieben ist, hat die Gesetzgebung zu
einer Reihe von beachtlichen Akzentverschiebungen im Zusammenhang mit den
hier interessierenden Fragestellungen geführt. Neue Rechtsnormen beziehen den
Beweisgegner inzwischen bei der Tatsachenfeststellung mit ein. So zwingt die
Wahrheitspflicht die Parteien nach § 138 I ZPO dazu, einen Beitrag zur Stoffsammlung zu leisten, selbst wenn sich dies im Hinblick auf das von ihnen verfolgte
Rechtsschutzziel ungünstig auswirkt. Im Rahmen der Parteivernehmung von Amts
wegen wurde dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt, die Weigerung einer Partei,
sich vernehmen zu lassen, zu ihren Ungunsten zu werten, §§ 446, 453 II ZPO.
§ 372a ZPO verpflichtet den Beweisgegner zur Klärung der Abstammung in bestimmten Fällen, körperliche Untersuchungen durch Sachverständige zu dulden.
Schließlich sollte auch eine Reihe an Arbeitsergebnissen diverser Kommissionen nicht unbeachtet bleiben, die, mit der Vorbreitung von Reformen beauftragt,
zahlreiche weitgehende Empfehlungen für die Entwicklung des Zivilprozesses
118 Vgl. Hahn, Die gesammten Materialien zur CPO, Band 1.1, 1. Abt., 1880, 215.
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geliefert haben, auch wenn diese vom Gesetzgeber oft nicht oder erst sehr viel
später berücksichtigt wurden. Sowohl diese Vorarbeiten als auch die auf ihr beruhende Reformgesetzgebung lassen wertvolle Schlüsse für die Beantwortung der
Frage zu, wie es um das gesetzliche System der Sachaufklärung im Zivilprozeß
bestellt ist.
1. Die Novelle 1909
Mit der sog. Amtsgerichtsnovelle119 fanden erstmals Inspirationen aus der am
01.01.1898 in Kraft getretenen österreichischen ZPO, die sich zwar weitgehend an
die deutsche ZPO anlehnte, allerdings straffen Amtsbetrieb und eine erhebliche
Verstärkung der richterlichen Prozeßleitungsbefugnisse umgesetzt hatte, Einzug in
das deutsche Prozeßrecht120. Reformbedarf sah man besonders für das amtsgerichtliche Verfahren, das insgesamt beschleunigt werden sollte121. Die Einführung von
Einzelrichtern am Landgericht sowie eines Verfahrens nach Lage der Akten zeugten von dem Bemühen, der zunehmenden Prozeßverschleppung Einhalt zu gebieten. Diesem Bedürfnis nach Konzentration des Verfahrens entsprang auch die
Stärkung der materiellen Prozeßleitungsbefugnis des Gerichts durch Einführung
des § 501 ZPO v. 1909, einer Vorgängervorschrift des heutigen § 273 ZPO n.F. Sie
ermöglichte dem Gericht, die Vorlage von Urkunden, auf die sich die Parteien
bezogen hatten, bereits vor der mündlichen Verhandlung anzuordnen. Das Gericht
sollte in die Lage versetzt werden, den Rechtsstreit so früh wie möglich vorzubereiten, damit er später möglichst in einer mündlichen Verhandlung erledigt werden
kann. Zunächst ermächtigte § 501 ZPO v. 1909 als Sondervorschrift für das amtsgerichtliche Verfahren jedoch nur den Amtsrichter zu entsprechenden vorbreitenden Anordnungen.
2. Die Novelle 1924
Mit der Novelle von 1924122 erweiterte der Gesetzgeber die materielle Prozeßleitungsbefugnis des Gerichts erneut zugunsten einer Beschleunigung des Verfahrens.
Mit der Übernahme des 1909 neueingeführten § 501 ZPO in § 272b ZPO v. 1924
wurden die zunächst nur für den Amtsrichter bestimmten Befugnisse auf das landgerichtliche Verfahren übertragen. Außerdem erhob man die Anordnung der vorbereitenden Maßnahmen erstmals zu einer (Prozeßförderungs-) Pflicht des Ge-
119 Gesetz betreffend Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivilprozeßordnung, des
Gerichtskostengesetzes und der Gebührenordnung für Rechtsanwälte vom 01.06.1909, RGBl.
1909, S. 475, in Kraft getreten am 01.04.1910.
120 Zum weiteren Einfluß der ZPO Österreichs auf die Novellengesetzgebung in Deutschland, vgl.
Sprung, ZZP 92 (1979), 4 (20 ff.); Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen, 1975, 179.
121 Vgl. die Übersicht zu den Änderungen bei Stein/Jonas-Brehm, 22. Aufl., Einl., Rn. 150.
122 (Not-) Verordnung [aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 08.12.1923, RGBl. S. 1179] über
das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 13.02.1924, RGBl. 1924 I, S. 135, nach
dem damaligen Reichsjustizminister auch "Emminger-Verordnung" genannt.
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richts. Für die Befugnis, die Urkundenvorlage bereits vor der mündlichen Verhandlung anzuordnen, wurde das in § 501 der ZPO von 1909 noch enthaltene Erfordernis einer Bezugnahme durch die Parteien gestrichen. Damit bestanden erstmals
unterschiedliche Voraussetzungen für die Anordnung der Urkundenvorlage während der mündlichen Verhandlung (§ 142 ZPO) und für die Anordnung im Vorfeld
(272 b ZPO), da der Gesetzgeber am Bezugnahmeerfordernis des § 142 ZPO bis
zur Reform 2001 festgehalten hat123.
Ebenfalls auf das landgerichtliche Verfahren übertragen wurde die bereits 1909
für das Amtsgericht eingeführte Pflicht, darauf hinzuwirken, daß die Parteien sich
über alle erheblichen Tatsachen vollständig erklären und die sachdienlichen Anträge stellen. Eine zusätzliche Erweiterung erfuhr die materielle Prozeßleitung, indem
das Gericht verpflichtet wurde, das Sach- und Streitverhältnis mit den Parteien
nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht zu erörtern. Zusammen mit der ursprünglich in § 130 CPO von 1877 festgeschriebenen richterlichen Frage- und Hinweispflicht wurde der neu geschaffene und bis zur jüngsten
Reform im Jahr 2001 unverändert gebliebene § 139 ZPO zu einer zentralen Norm
der materiellen Prozeßleitung sowohl für das amtsgerichtliche als auch für das
landgerichtliche Verfahren. Der weiteren Beschleunigung des Zivilprozesses diente
ferner die Einschränkung der Parteiherrschaft über Termine und Fristen (§§ 224,
227, 251 ZPO). Die Novelle hat damit sowohl die formelle als auch die materielle
Prozeßleitungsbefugnis des Gerichts nachhaltig gestärkt, indem es seine Bindung
an das Parteiverhalten gelockert und damit ein Stück weit Abstand vom liberalen
Geist der Urfassung des Gesetzes geschaffen hat.
3. Der Entwurf einer Zivilprozeßordnung aus dem Jahre 1931
Bereits im Jahr 1920 begannen im Reichsjustizministerium die Arbeiten an einer
umfassenden Reform der ZPO. Ihren vorläufigen Abschluß fanden sie 1931 mit
der Veröffentlichung des Entwurfs einer neuen Zivilprozeßordnung124, der von
einer periodisch tagenden Zivilprozeßkommission im Auftrag des Justizministers
erarbeitet worden war. Zwar ist der sog. Entwurf 1931 nie in Gesetzesform umgesetzt worden; sein Einfluß auf die weitere Entwicklung der Novellengesetzgebung
wird jedoch gemeinhin als nachhaltig bewertet125.
Besonders im Hinblick auf die Mitwirkungspflichten der Parteien im Rahmen
der Beweisführung enthielt der Entwurf aus heutiger Sicht erstaunlich fortschrittliche Empfehlungen. So sah er in den §§ 370 Abs. 2, 419, 420 ZPO eine allgemeine,
unabhängig vom materiellen Recht bestehende Vorlagepflicht für Augenscheinsobjekte und Urkunden vor126. Nach der amtlichen Begründung zu § 420 ZPO E 1931
sollte die Neuregelung "manchen unfruchtbaren Streit über das Bestehen einer
123 Vgl. hierzu oben Erster Teil.§ 1D.II.2.
124 Reichsjustizministerium (Hrsg.), Entwurf einer Civilprozeßordnung, 1931.
125 Stein/Jonas-Brehm, 22. Aufl., Einl., Rn. 170 m.w.N.
126 Reichsjustizministerium (Hrsg.), Entwurf einer Civilprozeßordnung, 1931, 242 f.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Vorlegungspflicht entbehrlich" machen127. Ein entsprechender Editionsantrag war
nach dem Entwurf bereits dann begründet, wenn der Beweisführer den Urkundenbesitz des Gegners behauptet und das Gericht die Überzeugung gewinnt, daß diese
Behauptung zutreffend ist. Mit diesem allgemeinen Vorlageanspruch sollte auch ein
entsprechendes Weigerungsrecht des Vorlageverpflichteten einhergehen, das auf
"berechtigte Interessen" an der Geheimhaltung abstellte128. Die Neuregelung der
Editionspflicht hätte zu einer gesetzlich verankerten prozessualen Mitwirkungspflicht der Parteien beim Urkundenbeweis geführt, wie sie von gewichtigen Teilen
der prozeßwissenschaftlichen Literatur seit Jahrzehnten gefordert wird, zu der sich
der Gesetzgeber jedoch bis heute nicht hat durchringen können.
Weitere Empfehlungen des Entwurfs bestanden u.a. in der Einführung einer
Wahrheitspflicht für die Parteien sowie in der Ersetzung des Parteieides durch die
Parteivernehmung. Beides wurde später im Rahmen der Novellengesetzgebung
verwirklicht.
4. Die Novelle 1933
Die Novelle aus dem Jahr 1933129 entstand bereits unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland. Sie orientierte sich dennoch in den Grundzügen an
dem Entwurf von 1931. Zwar blieben der Zivilprozeß und seine Ordnung keineswegs vom nationalsozialistischen Gedankengut verschont, allerdings zielten die
Maßnahmen mehr in Richtung einer Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz
sowie einer Gängelung der Richterschaft in einzelnen Verfahren130. Eine radikale
Verschiebung der Gewichtung von Richtermacht und Parteifreiheit, die man aus
heutiger Anschauung wohl für wenig überraschend halten würde, fand jedoch jedenfalls im Gesetzestext der ZPO - keinen deutlich sichtbaren Niederschlag.
Dennoch brachte die Novelle Änderungen mit sich, die die Freiheit der Parteien im
Prozeß fortan einschränkte. Sie führte insbesondere die Aufnahme der bereits im
Entwurf von 1931 enthaltenen Wahrheitspflicht der Parteien in die ZPO ein (§ 138
Abs. 1), was von manchem als bislang weitestgehender Eingriff in die Verhandlungsmaxime erachtet wird131.
Die Novelle führte weiterhin zur Ersetzung des Parteieides durch die nunmehr
eidliche oder uneidliche Parteivernehmung. Neugeschaffen wurde in diesem Zusammenhang auch die Regelung § 446 ZPO in der heute noch bestehenden Form,
die es dem Gericht ermöglicht, das Verhalten einer Partei frei zu würdigen, wenn
sie sich einer Vernehmung grundlos widersetzt. Viele der in der Zeit der Weimarer
Republik geborenen Leitgedanken des Entwurfes 1931 wurden indessen nicht
umgesetzt, was sicherlich der besonderen politischen und wirtschaftlichen Lage
127 Peters, ZZP 82 (1969), 200 (210).
128 Reichsjustizministerium (Hrsg.), Entwurf einer Civilprozeßordnung, 1931, 336.
129 Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27.10.1933, RGBl.
1933 I, S. 780, in Kraft getreten am 01.01.1934.
130 Eine Übersicht der einzelnen Eingriffe findet sich bei Stein/Jonas-Brehm, 22. Aufl., Einl., Fn. 375.
131 So z.B. Arens, ZZP 96 (1983); 1 (12).
§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
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geschuldet gewesen sein dürfte. Auch die im Entwurf enthaltene allgemeine Editionspflicht für Urkunden und Augenscheinsgegenstände wurde nicht übernommen.
5. Die Novelle 1950
Mit dem Gesetz zur Wiedereinführung der Rechtseinheit132 und der damit einhergehenden Neubekanntmachung der ZPO fand § 372a erstmals Einzug in die Zivilprozeßordnung. Die Vorschrift enthält eine Pflicht zur Duldung körperlicher Untersuchungen für Parteien und Dritte im Verfahren zur Feststellung der Abstammung, die noch heute als "erstaunlich schneidig"133 gilt.
6. Die Vorschläge der sog. Kommission 1961
Besondere Bedeutung für künftige Reformen erlangte fortan die Arbeit der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit. Vom Bundesminister der Justiz 1955 eingesetzt, war sie bis 1961 tätig und publizierte ihre Überlegungen in einem Bericht134. Eine Reihe von künftigen Reformen nimmt später
Bezug auf die in diesem Bericht aufgeführten und erörterten Probleme. Nebenbei
bemerkt spricht sich die Kommission in ihren Erörterungen betreffend die allgemeinen Probleme des Verfahrens ausdrücklich für die Beibehaltung des Beibringungsgrundsatzes als tragendes Prinzip der Parteienverantwortlichkeit im Prozeß
aus135.
Besonders hervorzuheben ist allerdings die Empfehlung der Kommission, die
§§ 142, 272b der ZPO v. 1961 dahingehend zu erweitern, daß "eine möglichst frühe
und vollständige Urkundenvorlegung durch die Parteien angestrebt wird"136. Ob
und in welchem Umfang mangels Zumutbarkeit für den Vorlageverpflichteten
Ausnahmen von diesem Grundsatz zu machen seien, sollte nach Einschätzung der
Kommission jedoch einer weiteren Prüfung unterzogen werden. Bekanntlich fand
auch dieser Vorstoß zur Novellierung der Vorlagepflicht für Urkunden beim Gesetzgeber bis zum Jahr 2001 kein Gehör.
132 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der
bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.09.1950 mit gleichzeitiger Bekanntmachung der von nun an maßgebenden Texte des GVG, der ZPO und der
StPO, BGBl. 1950 I S. 455, in Kraft getreten am 01.10.1950.
133 Schlosser, JZ 1991, 599 (604).
134 Bundesjustizministerium (Hrsg.), Bericht der Kommission, 1961.
135 Bundesjustizministerium (Hrsg.), Bericht der Kommission, 175 f.
136 Bundesjustizministerium (Hrsg.), Bericht der Kommission, 205.
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7. Die Novelle 1976
Ziel der sog. Vereinfachungsnovelle137 war es, die Beschleunigung des Zivilprozesses durch weitere Konzentration des gesamten Verfahrens, insbesondere aber
durch die Aufwertung der mündlichen Verhandlung zu erreichen138. Der neugestaltete § 272 Abs. 1 ZPO v. 1977 drückt die Idealvorstellung des Gesetzgebers aus,
wonach der Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Hauptverhandlung zur
Entscheidungsreife geführt werden soll. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere die §§ 272 bis 283 vollkommen umgestaltet. § 273 trat an die Stelle des
1924 eingeführten § 272b ZPO, wobei die Anordnung der Urkundenvorlage als
terminvorbereitende Maßnahme in § 273 ZPO weiterhin nicht an eine Bezugnahme
der Urkunde durch die besitzende Partei geknüpft wurde. Aufgrund des neueingeführten § 358a ZPO ist ein Beweisbeschluß des Gerichts von nun an bereits im
Vorfeld der mündlichen Verhandlung möglich. Dadurch sollen Verzögerungen, die
durch die Ansetzung eines weiteren Termins zur Beweisaufnahme entstehen, vermieden werden.
Die Novelle führte ferner zur Einführung der sog. allgemeinen Prozeßförderungspflicht der Parteien gem. § 282 Abs. 1 ZPO, verschiedener Fristen, §§ 275
Abs. 1, 276 Abs. 1, 3, 277 Abs. 1, 3 ZPO und einer verschärften Präklusion für
verspätet vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel in § 296 ZPO. Die über
die Präklusion bewehrte Prozeßförderungspflicht führte zwar zu einer Veränderung
des Zeitpunktes des geforderten Parteivorbringens, weniger jedoch zu einer Änderung des Inhaltes der prozeßfördernden Maßnahmen139 der Parteien. Eine qualitative Erhöhung der von den Parteien bei der Sachverhaltsaufklärung geforderten
Mitwirkung war mit der Neuregelung nicht verbunden und wohl auch nicht bezweckt.
8. Die Vorschläge der sog. Kommission 1977
Die Beratungen der Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit von 1961 führte ab 1964 die Kommission für das Zivilprozeßrecht mit dem
Ziel fort, das geltende Recht auf erforderliche Änderungen und Verbesserungen
hin zu überarbeiten. Anknüpfend an die Erwägungen der Kommission von 1961
legte sie in ihrem im Jahr 1977 veröffentlichten Bericht140 einen Vorschlag zur
Neufassung der §§ 415 ff. ZPO141 vor, der in § 419 Abs. 2 des Entwurfes eine
erweiterte prozessuale Vorlagepflicht für Urkunden enthält. Der Beweisgegner
sollte danach, auch ohne daß er einem materiell-rechtlichen Anspruch des Beweisführers ausgesetzt war, im Rahmen der Zumutbarkeit zur Vorlage einer Urkunde
137 Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 02.12.1976, BGBl. I
1976, S. 3281, in Kraft getreten 01.07.1977.
138 Vgl. Bender/Belz/Wax, Das Verfahren nach der Vereinfachungsnovelle, 1977, 2.
139 Bettermann, ZZP 91 (1978), 367 (389).
140 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Kommission.
141 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Kommission, Anlage 10, 350 f.
§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
61
verpflichtet werden können. Mit dieser Erweiterung der Editionspflicht sollte die
Unregelmäßigkeit beseitigt werden, wonach der Beweisgegner, der die Vorlegung
der Urkunde verweigert, keinen prozessualen Nachteil erleidet, während ihm aus
der Weigerung, sich über den Inhalt der Urkunde als Partei vernehmen zu lassen,
gem. § 446 ZPO Nachteile bis zum Prozeßverlust erwachsen können142. § 421 des
Entwurfes bezog diese Vorlagepflicht der Parteien auch auf außerhalb des Prozesses stehende Dritte.
Darüber hinaus enthielt der Entwurf in § 286 Abs. 2 und 3 eine allgemeine
Sanktionsregel für sämtliche Fälle einer Beweisvereitelung143, die das von der
Kommission als lückenhaft empfundene Regelungsgeflecht der §§ 371, 373, 420,
428, 432, 445 ZPO 1977 entbehrlich machen und den Gerichten eine einheitliche
gesetzliche Grundlage bieten sollte. Auch dieser erneute Vorstoß zur Schaffung
einer maßgeblich erweiterten Pflicht der Parteien zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung hat bis heute beim Gesetzgeber keinen rechten Anklang finden
können.
9. Novelle 1990
Das sog. Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz144 führte mit § 378 Abs. 1 eine neue
Pflicht für Zeugen ein. Diese waren von nun an gehalten, vor ihrer Vernehmung
Aufzeichnungen sowie andere Unterlagen einzusehen und zum Termin mitzubringen, § 378 Abs. 1 ZPO. Die Pflicht, dem Gericht oder dem Gegner Einsicht in
diese Dokumente zu gewähren, ging damit aber nicht einher145. Die Regelung wurde in der Literatur zunächst heftig kritisiert, weil sie den Zeugen zwar dazu anhielt,
nach schriftlichen Unterlagen zu suchen und diese zum Termin mitzubringen, auf
eine Anordnung der Vorlage im Prozeß aber inkonsequenterweise verzichtete146.
Aus heutiger Sicht kann die Änderung dennoch als eine Art erste Stufe der Entwicklung hin zu verstärkter Inanspruchnahme Dritter im Prozeß betrachtet werden.
Der Forderung nach einer Vorlagepflicht Dritter ist der Gesetzgeber mit der Reform des Jahres 2001 inzwischen nachgekommen.
Schließlich brachte das Jahr 1990 - wenn auch nicht im Rahmen einer Novellierung der ZPO - die Einführung einer Reihe neuer materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche147 auf dem Gebiet des Schutzes geistigen Eigentums (§§ 140 b PatG,
101a UrhG, 24b GebrMG).
142 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Kommission, 145 f.; vgl. hierzu auch oben
Erster Teil.§ 5.
143 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bericht der Kommission., 121 ff.
144 Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17.12.1990, BGBl I 1990, 2847, in Kraft getreten
01.04.1991.
145 Zöller-Greger, 21. Aufl., § 378, Rn. 2.
146 Vgl. statt vieler Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (135); ders., NJW 1992, 3275 (3277).
147 Zur Reichweite dieser und anderer materiell-rechtlicher Informationspflichten, vgl. unten
Zweiter Teil.§ 2C.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
62
10. Das Kindesunterhaltsgesetz 1998
Im Jahr 1988 führte der Gesetzgeber im Rahmen des Kindesunterhaltsgesetzes148
in § 643 ZPO eine prozessuale Pflicht zur Erteilung von Auskünften sowie zur
Vorlage von Belegen im Unterhaltsprozeß ein, die sich sowohl an die Prozeßparteien als auch an Dritte wendet. Sie dient dem Unterhaltsberechtigten zur Geltendmachung seiner Ansprüche gegen den Unterhaltsschuldner und besteht unabhängig
von im konkreten Fall ggf. daneben einschlägigen materiell-rechtlichen Ansprüchen
nach §§ 1361 Abs. 4 und 1605 BGB. Gegenüber den am Unterhaltsverfahren häufig beteiligten Sozialhilfeträgern bestanden bereits zuvor Auskunfts- und Vorlagepflichten für alle relevanten Tatsachen und Beweisurkunden, § 60 I SGB I, § 116
BSHG, §21 I, II SGB X. Mit der Neufassung des § 643 ZPO strebte der Gesetzgeber nunmehr eine generelle Auskunftspflicht hinsichtlich aller für die Unterhaltsbemessung relevanten Tatsachen an.
11. Stellungnahme
Die angesprochenen Novellen zielten - auch wenn sie gelegentlich als "Flickschusterei"149 gegeißelt werden - ganz überwiegend primär auf eine Beschleunigung des
Prozesses durch Konzentration des Verfahrens ab. In vielen Fällen ging mit dem
Bemühen um einen effizienteren Prozeßverlauf allerdings auch eine Stärkung der
Richtermacht zu Lasten der Parteiverantwortlichkeit einher150. Die formelle Prozeßleitungsbefugnis des Gerichts wurde insbesondere in den Novellen 1909 und
1924 gestärkt, um den als zu ausgeprägt empfundenen Parteibetrieb einzudämmen.
Aber auch die Ausweitungen der materiellen Prozeßleitungsbefugnisse, insbesondere die Einführung der Vorbereitungsmaßnahmen für die mündliche Verhandlung,
intendierten in erster Linie einen strafferen, zeit- und kostengünstigeren Prozeß.
Die festgestellte Verlagerung der ursprünglich in der CPO von 1877 vorgesehenen
Gewichtung von Richtermacht und Parteifreiheit ist deshalb wohl eher als Nebenwirkung zu den genannten Zielen zu begreifen, deren Auswirkungen der Gesetzgeber aber offenbar für hinnehmbar hielt.
Mit Ausnahme der Sondervorschriften der §§ 372a und 643 ZPO sowie der
1938 eingeführten Wahrheitspflicht der Parteien, die den eingeforderten Mitwirkungsbeitrag der Parteien qualitativ erhöht hat, beabsichtigte es der Gesetzgeber
offenbar auch nicht, die Parteien untereinander zu einem höheren Maß an Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung anzuhalten. Gleichwohl erkennbar ist ein in
jüngerer Zeit eingesetztes Bemühen, am Prozeß nicht beteiligte Dritte in die Aufklärung des Sachverhaltes mit einzubeziehen. Zwar liegt der Verdacht nahe, daß
auch diese Entwicklung primär mit Blick auf die damit erreichbare Verfahrensbeschleunigung in Gang gesetzt wurde; wenn damit aber eine verbesserte Aufklärung
148 Kindesunterhaltsgesetz vom 06.04.98 (BGBl. I 1998, S. 666).
149 Greger, JZ 1997, 1077 (1078); Bettermann, ZZP 91 (1978), 395.
150 Im wesentlichen unverändert sieht das Verhältnis zwischen Richtermacht und Parteifreiheit bis
1978 dagegen Bettermann, ZZP 91 (1978), 367 (389).
§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
63
des streitigen Sachverhaltes einhergeht, ohne in unzumutbarer Weise schutzwürdige Interessen Dritter zu beeinträchtigen, so ist diese Tendenz durchaus als begrü-
ßenswert zu erachten.
Daß die Zurückhaltung des Gesetzgebers im Hinblick auf die Erweiterung der
Mitwirkungspflichten der Parteien eine wohlüberlegte war, zeigt sich eindrucksvoll
an der skizzierten Arbeit der von den Justizministern beauftragten Kommissionen.
Ihre Aufgabe bestand darin, das jeweils geltende Recht auf bestehende Mängel hin
zu untersuchen, Verbesserungen zu entwickeln und entsprechende Überarbeitungsvorschläge zu unterbreiten. Viele dieser pointiert formulierten und vom
schädlichen Einfluß von Interessensgruppen verschont gebliebenen Vorschläge hat
der Gesetzgeber in seiner Novellengesetzgebung umgesetzt. Die von allen drei
Kommissionen vorgeschlagene Erweiterung der prozessualen Vorlagepflichten
dagegen blieb - jedenfalls bis zur Reform im Jahr 2001 - gänzlich unverwirklicht.
IV. Die Bedeutung des Beibringungsgrundsatzes nach heutigem
Verständnis
Die zahlreichen Änderungen des Gesetzes werfen die Frage auf, ob der Beibringungsgrundsatz heute noch als prägend für den Zivilprozeß anzusehen ist151.
Das ursprüngliche Leitbild hat seit Inkrafttreten der CPO nicht nur Durchbrechungen seitens des Novellengesetzgebers, sondern vor allem auch ideologisch
motivierte Kritik durch die Wissenschaft erfahren. Die ersten Angriffe auf den
Beibringungsgrundsatz erfuhr die junge ZPO bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten.
Insbesondere Franz Klein152, der als Schöpfer der österreichischen ZPO von 1898
gilt, sah, anknüpfend an die sozialistische Kritik von Anton Menger153, in der Verwirklichung des Beibringungsgrundsatzes der deutschen ZPO eine Benachteiligung
unterer sozialer Schichten, die die Freiheit, die ihnen der Beibringungsgrundsatz
einräumte, nicht zu ihrem Vorteil zu nutzen wüßten. Nur eine ausgeprägte Aktivität
des Richters, der den Rechtsstreit von Amts wegen durchführt, könne eine wirkliche Gleichheit der Parteien ermöglichen. Das österreichische Zivilprozeßrecht ging
von der Leitidee aus, Einrichtung zur Sicherung der sozialen Wohlfahrt der Bürger
zu sein154. Es verwirklichte denn auch von Anfang an straffen Amtsbetrieb, starke
richterliche Prozeßleitungspflichten in Form von terminvorbereitenden Maßnahmen und sah bereits 1889 eine Wahrheitspflicht der Parteien vor. In Deutschland
verstärkte sich zu dieser Zeit die Debatte um das Ausmaß der Parteifreiheit, insbesondere was die damals noch sehr weitgehende Verantwortlichkeit der Parteien für
den äußeren Fortgang des Prozesses betraf155. In der Novellengesetzgebung stand
151 Einen Überblick über die ideologischen Angriffe auf die Verhandlungsmaxime seit Inkrafttreten
der ZPO bietet Leipold, JZ 1982, 441 ff.
152 Klein, Pro futuro, 1891, 19.
153 Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890, Neudruck 1968.
154 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, 22.
155 Vgl. Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen, 1975, 55 ff.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
64
die Kodifikation aus Österreich deshalb immer wieder Modell für die hierzulande
angestrebten Änderungen.
Auch während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland wurde der Beibringungsgrundsatz verstärkt in Frage gestellt. Der Zweck des Zivilprozesses wurde der gesellschaftspolitischen Gesinnung entsprechend nicht in der Durchsetzung
privater Rechte des Einzelnen gesehen, sondern im Dienst an der Volksgemeinschaft durch Pflege der Rechtsordnung156. Die Bindung des Richters an das Verhalten der Parteien lief dieser Auffassung zuwider, so daß mitunter die Abschaffung
des Beibringungsgrundsatzes, jedenfalls aber eine verstärkte Unabhängigkeit des
Gerichts vom Parteiverhalten gefordert wurde157. Im Rahmen der Novellengesetzgebung dieser Zeit fanden derartige Bestrebungen jedoch kaum Niederschlag. Mit
Ausnahme der 1933 eingeführten Wahrheitspflicht blieb die Parteifreiheit im Prozeß jedenfalls formal weitestgehend erhalten.
Nach einer längeren Phase der Rückbesinnung auf die liberale Grundkonzeption des Zivilprozesses in der jungen Bundesrepublik158 mehrten sich seit Beginn der
Siebziger Jahre des vergangen Jahrhunderts wieder die Stimmen, die in einem vom
Beibringungsgrundsatz geprägten Zivilprozeß die weniger privilegierten Schichten
als strukturell benachteiligt ansahen. Diese Vertreter eines sog. sozialen Zivilprozesses, zu denen insbesondere Rolf Bender und Rudolf Wassermann159 zu zählen sind,
knüpfen damit an die sozialideologisch motivierte Kritik Mengers und Kleins an. Sie
sehen den heutigen Zivilprozeß nicht mehr als unter der Verhandlungsmaxime
stehend an. Die Novellengesetzgebung seit Inkrafttreten der ZPO, insbesondere
die Novellen von 1909, 1924 und 1933, habe eine soziale Umbildung des Zivilprozesses in Gang gesetzt, die dem Prozeß eine "ganz andere Gestalt" gegeben habe160.
Dadurch sei der Beibringungsgrundsatz in seinem liberalen Verständnis abgelöst
und an seine Stelle eine Kooperationsmaxime getreten, womit sich die soziale Prozeßauffassung durchgesetzt habe161. Parteien und Gericht bildeten heute eine Art
Arbeitsgemeinschaft bei der Aufklärung und Feststellung des Sachverhaltes162.
Daß die sozialideologisch motivierte Kritik an der CPO von 1877 bis heute
nicht unbeachtet geblieben ist, versteht sich schon angesichts des Wandels zum
Sozialstaatsverständnis von selbst. Der Blick auf die Novellengesetzgebung hat
gezeigt, daß der Gesetzgeber im Laufe der Jahrzehnte sowohl die formellen als
auch die materiellen Prozeßleitungsbefugnisse des Gerichts erheblich ausgeweitet
hat. Mit Blick auf die mit den Novellen überwiegend verfolgten Intentionen ist
jedoch davon auszugehen, daß weniger ein als unsozial empfundener Prozeß als
vielmehr ein ineffektiver und unökonomischer, die Rechtsmittelgerichte in unerträglicher Weise belastender Prozeß Anlaß zu entsprechenden Korrekturen der
156 De Boor, Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, 30.
157 De Boor, Auflockerung des Zivilprozesses, 1939, 8.
158 So bekannte sich die Würzburger Tagung der Zivilrechtslehrer im Jahr 1953 eindeutig zur Verhandlungsmaxime, JZ 1953, 415 ff.
159 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978.
160 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, 61.
161 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, 61.
162 Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, 109.
§ 2 Das gesetzliche System der Sachverhaltsaufklärung im Zivilprozeß
65
ursprünglichen Konzeption gegeben hat. Die Motivation der Stärkung sozial
schwächerer Bevölkerungsschichten findet in den Intentionen des Novellengesetzgebers jedenfalls nur selten, und wenn, dann nur am Rande oder im Rahmen des
Zugangs zu den Rechtsmittelgerichten eine Rolle163. So müssen die Novellierungen
der ZPO letztlich als pragmatische Lösungsversuche für die zu ihrer Zeit besonders
dringenden Probleme verstanden werden, die jedoch weit hinter den wohlvorbereiteten Vorschlägen zur einer grundsätzlichen Überarbeitung der ZPO zurückgeblieben sind. Eine "große Reform" des Zivilprozeßrechts ist bis heute ausgeblieben.
Trotz der inzwischen modifizierten Gewichtung von Richtermacht und Parteifreiheit in der heutigen ZPO läßt sich der Gesetzesstruktur nach wie vor ein hohes
Maß an Parteiverantwortlichkeit für die Einführung und Feststellung des Tatsachenstoffes in den Prozeß entnehmen164. Zahlreiche Korrekturen wie etwa die
durch die Wahrheitspflicht erfolgte inhaltliche Beschränkung des Parteivorbringens
oder die Möglichkeiten des Gerichts, zur Terminvorbereitung Maßnahmen zur
Beweismittelbeschaffung zu treffen, haben die Parteifreiheit allerdings im Laufe der
Zeit ebenso zurückgedrängt wie einzelne neu eingeführte Sonderregelungen, die
dem Gericht in bestimmten Verfahrensarten eine Untersuchung von Amts wegen
ermöglichen.
So mag es auch heute noch gerechtfertigt sein, das nach wie vor hohe Maß an
Parteiverantwortlichkeit im Rahmen des allgemeinen Zivilprozesses - besonders in
Abgrenzung zu anderen Verfahrensarten - mit dem Schlagwort des Beibringungsgrundsatzes zu umschreiben. Auch heute sind nur die von den Parteien behaupteten Tatsachen aufklärungsbedürftig und entscheidungserheblich. Ausschließlich
bestrittene Tatsachen sind beweisbedürftig. Behauptungen einer Partei können von
der anderen zugestanden werden, womit sie das Gericht als unstreitig anzusehen
hat. Auch für die hier im Mittelpunkt des Interesses stehende jüngste Reform aus
dem Jahr 2001 ist daher von einem Prozeßverständnis auszugehen, in dem es
grundsätzlich den Parteien obliegt, die streitrelevanten Tatsachen in den Prozeß
einzuführen und ggf. unter Beweis zu stellen. Richterliche Initiativbefugnisse stellen
in diesem Zusammenhang allerdings nicht ein bestehendes System auf den Kopf,
sondern gliedern sich in eine seit vielen Jahrzehnten zu beobachtende Rechtsentwicklung ein und treten insoweit neben die nach wie vor stark ausgeprägte Parteiverantwortlichkeit.
V. Zusammenfassung
Der Beibringungsgrundsatz kann modellhaft als Antwort auf die Frage dienen, wie
sich die Verantwortlichkeiten für die Einführung des Streitstoffs in den Prozeß
zwischen Gericht und Parteien verteilt. Er gilt als prägende Leitidee der historischen CPO von 1877. Im Gesetz seit jeher ohne ausdrückliche Erwähnung, ergibt
sich seine Geltung trotz der gegenläufigen Entwicklung in der Novellengesetzge-
163 Als Beispiel mag das im Rahmen der Zuständigkeitsnovelle 1974 eingeführte Prorogationsverbot
dienen.
164 MüKo-ZPO-Lüke, 2. Aufl., Einl. Rn. 191; Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 128, Rn. 150.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
66
bung noch heute sowohl aus einer Reihe von Vorschriften, die den Parteien die
Zuständigkeit für die Beibringung des Streitstoffs zuweist, als auch aus dem Umkehrschluß zu solchen Regelungen, die für bestimmte Verfahrensarten besondere
richterliche Initiativbefugnisse vorsehen. Schon in seiner vom liberalen Zeitgeist
des späten 19. Jahrhunderts geprägten Geburtsstunde war der Grundsatz in der
CPO nicht in Reinform verwirklicht. Richterliche Initiativen zur Sachverhaltsaufklärung kannte das Gesetz - wenn auch in wesentlich geringerem Umfang als heute
- bereits zur damaligen Zeit. Auch heute werden richterliche Beweisinitiativen nicht
als partielle Einführung des Untersuchungsgrundsatzes verstanden, sondern als
Möglichkeit der Abkürzung des Verfahrens, die eine Aufforderung zum Beweisantritt erspart165. So besehen treten die richterlichen Befugnisse neben die Parteienverantwortlichkeit.
Durch Novellengesetzgebung und ideologisch motivierte Kritik wurde der Beibringungsgrundsatz im Laufe der Zeit modifiziert und die richterlichen Befugnisse
im Rahmen der Sachaufklärung im Zivilprozeß stetig ausgeweitet. Die Rolle des
Richters ist heute nicht mehr auf das Bild einer staatlichen Institution zu reduzieren, die, am Fortgang des Verfahrens weitgehend interesselos, Rechtsschutz ausschließlich auf Grundlage des von den Parteien vorgebrachten Tatsachenmaterials
gewährt. Die verschiedenen Novellen der ZPO haben vielmehr zu einer erweiterten
Verantwortlichkeit des Gerichts für die zügige Erledigung des Prozesses gesorgt.
Leitmotiv des Novellengesetzgebers war es vor allem, den Zivilprozeß effizienter,
und ökonomischer auszugestalten. Die rechtspolitische Intention einer Abkehr
vom Grundsatz der Parteienverantwortlichkeit läßt sich allerdings nicht nachweisen.
Dem Beibringungsgrundsatz ist dagegen keine Aussage darüber zu entnehmen,
wie sich die Verantwortlichkeiten für die Einführung des Tatsachenstoffes und
dessen Beweis zwischen den Parteien verteilt. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit die nicht beweisbelastete Partei sich an der Aufklärung des dem Rechtsstreit
zugrunde liegenden Sachverhaltes zu beteiligen hat, kann der Beibringungsgrundsatz daher nicht unmittelbar herangezogen werden166. Lediglich in den Fällen, in
denen der Beweisführer seinen Gegner mit Hilfe des Gerichts zur Mitwirkung an
der Sachverhaltsaufklärung zu veranlassen versucht, kommt dem Beibringungsgrundsatz und damit der Abgrenzung von Richtermacht und Parteifreiheit Bedeutung zu.
B. Das System der Risikozuweisungen bei der Beibringung des Streitstoffs
Die Abgrenzung der Verantwortung für die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß zwischen den Parteien ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Beibringungsgrundsatz, sondern folgt vielmehr einem System abstrakt festgelegter Risikozuweisungen in Form von Lasten.
165 Vgl. Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 68 m.w.N. aus der Literatur.
166 Treffend insoweit Stürner, ZZP 104, (1991), 208 (215); Peters, FS-Schwab, 1990, 399 (407).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.