Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
288
folgten sinnlichen Wahrnehmung erfüllt ist. Anders als im Falle des § 142 ZPO n.F.
kann dem Dritten mit einer Vorlageanordnung also in aller Regel nicht dadurch
eine besondere Härte entstehen, daß er dazu angehalten wird, über einen längeren
Zeitraum auf den vorzulegenden Gegenstand zu verzichten.
2. Die Weigerungsrechte der Prozeßparteien
Auch im Rahmen der Neugestaltung des § 144 ZPO n.F. hat der Reformgesetzgeber auf die Implementierung von Weigerungsrechten der Parteien, die sie einer
gerichtlichen Vorlageanordnung entgegenhalten könnten, verzichtet. Den berechtigten Interessen der Parteien an einer Zurückhaltung eines zur Vorlage angeordneten Gegenstandes hat das Gericht nach der Intention des Reformgesetzgebers
vielmehr auch hier im Rahmen seines Anordnungsermessens zu berücksichtigen1197.
D. Die Ermessensentscheidung des Gerichts
Wie die Anordnung nach § 142 Abs. 1 ZPO n.F. steht auch die Vorlageanordnung
nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, dessen
rechtsfehlerfreie Ausübung der Überprüfung durch ein Rechtsmittelgericht zugänglich ist1198. Zu den allgemeinen Erwägungen, die das Gericht im Rahmen seiner
Ermessensausübung anzustellen hat, sei insoweit zunächst auf die entsprechenden
Ausführungen zur Vorlageanordnung nach § 142 Abs. 1 ZPO verwiesen. Darüber
hinaus hat das Gericht allerdings einige Besonderheiten im Rahmen der Ermessensentscheidung zu beachten, wenn es den Erlaß einer Anordnung auf § 144
Abs. 1 ZPO n.F. stützt.
I. Das zusätzliche Auswahlermessen
Dem Gericht kommt bei der Anwendung des § 144 Abs. 2 ZPO n.F. zunächst
insoweit ein zusätzliches Auswahlermessen zu, als es nicht nur über das "ob" einer
Anordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. zu befinden hat, sondern sich darüber
hinaus auch zwischen dem Erlaß einer Vorlageanordnung und einer Duldungsanordnung entscheiden kann. Mangels entgegenstehender Einschränkungen kommt
der Erlaß einer Duldungsanordnung nicht nur für unbewegliche Augenscheinsgegenstände, sondern auch für solche in Betracht, deren aktive Vorlage bei Gericht
zwar möglich, für den Vorlageadressaten allerdings einen erheblichen Aufwand mit
sich bringen würde. Hat sich das Gericht im Rahmen seiner Ermessensausübung in
einem ersten Schritt für den Erlaß einer Anordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F.
entschieden, wird es daher in einem zweiten Schritt die mit einer aktiven Vorlage
1197 Vgl. hierzu sogleich unten.
1198 Zur Ermessensfehlerlehre vgl. oben Dritter Teil.§ 3E.I.
§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
289
verbundenen Belastungen des Anordnungsadressaten gegen den Aufwand abzuwägen haben, der mit einer Inaugenscheinnahme des Gegenstandes an einem anderen
Ort einhergeht.
II. Die Anordnung auf Parteiantrag gem. § 371 Abs. 1 S. 1 ZPO n.F.
Ergeht die Anordnung auf Antrag einer Partei gem. § 371 Abs. 2 S. ZPO n.F.,
handelt es sich stets um eine Vorlageanordnung zu Beweiszwecken im Rahmen
eines parteibetriebenen Beweisantritts. Diese Konstellation entspricht grundsätzlich
der Vorlageanordnung einer Urkunde gem. § 428 Alt. 2 ZPO n.F., jedoch mit der
Besonderheit, daß das Gesetz den Parteien den Antritt des Augenscheinsbeweises
über den Weg einer gerichtlichen Vorlageanordnung nicht nur eröffnet, wenn sich
der Beweisgegenstand im Besitz eines Dritten befindet, sondern auch dann, wenn
der Prozeßgegner den Gegenstand in Besitz hält. Diese Möglichkeit des parteibetriebenen Antritts des Augenscheinsbeweises hatte der ZPO-Reformgesetzgeber
ursprünglich zwar nicht vorgesehen, sie wurde aber im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung in § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. integriert1199. Hinsichtlich des dem
Gericht zur Verfügung stehenden Ermessensspielraumes ergeben sich in beiden
Konstellationen allerdings keine Unterschiede zu einer Anordnung nach § 428 Alt.
2 ZPO. Dem Gericht kommt für die Frage, ob es eine gem. § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO
n.F. beantragte Anordnung erläßt, kein Ermessensspielraum zu1200, weil die in § 144
ZPO statuierte Vorlagepflicht insoweit lediglich in Bezug genommen wird, um den
Parteien einen im Vergleich zur früheren Rechtslage erleichterten Beweisantritt zu
ermöglichen. Soweit keine allgemeinen Gründe für die Übergehung eines Beweisantrages ersichtlich sind und die Voraussetzungen einer entsprechenden Anordnung - insbesondere im Hinblick auf den Sachvortrag der Parteien - erfüllt sind,
muß das Gericht dem Antrag des Beweisführers nachkommen und die Vorlageanordnung erlassen.
III. Die Anordnung von Amts wegen
Soweit kein Beweisantritt einer Partei nach § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. vorliegt,
ergeht die Anordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. stets von Amts wegen. In dieser
Konstellation, dem isolierten Anwendungsbereich des § 144 ZPO n.F., ist der
Ermessensspielraum für das Gericht grundsätzlich eröffnet1201.
1199 Vgl. hierzu oben Dritter Teil.§ 4A.II.
1200 So auch Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 144, Rn. 15.
1201 Zu den allgemein anzustellenden Erwägungen im Rahmen des Ermessensgebrauchs vgl. auch
hier die Ausführungen zu § 142 ZPO n.F., oben Dritter Teil.§ 3E.III.1.b).
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
290
1. Allgemeine Erwägungen für den Ermessensgebrauch
Im Rahmen seines Ermessensgebrauchs hat das Gericht allgemein zu beachten, daß
es die Vorlage eines Gegenstandes um so eher anordnen muß, als es für seine Entscheidung auf die Inaugenscheinnahme des Gegenstandes angewiesen ist1202. Das
Gericht handelt in diesem Fall ermessensfehlerhaft, wenn es eine Anordnung allein
deshalb unterläßt, weil keine der Parteien einen - aus Sicht des Gerichts - notwendigen Beweisantrag gestellt hat1203. Dies gilt auch dann, wenn die Augenscheinseinnahme nicht dem Beweis dient, etwa weil die Beschaffenheit des Vorlagegegenstandes zwischen den Prozeßparteien unstreitig ist. In dieser Konstellation mag den
Parteien nicht bewußt sein, daß das Gericht sich selbst eine Anschauung von dem
Gegenstand machen muß, um den Rechtsstreit sachgerecht entscheiden zu können.
Wenn die Parteien in dieser Konstellation nicht auf eigene Initiative eine Inaugenscheinnahme durch das Gericht anregen, muß das Gericht sich den Gegenstand
von sich aus vorlegen lassen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß sich
das Gericht seiner Möglichkeiten nach § 144 ZPO n.F. bewußt ist und dies ggf.
auch dokumentiert, weil es sich andernfalls stets dem Verdacht des Ermessensnichtgebrauchs aussetzen wird1204.
Darüber hinaus hat das Gericht zu beachten, daß Vorlage- und Duldungsanordnung gem. § 144 ZPO n.F. auch der amtswegigen Erhebung des Sachverständigenbeweises dienen können. Hält das Gericht seine eigene Sachkunde nicht für
ausreichend, um den streitgegenständlichen Sachverhalt hinreichend zu beurteilen,
kann es gehalten sein, von sich aus die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu Beweiszwecken zu veranlassen1205 und für die notwendige Begutachtung
ggf. die Vorlage eines Gegenstandes anzuordnen. Bei seiner Ermessensausübung
hat das Gericht in besonderer Weise zu berücksichtigen, daß die Parteien nicht
ohne weiteres wissen können, ob das Gericht seine Sachkunde selbst für ausreichend hält. Das Gericht kann deshalb in erweitertem Maße als im Rahmen des
§ 142 ZPO n.F. gehalten sein, von Amts wegen Beweis zu erheben bzw. die Parteien auf die Notwendigkeit eines Beweisantritts hinzuweisen. Darüber ist im Rahmen
des Ermessens auch die Verhältnismäßigkeit der Kosten in Bezug zum Streitgegenstand zu berücksichtigen, wenn es eine Anordnung von Amts wegen zum Zwecke
der Erhebung des Sachverständigenbeweises erwägt1206.
1202 Vgl. bereits zur vormaligen Rechtslage BGH NJW 1992, 2019 (2020); Stackmann, NJW 2007,
3521 (3525).
1203 OLG Dresden; Urt. v. 19.3.2003, Az. 11 U 851/02, abrufbar unter Juris; in diesem Sinne auch
Musielak-Stadler, 5. Aufl., § 144, Rn. 4.
1204 Dezidiert für eine Dokumentation Stackmann, NJW 2007, 3521 (3525).
1205 Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 144, Rn. 8; Musielak-Stadler, 5. Aufl., § 144, Rn. 5, 6.
1206 OLG Naumburg, FamRZ 2003, 385 (385 f.).
§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
291
2. Ermessensspielraum bei der Anordnung gegenüber Dritten
Ergeht die Anordnung gegenüber einem Dritten, verfügt das Gericht grundsätzlich
über den größten Ermessensspielraum. Einer Berücksichtigung der in den §§ 422,
423 ZPO enthaltenden Wertungen bedarf es hier unabhängig vom Gegenstand der
Anordnung nicht, weil selbst die Vorlage eines elektronischen Dokuments gegen-
über Dritten unabhängig von den Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO angeordnet werden kann1207. Darüber hinaus hat das Gericht berechtigte Weigerungsinteressen des Dritten grundsätzlich nicht in seine Abwägung mit einzubeziehen, weil
die Weigerungsrechte des Dritten als Gegenrechte ausgestaltet und zudem abschließend in § 144 Abs. 2 ZPO n.F. geregelt sind. Ihre Berücksichtigung im Rahmen des Ermessensgebrauchs kommt daher allenfalls in Betracht, wenn die das
Bestehen eines Weigerungsrechts sowie seine Geltendmachung durch den Dritten
auf der Hand liegen, etwa weil der Dritte mit einer Prozeßpartei verwandt ist und
im Rahmen einer Zeugenaussage die Vorlage bereits definitiv abgelehnt hat.
3. Anordnung gegenüber einer der Prozeßparteien
a) Sonderfall: Elektronische Dokumente
Bezieht sich die Vorlageanordnung auf ein elektronisches Dokument im Sinne des
§ 371 Abs. 1 S. 2 ZPO n.F., hat das Gericht im Rahmen seiner Ermessensausübung
dem Umstand Rechnung zu tragen, daß der Gesetzgeber die Vorlagepflicht von
Urkunden und elektronischen Dokumenten denselben Voraussetzungen unterwerfen wollte. Wie bereits oben herausgearbeitet wurde, kann das Gericht gegenüber
der nicht beweisbelasteten Partei die Vorlage einer Urkunde nach § 142 ZPO n.F.
ermessensfehlerfrei nur unter den Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO anordnen. Im Falle einer Vorlageanordnung gem. § 144 ZPO n.F. gegenüber dem Beweisgegner auf Antrag des Beweisführers gem. §§ 371 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 144 Abs. 1
S. 2 ZPO n.F. finden die § 422, 423 ZPO deshalb über den Verweis in § 371 Abs. 2
S. 2 ZPO n.F. als Voraussetzung für die Zulässigkeit des Beweisantritts Anwendung. Soweit die Vorlageanordnung indes von Amts wegen ergeht, entfaltet dieser
Verweis keine Wirkung, weil er sich ausschließlich auf § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F.
bezieht, der wiederum im Rahmen einer von Amts wegen ergehenden Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F. keine Berücksichtigung findet1208. Das Gericht hat
in dieser Konstellation die Verteilung der Beweislast deshalb im Rahmen der Aus-
übung seines Anordnungsermessens zu berücksichtigen. Soweit die Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO nicht gegeben sind, darf das Gericht gem. § 144 ZPO
n.F. den Beweisgegner von Amts wegen ebensowenig zur Vorlage eines elektronischen Dokuments anhalten, wie es nach § 142 ZPO die Vorlage einer Urkunde
anordnen dürfte. Das richterliche Ermessen ist in dieser Konstellation also regel-
1207 Vgl. hierzu oben Dritter Teil.§ 5B.II.
1208 Vgl. hierzu Dritter Teil.§ 5B.III.1.b).
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
292
mäßig soweit eingeengt, daß lediglich eine Entscheidung gegen die Vorlageanordnung ermessensfehlerfrei ist.
b) Die Bedeutung des § 371 Abs. 3 ZPO n.F. für die Ermessensentscheidung
Ergeht die Anordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. gegenüber einer Prozeßpartei,
hat das Gericht im Rahmen seines Anordnungsermessens die berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Vorlageadressaten zu berücksichtigen und zwar unabhängig davon, ob sich die Anordnung auf ein elektronisches Dokument oder auf
einen herkömmlichen Augenscheinsgegenstand bezieht1209. Nach dem Willen des
Reformgesetzgebers trägt das Gericht damit dem Umstand Rechnung, daß den
Prozeßparteien - anders als Dritten - keine kodifizierten Weigerungsrechte zu Seite
stehen1210.
aa) Das Zumutbarkeitskriterium als Schranke der Vorlagepflicht der
Prozeßparteien
Zu beachten ist allerdings, daß die Vorlagepflicht der Prozeßparteien nach § 144
ZPO n.F. bereits im Gesetz eine ausdrückliche, wenn auch inhaltlich nicht besonders aussagekräftige Schranke enthält. Gem. § 371 Abs. 3 ZPO n.F. kann das Gericht eine Partei mit beweisrechtlichen Sanktionen1211 belegen, wenn sie die ihr
zumutbare Einnahme des Augenscheins vereitelt. Eine Vereitelung im Sinne dieser
Vorschrift liegt nach der Vorstellung des Reformgesetzgebers bereits dann vor,
wenn eine Prozeßpartei die Herausgabe des in ihrem Besitz befindlichen Augenscheinsobjekts verweigert1212. Da die Vereitelung der Inaugenscheinnahme kein
spezifisches Merkmal des parteibetriebenen Beweisantritts darstellt, kommt § 371
Abs. 3 ZPO n.F. über § 144 Abs. 3 ZPO n.F. auch dann zur Anwendung, wenn
eine Prozeßpartei sich weigert, einer gerichtlichen Vorlageanordnung Folge zu
leisten, und zwar unabhängig davon, zu welchem Zweck eine solche Anordnung
ergeht. Dem Umkehrschluß aus dieser Regelung läßt sich entnehmen, daß die
Verweigerung der Mitwirkung beim Augenschein keine Sanktionen nach sich zieht,
wenn sie im Einzelfall nicht zumutbar ist.
1209 Da die Anordnung der Vorlage eines elektronischen Dokuments ohnehin nur unter den Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO erfolgen darf, kommt der Berücksichtigung weitergehender Geheimhaltungsinteressen in dieser Konstellation freilich kaum Bedeutung zu.
1210 Vgl. BT-Drs. 14/6036, S. 120.
1211 Vgl. zum Inhalt dieser Sanktion im Einzelnen unten Dritter Teil.§ 6B.
1212 Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/4722, S. 91.
§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
293
bb) Inhaltsbestimmung des Zumutbarkeitskriteriums
Wie bereits erwähnt1213, hatte der Reformgesetzgeber mit der Einführung dieser
Vorschrift im Sinn, die bisherige, durch Rechtsprechung und Literatur geprägte
Rechtslage zur Mitwirkungspflicht der Parteien beim Augenscheinsbeweis gesetzlich zu kodifizieren. Da im Recht des Augenscheinsbeweises keine den § 422, 423
ZPO entsprechenden und die Mitwirkungspflicht der Parteien beschränkenden
Regeln existieren, hielt man das Gericht bereits vor der Einführung des § 371 Abs.
3 ZPO n.F. für berechtigt, eine Verweigerung der Parteien, die nicht auf einem
triftigen Grund1214 beruht, gem. § 286 ZPO frei zu würdigen. Die Mitwirkung der
Prozeßparteien konnte so zwar nicht erzwungen werden. Jedoch ließ die Aussicht
auf den drohenden Prozeßverlust als Folge einer negativen Beweiswürdigung eine
Verweigerung in aller Regel wenig attraktiv erscheinen, weshalb es in diesem Zusammenhang auch treffender ist, nicht von einer Mitwirkungspflicht, sondern von
einer entsprechenden Last1215 bzw. einer Obliegenheit zu sprechen.
Während die Rechtsprechung die Möglichkeit negativer beweisrechtlicher Würdigung anfangs aus § 242 BGB herleitete1216, rechtfertigte die Literatur die Sanktion
zum Teil mit einer bereits de lege lata bestehenden allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien1217, überwiegend jedoch, wie auch die jüngere Rechtsprechung, mit einer Analogie zu den Vorschriften der §§ 427, 444 ZPO1218. Mit
der Einführung des § 371 Abs. 3 ZPO n.F. hat der Gesetzgeber sich an der Analogievariante orientiert, indem er den in § 444 ZPO niedergelegten Rechtsgedanken
im Recht des Augenscheinsbeweises kodifizierte1219. Mit dem Kriterium der Zumutbarkeit in § 371 Abs. 3 ZPO n.F. geht deshalb im Vergleich zur Rechtslage vor
der Reform weder die Erwartung einer weitergehenden Mitwirkung der Prozeßparteien beim Augenschein noch eine entsprechende Einschränkung einher1220.
Das Zumutbarkeitskriterium in § 371 Abs. 3 ZPO n.F. gibt dem Gericht daher
keine neuen Anhaltspunkte dafür, wie es von seinem Ermessen im Einzelfall Gebrauch zu machen hat. Es ist im Zusammenhang mit § 144 ZPO n.F. wohl am
ehesten als gesetzlicher Hinweis darauf zu verstehen, daß das Gericht im Rahmen
seiner Ermessensausübung die berechtigten Interessen der vorlagepflichtigen Partei
zu berücksichtigen hat. Eine inhaltliche Aussage darüber, welche Zurückhaltungsin-
1213 Vgl. oben Dritter Teil.§ 4A.II.2.d).
1214 So MüKo-ZPO-Damrau, 2. Aufl, § 371, Rn. 9 und Stein/Jonas-Berger, 21. Aufl., § 371, Rn. 39; der
BGH spricht in diesem Zusammenhang von "Vorwerfbarkeit", BGH NJW 1962, 821 (821).
1215 Zur terminologischen Unterscheidung zwischen Pflichten und Lasten vgl. oben Zweiter Teil.§
2B.I.
1216 So etwa BGH NJW 1962, 821 (821); BGH NJW 1962, 1510 (1511); OLG München, NJW 1984,
807 (808).
1217 Stürner, Die Allgemeine Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 92 ff., Steeger, Die zivilprozessuale
Mitwirkungspflicht, 1981, S. 181 ff.; Peters, ZZP 82 (1968), 200 (205).
1218 Vgl. etwa MüKo-ZPO-Schreiber, 2. Aufl., § 444, Rn. 5; Zöller-Greger, 21. Aufl., § 371, Rn. 5;
BGH NJW 1963, 389 (390); OLG Koblenz, NJW 1968, 897 (897).
1219 So ausdrücklich die Begründung im Regierungsentwurf zu § 371 Abs. 3 ZPO n.F.
1220 So wohl auch MüKo-ZPO-Wagner, 3. Aufl., § 142-144, Rn. 22, der meint, die Neuregelung "bestätigt", dass den Beweisgegner eine prozessuale Mitwirkungspflicht treffe.
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
294
teressen des Vorlageadressaten eine beweisrechtliche Sanktion gem. § 371 Abs. 3
ZPO n.F. ausschließen, läßt sich daraus nicht entnehmen. Vielmehr fordert das
Zumutbarkeitskriterium das Gericht - wie schon vor der Reform - zu einer Abwägung zwischen der Bedeutung des vorzulegenden Gegenstandes für den Ausgang
des Prozesses und der mit der Vorlage verbundenen Schwere des Eingriffs in die
Rechte des Beweisgegners auf1221. Stehen die mit der Vorlage verbunden Nachteile
zu Lasten des Anordnungsadressaten im Einzelfall außer Verhältnis zur Bedeutung
des Streitgegenstandes, muß das Gericht von einer Vorlageanordnung absehen.
In der Literatur wurde es bereits bisher als triftiger Grund für die Verweigerung
anerkannt, wenn mit der Vorlage des Augenscheinsgegenstandes die Offenbarung
eines Gewerbegeheimnisses1222 verbunden wäre, das keinen Bezug zum Streitgegenstand aufweist1223. Aber auch soweit andere verfassungsrechtlich geschützte
Rechtspositionen des Vorlagepflichtigen betroffen sind, wird sich der dem Gericht
im Einzelfall zur Verfügung stehende Ermessensspielraum entsprechend verengen.
Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Gegenstände, etwa Fotos, die der
Intimsphäre des Vorlagepflichtigen zuzuordnen sind1224. Allerdings wird man bei
der Berücksichtigung von Geheimhaltungsinteressen der Parteien nicht allzu großzügig verfahren dürfen. Soweit das Gericht auf die Inaugenscheinnahme eines
Gegenstandes zwingend angewiesen ist, um eine sachgerechte Entscheidung zu
treffen, werden Geheimhaltungsinteressen der Prozeßparteien in aller Regel nicht
den Ausschlag dafür geben können, eine Vorlageanordnung zu unterlassen. Die
Schutzbedürftigkeit der Parteien eines Zivilprozesses bleibt in diesem Zusammenhang weit hinter derjenigen, der am Prozeß unbeteiligten Dritten zurück. Im Gegensatz zu Dritten drohen den Parteien keinerlei Zwangsmittel für den Fall der
Verweigerung. Darüber hinaus haben es die Parteien eines Zivilprozesses stets
selbst in der Hand, ob sie sich einem Zivilprozeß aussetzen, in deren Verlauf sie
möglicherweise vor die Wahl gestellt werden, entweder einen Gegenstand vorzulegen, den sie lieber zurückhalten würden oder eine negative Beweiswürdigung in
Kauf zu nehmen.
Über das Kriterium der Zumutbarkeit läßt sich allerdings die Wertung der
§§ 422, 423 ZPO auch im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Vorlageanordnung bezüglich herkömmlicher Augenscheinsgegenstände heranziehen. Zwar
kann das Gericht eine Anordnung nach § 144 ZPO n.F. gegenüber der nicht beweisbelasteten Partei auch dann ermessensfehlerfrei erlassen, wenn die Voraussetzungen der §§ 422, 423 ZPO nicht vorliegen. Umgekehrt werden die Interessen des
Anordnungsadressaten aber in aller Regel keine Berücksichtigung finden, wenn er
sich selbst zur Beweisführung auf den Gegenstand bezogen hat (§ 423) oder wenn
sein Prozeßgegner die Herausgabe nach materiellem Recht beanspruchen könnte
(§ 422). Eine Vorlageanordnung wird deshalb in aller Regel zumutbar im Sinne des
1221 Stein/Jonas-Berger, 22. Aufl., § 371, Rn. 39.
1222 Zur Frage, was unter dem Begriff des Unternehmensgeheimnisses verstanden wird, vgl. oben
Dritter Teil.§ 3E.III.2.b)bb)(3)(a).
1223 Vgl. etwa MüKo-ZPO-Zimmermann, 3. Aufl., § 371, Rn. 28; Stein/Jonas-Schuhmann, 21. Aufl.,
Vor 371, Rn. 34.
1224 Vgl. hierzu auch oben Dritter Teil.§ 3E.III.2.b)bb)(1).
§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
295
§ 371 Abs. 3 ZPO n.F. sein, wenn der Vorlageadressat gegenüber seinem Prozeßgegner zur Herausgabe des Gegenstandes verpflichtet ist.
E. Zusammenfassung
Mit der Reform 2001 hat der Gesetzgeber in § 144 ZPO n.F. erstmals eine Pflicht
zur aktiven Vorlage von Augenscheinsgegenständen geschaffen und diese für unbewegliche oder schwer zu transportierende Gegenstände um eine entsprechende
Duldungspflicht ergänzt. Vorlage- und Duldungspflicht erstrecken sich wie bei
§ 142 ZPO n.F. auch auf prozeßfremde Dritte, denen gem. § 144 Abs. 2 ZPO
dieselben Weigerungsrechte zukommen wie im Rahmen des § 142 Abs. 2 ZPO.
Auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO kann sowohl von Amts wegen als
auch auf Parteiantrag ergehen. Während § 428 Alt. 2 ZPO n.F. dem Beweisführer
allerdings nur für den Fall eine Antragsmöglichkeit einräumt, daß sich die Urkunde
im Besitz eines Dritten befindet, sieht § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. eine entsprechende Antragsmöglichkeit auch für die Konstellation vor, daß der Prozeßgegner
den Beweisgegenstand in Besitz hält.
In den Voraussetzungen für den Erlaß einer Vorlageanordnungen unterscheidet
sich § 144 ZPO n.F. von § 142 ZPO n.F. darin, daß die Anordnung betreffend
Augenscheinsgegenstände keine Bezugnahme einer Prozeßpartei auf den Beweisgegenstand voraussetzt. Darüber hinaus ergeben sich keine Unterschiede. Insbesondere setzt auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO entsprechende Anforderungen an den Sachvortrag der Parteien voraus, mit Hilfe derer der Gefahr einer
vom Reformgesetzgeber für unzulässig erachteten Ausforschung des Anordnungsadressaten entgegengewirkt wird. Zu beachten ist bei der Anwendung des § 144
ZPO n.F. überdies, daß das Gericht nicht befugt ist, den Verbleib des vorzulegenden Gegenstandes auf der Geschäftsstelle anzuordnen.
Auch die Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F. steht im pflichtgemäß auszu-
übenden Ermessen des Gerichts, soweit sie von Amts wegen und nicht gem. § 371
Abs. 1 S. 1 ZPO n.F. auf Parteiantrag ergeht. Für den Ermessensgebrauch gelten
grundsätzlich die gleichen Leitlinien wie im Rahmen des § 142 ZPO n.F. Dem
Gericht kommt bei der Anwendung des § 144 ZPO n.F. insoweit ein zusätzliches
Auswahlermessen zugute, als es sich zwischen dem Erlaß einer Vorlage- und einer
Duldungsanordnung entscheiden kann. Der entscheidende Unterschied zu § 142
ZPO n.F. liegt im Rahmen der Ermessensausübung allerdings darin, daß das Gericht eine Vorlageanordnung nach § 144 Abs. 1 ZPO n.F. zu Beweiszwecken
grundsätzlich auch gegenüber der nicht beweisbelasteten Partei anordnen kann,
ohne daß es in diesem Zusammenhang auf das Vorliegen der Voraussetzungen der
§§ 422, 423 ZPO ankommt. Mangels entsprechender Regelungen beim parteibetriebenen Beweisantritt mit einem Augenscheinsgegenstand besteht anders als im
Falle einer Anordnung nach § 142 ZPO nicht die Gefahr, daß die Möglichkeit der
Beweisführung mit einem Augenscheinsgegenstand letztlich von einer richterlichen
Ermessensentscheidung abhängt. Den Parteien steht es vielmehr frei, von sich aus
gem. § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. den Erlaß einer Anordnung nach § 144 ZPO n.F.
zu beantragen und damit förmlich den Augenscheinsbeweis anzutreten.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.